Zwischen Hermetik und Dokumentation

Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat nach ihrem Roman „Atemschaukel“ einen autobiografischen Essay über ihre Erfahrungen mit dem rumänischen Geheimdienst, eine Poetikvorlesung und eine Neuauflage des Prosabandes „Niederungen“ publiziert

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr als ein Jahr ist vergangen, seitdem Herta Müller den Literaturnobelpreis verliehen bekam. Mit dieser Auszeichnung trat eine Autorin in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, die innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine singuläre Stellung einnimmt. Ihr Werk lebt von einer produktiven Spannung zwischen dokumentarischem Anspruch in politisch-zeithistorischer Hinsicht und einer die Tradition der literarischen Moderne fortführenden hermetisch-poetischen Sprache.

Diese faszinierende Mischung erreichte in ihrem Roman „Atemschaukel“ einen vorläufigen Höhepunkt, der ebenfalls im Jahr 2009 veröffentlicht wurde. Ein Jahr später geriet dieser Roman abermals in die Schlagzeilen. Der Münchner Germanist Stefan Sienerth deckte auf, dass Müllers 2006 verstorbener Kollege Oskar Pastior, der bis zu seinem Tod an dem Roman mitgearbeitet hatte und auf dessen Erinnerungen er zum Teil beruht, zeitweise informeller Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes Securitate gewesen war. Schlaglichtartig wurde damit die Problematik eines Werks vor Augen geführt, das sich zu einem guten Teil auf autobiografische Beglaubigung beruft.

Weniger Beachtung fanden demgegenüber die drei kleineren Werke Herta Müllers, die in den vergangenen beiden Jahren erschienen oder neu publiziert wurden und die auf ihre Weise das Spannungsverhältnis zwischen Dokumentation und Poesie reflektieren. Bei der unter dem Titel „Lebensangst und Worthunger“ veröffentlichten „Leipziger Poetikvorlesung“ handelt es sich um ein Gespräch, das Müller im Oktober 2009 mit ihrem Schriftstellerkollegen Michael Lentz führte. Das schmale Bändchen beeindruckt nicht nur durch die eigenwillig-luzide Argumentation, die Müller auch in der Form des Gesprächs unter Beweis stellt. Vielmehr belegen die hier artikulierten poetologischen Reflexionen, wie vielschichtig sich das Wechselverhältnis zwischen dem eigenen Leben im totalitären Ceausescu-Regime und dem Schreiben gestaltet. Das Werk lässt sich demzufolge nicht nur als Dokumentation, sondern auch als poetische Kompensation des Lebens im real existierenden Kommunismus verstehen, entstanden aus der „blanke[n] Notwendigkeit, diesem Scheißleben etwas entgegenzusetzen, mit mir selbst etwas Eigenes zu machen, das mir der Staat nicht wegnehmen kann, weil es fiktional ist“. Als Reaktion auf die Überwachung durch den Geheimdienst Securitate, so Müller, habe sie ihr eigenes, poetisches „Registrierbüro“ aufgemacht. Höchst interessant ist dabei die Spannung zwischen Autonomie der Sprache einerseits und Darstellung der historischen Realität andererseits. So erklärt Müller auf die Frage nach den Gründen für ihre spezifische, zwischen präziser Wahrnehmung und surrealer Verfremdung changierende Schreibweise: „Ich glaube, das machen die Wörter selbst“ – nur um sich einige Sätze später apodiktisch auf die historische Wirklichkeit zu berufen: „So war das.“ Als Credo ergibt sich aus diesen scheinbaren Widersprüchen, dass „das Surreale […] doch immer in der Realität drin“ sitzt.

Schlagende Beispiele hierfür liefert Müller in ihrem ein Jahr zuvor veröffentlichten autobiografischen Essay „Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht“. Sie berichtet darin über die Einsichtnahme in ihre Geheimdienstakte und rekapituliert vor dem Hintergrund des von ihr bemerkten Aktenschwunds das tatsächliche Ausmaß der Bespitzelung. Durch die Aktenvernichtung gewissermaßen ein zweites Mal zum Opfer des Ceausescu-Regimes geworden, liefert sie so ein subjektives Korrektiv zu den offensichtlich nachträglich manipulierten Securitate-Dokumenten. Dass dabei die Darstellung dessen, was nicht in den Akten steht, völlig in den Vordergrund rückt, ist aus dieser Perspektive sehr gut nachvollziehbar; dennoch wird der dokumentarische Wert des Essays dadurch geschmälert, dass dem Leser – bis auf einzelne Faksimiles in rumänischer Sprache – weitgehend vorenthalten wird, was denn nun in den Akten steht.

Der Eindringlichkeit des autobiografischen Berichts tut dies freilich keinen Abbruch. Vielmehr werden Schilderungen, die der Leser des 1992 erschienenen Romans „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ als besonders gelungene Erfindungen auffassen musste, nunmehr als autobiografische Erfahrung benannt. So wird das beklemmende Leitmotiv des in der Wohnung der Protagonistin liegenden Fuchsfells, von dem nach und nach fein säuberlich die Pfoten und schließlich der Kopf abgetrennt werden, um die Omnipräsenz der Securitate zu demonstrieren, nachträglich als authentische Erfahrung enthüllt. Damit wird die Korrelation von Dokumentation und Poesie um eine weitere Dimension erweitert: Die Realität wirkt ‚surrealer‘ als es die Literatur je zu sein vermochte.

Eine weitere Facette dieses Wechselspiels liefert der 2010 neuveröffentlichte Prosaband „Niederungen“. Diese erste selbständige Veröffentlichung Müllers, 1982 in Rumänien, 1984 in gekürzter Form in Deutschland erschienen, schildert die beklemmende Welt eines banatschwäbischen Dorfs, die Herta Müller selbst einmal als die erste von ihr erlebte Form der Diktatur bezeichnet hat. In der Tat ist bereits für diese frühen Texte jene deformierte Wahrnehmung einer deformierten Welt konstitutiv, durch sich auch Müllers spätere Werke auszeichnen. Es handelt sich um einen bösen Blick, der, wie im Prosastück „Dorfchronik“, in der Allee die „vielen Lücken“ zwischen „wenig Bäumen“ sieht. Das Resultat dieses subversiven Blicks sind wunderbare hermetisch-surreale Texte wie „Der deutsche Scheitel und der deutsche Schnurrbart“. Allerdings enthält dieser frühe Prosaband auch schwächere Texte wie das – auch thematisch aus dem Rahmen fallende – Stück „Die Straßenkehrer“, das mit Formulierungen wie „ich zerbreche, ich falle in die Tiefe der Bedeutungen“ etwas bemüht modern daherkommt.

Noch störender wirkt an der Neuauflage der „Niederungen“ jedoch, dass der Band in editorischer Hinsicht viele Fragen offen lässt. Die gerade einmal elf Zeilen der editorischen Notiz am Schluss des Bandes geben keine befriedigende Auskunft über die unterschiedlichen Fassungen. So würde den Leser interessieren, aus welchen Gründen die Ausgabe von 1984 um vier Texte gekürzt wurde, und ebenso würde ihn interessieren, nach welchen Kriterien die „Streichungen von 1984 überprüft und zum Teil [!] rückgängig gemacht“ wurden. Der Klappentext, demzufolge es sich bei der Neuausgabe um die „ungekürzte Fassung“ handle, erweist sich vor diesem Hintergrund jedenfalls als unzutreffend. Vielmehr handelt es sich um eine nunmehr dritte Fassung des Textes. Das ist – von der Position der Autorin aus gesehen – überaus legitim und alles andere als unüblich. Doch wie der Leser im Fall des „Cristina“-Essays gerne wüßte, was denn nun in den Geheimdienstakten steht, so entsteht im Fall der Neuausgabe der „Niederungen“ der Wunsch nach größerer editorischer Genauigkeit. Die Herta Müller-Philologie steht somit offensichtlich noch vor großen Herausforderungen.

Titelbild

Herta Müller: Cristina und ihre Attrappe oder was (nicht) in den Akten der Securitate steht.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
48 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306288

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Herta Müller: Lebensangst und Worthunger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
55 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126202

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Herta Müller: Niederungen. Prosa.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
172 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235243

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