Ein kanonisierter Außenseiter

Jürgen Egyptien präsentiert exemplarische Ergebnisse der Wolfgang Koeppen-Forschung – und Oliver Kobold entdeckt ein Stuttgarter Bunkerhotel als paradigmatischen Schreibort des Autors

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Innerhalb der deutschen Literatur der Nachkriegszeit lässt sich der Publikumserfolg Wolfgang Koeppens bei weitem nicht mit der Wirkung eines Heinrich Böll oder Günter Grass vergleichen. Dennoch gilt Koeppen aus literaturgeschichtlicher Perspektive als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Wie kaum ein anderer führte er nach der historischen Zäsur des Zweiten Weltkriegs die Tradition der literarischen Moderne auf produktive Weise fort, indem er avancierte Schreibverfahren in den Dienst einer radikalen Gesellschaftskritik stellte. Die poetische Intensität, mit der Koeppen die Epoche des ‚Wiederaufbaus‘ darstellt, ist beispiellos. Völlig zu Recht avancierte Koeppen daher innerhalb der letzten 25 Jahre zu einem Lieblingskind der Germanistik.

Der von Jürgen Egyptien in der Reihe „Neue Wege der Forschung“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegebene Sammelband zu Wolfgang Koeppen konnte daher aus dem Vollen schöpfen. Auf diese Weise entstand eine gelungene Einführung, die alle Facetten von Koeppens Œuvre beleuchtet. Wie in der jüngeren Koeppen-Forschung üblich, werden nicht die drei bedeutenden Nachkriegs-Romane „Tauben im Gras“ (1951), „Das Treibhaus“ (1953) und „Der Tod in Rom“ (1954) in den Mittelpunkt gestellt, sondern wird Koeppens Gesamtwerk von der Prosa der 1930er-Jahre bis hin zu den späten Reisereportagen vorgestellt. Alle Beiträge zeichnen sich durch ein hohes literaturwissenschaftliches Niveau aus und bestechen eher durch philologische Genauigkeit als durch modisches Methoden-Design; lediglich der Aufsatz von Michaela Holdenried zu Koeppens spätem autobiografischem Prosastück „Jugend“ (1976) wirkt terminologisch überfrachtet. Zumindest andeutungsweise werden Kontroversen der Forschung rekapituliert, so etwa durch den Abdruck des bereits 1962 publizierten Aufsatzes von Walter Jens, der ebenso scharfsichtig wie polemisch Koeppens Reiseberichte als Höhepunkt seines Werks feiert.

Am instruktivsten sind jedoch jene Beiträge, die sich mit Koeppens Schaffen während und unmittelbar nach dem Ende der NS-Diktatur befassen, so der Beitrag von Jörg Döring über „Wolfgang Koeppen im Dritten Reich“, vor allem aber Iris Dennelers „editionsphilologische Überlegungen“ zu „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“. Bei diesem 1948 veröffentlichten autobiografischen Bericht eines der nationalsozialistischen Verfolgung entkommenen jüdischen Briefmarkenhändlers aus München hatte Koeppen als anonymer „ghostwriter“ fungiert; erst 1992 publizierte er das Buch unter seinem eigenen Namen. Auf faszinierende Weise belegt Iris Denneler anhand dieses Falls, wie spannend editorische Fragen sein können. Sie zeigt auf, in welchem Maß in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Koeppens Urheberschaft „ästhetische und moralische Wertungskriterien verquickt werden“, und demonstriert, wie viel editorische Feinarbeit erforderlich ist, um diese Diskussion angemessen führen zu können.

Der Band wird ergänzt durch eine nützliche Auswahlbibliografie sowie durch einen informativen, wenn auch schlecht redigierten einleitenden Überblick über die Koeppen-Forschung. Verräterisch wirkt die mangelnde Sorgfalt bei der Herstellung des Bandes in bezug auf einen anderen Aspekt. Auf der Buchrückseite werden Beiträger annonciert, die im Band gar nicht vertreten sind – ein unangenehmes verlagstechnisches Versehen, das dem Leser vor Augen führt, dass bedeutende Koeppen-Spezialisten wie Marcel Reich-Ranicki und Martin Hielscher – aus welchem Grund auch immer – nicht vertreten sind.

Während Jürgen Egyptien Koeppen vom Höhenkamm germanistischer Forschung aus präsentiert, zeigt Oliver Kobold den Autor in einem Marbacher „Spuren“-Heft auf originelle Weise ‚von unten‘. Seine faszinierende kleine kulturpoetische Studie thematisiert eine Episode aus dem Schreibprozess während Koeppens Arbeit am Roman „Das Treibhaus“, die zum einen schlaglichtartig ein Stück Alltagskultur der unmittelbaren Nachkriegszeit beleuchtet und zum anderen paradigmatisch für den Autor ist. Im Jahr 1953 logierte Koeppen – auf Kosten des Verlegers Henry Goverts – im Stuttgarter „Hotel am Marktplatz“, um den Roman abzuschließen. Damit erlegte er sich eine extreme Form der Klausur auf, handelt es sich bei dem Hotel mit dem beschaulich klingenden Namen doch um einen nach dem Ende des zweiten Weltkriegs umfunktionierten Luftschutzbunker, der 1941 von den Nationalsozialisten erbaut worden war. Wir lernen daraus nicht nur, dass unterirdische Bauwerke mit zweifelhaftem Charme in Stuttgart eine lange Tradition besitzen. Wir nehmen darüber hinaus zur Kenntnis, dass es – sogar in Baden-Württemberg – Orte gibt, die für die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts symptomatischer sind als das Forsthaus von Wilflingen. In diesem Sinne liefert Kobold einen überaus interessanten, mit einer Fülle von Archivalien illustrierten Beitrag zu einer Topografie des Schreibens. Am Schreibort lässt sich Koeppens Position im Deutschland der 1950er-Jahre ablesen: Während ‚oben‘ der Wiederaufbau boomt, wirkt der Autor, ganz nahe am Zentrum, aber gut versteckt, vom sicheren Rückzugsort aus als literarischer Untergrundkämpfer.

Titelbild

Oliver Kobold: "Keine schlechte Klausur". Wolfgang Koeppens "Treibhaus" und das Stuttgarter Bunkerhotel.
Deutsches Literaturarchiv Marbach, Marbach 2008.
16 Seiten, 4,50 EUR.
ISBN-13: 9783937384405

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Titelbild

Jürgen Egyptien (Hg.): Wolfgang Koeppen. Neue Wege der Forschung.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2009.
240 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783534216581

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