Die Dichterin des Unerledigten

Heinz Ludwig Arnold hat ein text + kritik – Heft über Ilse Aichinger herausgegeben

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Titelblatt schaut sie uns kritisch prüfend an, den Oberkörper leicht nach vorn gerückt, Haarsträhnen beschatten ihre Stirn, die Lider sind verhangen, der Mund skeptisch zusammengepresst – nachdenklich, nicht so schnell zu überzeugen ist dieses Gesicht, das alle Emotionen zurückzuhalten sucht. Sie bleibe die „Dichterin des Unerledigten“, das hat der Literaturkritiker Michael Krüger einmal über die Schriftstellerin Ilse Aichinger gesagt, die Ende 2011 ihren 90. Geburtstag begeht. Eine „Kultautorin“ hat man sie wiederholt in den Geburtstagsartikeln genannt, aber dieses Modewort hätte sie sich wohl ironisch verbeten, wenn sie es gekonnt hätte.

Wieso „Dichterin des Unerledigten“? In Aichingers Geschichten reihen sich Szenen oder Bilder aneinander, ohne dass eine Logik darin erkennbar wäre. Zudem steht der Rahmen einer Geschichte bei ihr oft in keinem Verhältnis zu den Größenordnungen unserer Welt. Immer versuchte die eigenwillige Stimme Ilse Aichingers einen tieferen Begriff von Wirklichkeit zu vermitteln. „Die größere Hoffnung“ (1948), das war der Nachkriegs-Roman der poetischen Bewältigung der NS-Zeit. Die Bedrängnis, in der sich hier die halbjüdische Heldin und ihre Freunde befinden, wird mythisiert, es kommt zu einer umfassenden Betrachtung des Seins und Werdens, die Aichingers nächstes Werk, die Erzählungen des Bandes „Der Gefesselte“ (1952), bereits ankündigt. Auch hier verzichtet die Autorin auf das Epische, entscheidet sie sich für Ausnahmesituationen. Das bekräftigt noch einmal den parabelhaften Eindruck, den schon „Die größere Hoffnung“ hinterließ.

In den 1960er-Jahren treten dann keine Kausalzusammenhänge mehr in Erscheinung. Die Szenen in den Bänden „Nachricht vom Tag“ (1954), „Wo ich wohne“ (1963) und „Eliza, Eliza“ (1965) heben sich ohne Symbolbezug aus der Selbstverständlichkeit des irdischen Lebens. Die in „Schlechte Wörter“ (1976) erschienenen Texte bezeugen eine erneute Radikalisierung der Autorin. Der Leser muss sich mit aneinander gereihten Situationen, Gefühlen und Überlegungen begnügen. Metaphorisch werden Grenzsituationen in Bildern von Orten dargestellt, wie Inseln (Sylt in „Besuch im Pfarrhaus“), Ufern („Nachmittag in Ostende“, „Die Schwestern Jouet“), Häfen („Die größere Hoffnung“, „Gare Maritime“). Dann fallen Ort und Zeit zusammen, um eine Erscheinung der „Welt hinter der Welt“ zu ermöglichen. In keinem ihrer Werke wird übrigens der Ort des Geschehens beschrieben, er wird „vergeistlicht“.

In ihrem Werk lassen sich enge Zusammenhänge mit der Biografie der Autorin nachweisen, tatsächliche Vorkommnisse sind bei ihr oft Anstoß zum Schreiben. Dennoch ist sie keine biografische Schriftstellerin. Bei ihr entfalten sich die schöpferischen Möglichkeiten des Spiels, die Grenzen der Wirklichkeiten zu überschreiten. Die Verfasserin erblickt die Welt aus der Ameisen- wie der Vogelperspektive. Wie ein Gewebe durch die abwechselnde Überkreuzung seiner Längs- und Querfäden gebildet wird, so verdankt sich die Struktur etwa der „Unglaubwürdigen Geschichten“ (2005) der gegenseitigen Durchkreuzung der über-, unter- und nebenordnenden Prinzipien von Steigerung und kreisender Wiederholung. Bremst die Wiederholung die Hierarchie der Steigerung, so dynamisiert die Steigerung die Monotonie der Wiederholung. Gewinnt die Wiederholung der Steigerung immer neue Bedeutungsdimensionen ab, so ermöglicht die Steigerung den Zusammenhang der einzelnen Variationen.

Eine klug komponierte Zusammenstellung von teils literarischen, teils  essayistischen, teils wissenschaftlichen Beiträgen zum Werk der Schriftstellerin bietet das Heft Ilse Aichinger aus der Reihe „text+kritik“. Schriftstellerkollegen, Redakteure, Literaturkritiker, Lehrende sind die Autoren, die hier aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Aspekte ihres Prosa-, Lyrik-, Hörspiel- und Feuilleton-Schaffens untersuchen beziehungsweise eine Gesamtschau ihres Lebens und Werks bieten. Bisher unveröffentlichte Texte wie aus dem Tagebuch von 1945 und ihr Rundfunkessay über Adalbert Stifter von 1957 lassen auch die Schriftstellerin selbst zu Wort kommen. Die Vita Ilse Aichingers und eine Auswahlbibliografie komplettieren den Band.

Roland Berbig, der auch dieses Heft besorgte, erläutert, wie aus den literarisierenden Tagebüchern der Jahre bis 1945 die erste Fassung und aus dem „Gedankenlabor des philosophischen Diariums“, das Aichinger 1950 begonnen hatte, die zweite Fassung von „Die größere Hoffnung“ hervorgegangen ist. Die Topografie von Ilse Aichingers Wien charakterisiert Brita Steinwendtner: „nur kurz Bezirk glückhafter Kindheit, später Schauplatz von Terror und Tod und in der Gegenwart Stadt der Heimkehr und der Entfremdung“. Im Wien der Ilse Aichinger gibt es keine Idylle, es blieb ihr eine Stadt der Fremde, und doch wurde sie Chronistin und Gewissen dieser schönen, zugleich mörderischen Stadt. Zur Ortlosigkeit („Ich wüsste keinen Ort, von dem ich sagen könnte, hier bin ich wirklich zuhaus“) gesellt sich die Gewissheit, dass die Tage abgezählt sind. Der eigene Tod hat für sie keinen Schrecken. Und man kann ihr Wort hinzufügen: „Der Tod ist der Tod, ein Zustand, kein Prozess wie das Sterben“. Deshalb spricht Ilse Aichinger auch von „Sterbensarten“, nicht – wie das Ingeborg Bachmann getan hat – von „Todesarten“. Nicht der Tod mache ihr Angst, sondern das Sterben. Schreiben heiße deshalb für sie: Sterben lernen.

Mit Aichingers Prosaband „zu keiner Stunde“ (1957) und dessen eigentümlichen literarischen Form, die sich zwischen Prosa, Dramolett und Hörspiel bewegt, beschäftigt sich Walter Erhart und kommt zu dem Schluss, dass die scheinbar jeglicher Zeit entrückten Erzählungen, jene „zu keiner Stunde“ erzählten poetischen Schattenspiele aus dem Reich der Toten und der fantastischen Zwischenwelten sich nur vordergründig der ihnen eigenen Zeitlosigkeit verschreiben. Sie halten der modernen Gesellschaft einen Zeit-Spiegel vor, in dem sie sich immer auch in einer „anderen“ Form wahrnehmen kann.

Das Nicht-Sagen-Können und das Schweigen sind immer mehr in den Mittelpunkt ihrer literarischen Arbeit geraten, so auch der Hörspiele, wie Klaus B. Kaindl nachweist. Die Figuren reden aneinander vorbei, oft mehr mit sich selbst als mit anderen. Sie vermögen nicht die Dinge beim richtigen Namen zu nennen und das lässt sie kapitulieren. „Das Nebeneinandersetzen von Sentenzen und Seufzern, von Abstraktem und Konkretem, von Phantastik und Realismus, all das Widersprüchliche und scheinbar Unvereinbare lässt ein Spannungsfeld entstehen, in dem Aichingers Texte sich von Mal zu Mal verändern“. Aichingers Schreiben ist reflexive Arbeit an und mit Sprache, sagt Monika Schmitz-Emans; als Reflexion über Wörter, Sprech- und Schreibweisen entwickeln die Texte ihre eigenen Poetik. Die Frage nach „meiner Sprache“ verweist auf die Problematik eines Ichs, das sich schreibend zusammen mit seiner Sprache in Frage stellt.

Samuel Moser interpretiert Gedichte aus Ilse Aichingers einzigem Lyrikband „Verschenkter Rat“ und stellt fest, dass hier nicht Figuren, sondern Wörter mit ihrem Kontext, mit ihrer Bedeutung brechen, dass sie sich lossagen von dem, was sie sagen. Er bezeichnet die Verfasserin als „semantische Anarchistin“. „Dass das Ende hinter uns liegt und der Anfang vor uns, dass Gewinnen Verlieren heißt, Finden Suchen und Behalten Aufgeben – das sind die Paradoxa, die Ilse Aichingers Gedichte aufwühlen, durcheinander bringen und auflösen in Stimmen, die ihre Träger im doppelten Sinne verraten: Sie lösen sich von dem ab, auf den sie in der Ablösung verweisen“.

Dem Spätwerk von Ilse Aichinger, speziell „Film und Verhängnis“ und „Unglaubwürdige Reisen“, widmet sich Simone Fässler. Mitte der 1990er-Jahre, nach 15 Jahren des Schweigens, begann Aichinger wieder zu schreiben. Ihr Schreiben ist, wo immer Autobiografisches auftaucht, so Simone Fässler, eine Form des Gedenkens, zielt auf die Neubestimmung und Umwertung des Vergangenen und auf die Vergegenwärtigung der Abwesenden erst ermöglicht. Franz Hammerbacher äußert sich über die Kolumnenbeiträge „Schattenspiele“, die während der Monate Januar bis März 2005 entstanden, im „Spectrum“ erschienen und 2006 als Buch unter dem Titel „Subtexte“ veröffentlicht wurden.

Drei Schriftsteller äußern sich zu der Frage warum es unerlässlich sei, Ilse Aichinger zu lesen. Elke Erb gibt ihr Leseerlebnis der frühen Erzählung „Der Gefesselte“ wieder: „Erst Ilse Aichinger, und erst jetzt, da ich sie wieder lese und lese nach langer Zeit, nach Jahrzehnten, eröffnet mir den Gang in ihre Untersuchung, ihre Suche, ich überschreite erst jetzt mit ihr den Horizont, den ich bis dahin hatte…“. Uljana Wolf – Germanistin wie Lyrikerin – gibt dreierlei zu bedenken: Man könne Ilse Aichingers Werk wohl als „Gegenanleitung“ lesen, als „Anleitung zum Gegenlesen und Gegenleben“. Aber andererseits wisse man auch um die Gefahr, dass man sich beim Schreiben aus dem Gegenlesen nicht entlassen könne, man würde gar ihr Werk als Schreibanleitung lesen. Und schließlich müsse man sich doch eingestehen, dass man am Ende das Gegenlesen selbst nicht heil überstanden haben könnte. Denn Aichingers Texte „zwingen uns in eine „alarmierte, dauerhafte Präsenz“. „Formulierung ist Einverständnis“ zitiert Johannes Jansen Ilse Aichinger und verweist darauf, dass die Schriftstellerin immer wieder das Einverständnis mit dieser Hoffnung beschrieben habe, einer „Hoffnung in Erwartung der Furcht“. Jansen nennt ihren „schwierigen Auftrag“ so: „in Dunkelhaft ein Licht zu bezeichnen, ja selbst eines zu sein gerade durch die eigene Verletzbarkeit“.

Man kann dieses Arbeitsheft immer wieder in die Hand nehmen, darin blättern, sich festlesen und es bis zum nächsten Gebrauch wieder beiseite legen, es hilft uns, nicht nur die „Dichterin des Unerledigten“ und ihre „Lebensreise“ besser kennen und verstehen zu lernen, sondern auch tiefer in die Geheimnisse ihrer Prosa und Lyrik einzudringen.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Ilse Aichinger. Heft 175.
edition text & kritik, München 2007.
120 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783883779027

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