Längst vorbei

Karl Heinz Götze befragt „Mythen des französischen Alltags“

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hätte ein nettes Buch werden können, leichthändig, raffiniert, ironisch, voller esprit, als radikal subjektiver, reflektiert scheiternder Versuch eines Deutschen, über das heutige Frankreich zu schreiben. Doch leider wird der Auftrag vom Auftragsteller ernster genommen, als es dem Unternehmen gut tut.

Karl Heinz Götze, 1947 im hessischen Hofgeismar geboren und seit über zwei Jahrzehnten als Professor für deutsche Literatur im Land des ehemaligen „Erbfeinds“ seine Croissants verdienend, möchte mit dem Buch „Süßes Frankreich?“ zum Verständnis des gegenwärtigen Frankreich beitragen. Das ist wunderbar. Aber warum möchte er das? Gleich im dritten Absatz des Buchs steht die Begründung: Da heißt es, dass nationale (Abgrenzungs-)Reflexe heute auf die gleiche Weise einrasten würden, wie zu Zeiten, in denen die Nationen zutiefst miteinander verfeindet waren. „Wer glaubt, das sei längst vorbei“, schreibt Götze, „der reflektiere im Stillen auf seine Gefühle, wenn Deutschland gegen Frankreich spielt, eine französische Champions-League-Mannschaft gegen eine bayerische, wenn französische Biathleten gegen deutsche rennen und schießen.“

Na schön, da reflektiert der Rezensent mal eben im Stillen auf die Gefühle, die sich bei ihm angesichts der aufgerufenen Ereignisse einstellen. Wenn die Lyoneser oder die Marseiller den Bayern die Lederhosen ausziehen, dann ist das ein Stück Glück. Zinédine Zidane entlockte einem stets mehr Zungenschnalzen als… ja, als wer eigentlich? Und wenn französische Biathleten gegen deutsche rennen, dann produziert dieser leicht verunglückte Satz vor allem lustige Szenen im Kopf.

Aber es geht ja nicht nur um Sport. Sondern es geht in sechs Kapiteln um die „Tour de France“, „Essen“, „Wein“, „Frauen“, „Mode“, „Revolution“, und spätestens bei der vierten Kapitelüberschrift hat man sich prustend an seiner in Tee getunkten Eierschecke verschluckt.

Der Entmythisierungsversuch verstärkt hier die Mythen. Götze hat ein Buch für seine Generation geschrieben, über die Frankreichbilder, mit denen die Nachkriegskinder auf der östlichen Seite des Rheins groß geworden sind, und die er als immer noch gegenwärtig behauptet. Das wäre ja nicht so schlimm, wenn das Buch tatsächlich nicht, wie explizit klargestellt, mit politikwissenschaftlichen Forschungen konkurrieren wollte; eigene Erfahrungen sollen hier mitgeteilt werden, die sich in erster Linie um die Arbeitsstelle in einer deutschen Abteilung einer französischen Universität herum angesammelt haben. Und da er „ja nur die Gewohnheiten einer im Wesentlichen städtischen Mittelschicht kenne“, können seine Erfahrungen, so Götze, „also nicht einfach verallgemeinert werden“.

Diese Einsicht führt jedoch weniger zu erfrischenden Anekdoten, als vielmehr zum Anliegen, die Erfahrungen dann doch kompliziert zu verallgemeinern, so dass sich der notierende Beobachter nicht zwischen zwei möglichen Darstellungen entscheiden kann: Er bietet sowohl die Beschreibung eigener Erlebnisse, wie es der Titel nahelegt, als auch eine ‚wissenschaftliche‘ Abhandlung bestimmter Ausprägungen eines Verhaltens, das als ‚französisch‘ bezeichnet wird. Die Beobachtungen aus dem persönlichen Alltagsleben, wo Erfahrung gegen Erfahrung steht, werden zur Objektivitäts-Untermauerung mit boulevardesken Erkenntnissen flankiert, die dem Buch überflüssige Seiten hinzufügen. Auch mit einer zu groß geratenen kleinen Erzählung von einem Ort aus der Peripherie kann nicht auf ein ganzes Land und seine möglichen Wahrheiten verwiesen werden.

Titelbild

Karl Heinz Götze: Süßes Frankreich? Mythen des französischen Alltags.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
318 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100265302

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