Verlorene Generation

Roberto Cotroneos zeitkritischer Polit-Krimi über Terrorismus und Geheimdienste im Italien der 1970er-Jahre

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roberto Cotroneo, bekannt geworden durch „Die verlorene Partitur“ und „Diese Liebe“, erzählt in seinem Roman „Jahre aus Blei“ eine düstere Geschichte über die Roten Brigaden, die Italien in den 1970er-Jahren mit ihren Anschlägen terrorisierten. Mit der Entführung und Ermordung von Ministerpräsident Aldo Moro erreichte der Terror 1978 einen Höhepunkt. Dieses Verbrechen ist nie vollständig aufgeklärt worden.

In einer Rahmenhandlung berichtet der namenlose Journalist und Ich-Erzähler, wie ihm im Jahr 2005 die Schwester des Terroristen Cristiano Costantini eine Aktenmappe mit Papieren überreicht: Es sind Berichte ihres Bruders und einer Giulia Moresco, die Tage zuvor bei einem Autounfall in Italien ums Leben gekommen sein sollen. Beigefügt ist ein Manuskript von Cristinanos Vater. Cristiano war in den 1970er-Jahren als Killer der Roten Brigaden tätig, ein Soldat, Giulia eine ehemalige Sympathisantin und unwissentliche Helferin der Terroristen. Er wurde vor allem aus Protest gegen den Vater, einem Faschisten und Mitarbeiter des italienischen Geheimdienstes, zum Terroristen, sie wurde ungewollt vom Vater, einem KPI-Mitglied und möglichem KGB-Spion, mit Personen zusammengebracht, die sie zur Mittäterin bei der Entführung von Aldo Moro machten. Mehrmals kreuzten sich ihre Wege in Rom und Paris, einer Schaltzentrale des italienischen Terrors.

Die 1970er-Jahre sind Vergangenheit, scheinbar vorbei und vergessen. Cristiano lebt seit rund dreißig Jahren in Argentinien, Giulia hat Karriere beim italienischen Fernsehen gemacht und lebt mit Ehemann und Sohn in Cristianos alter Wohnung. Über die Vergangenheit spricht keiner mehr. Doch dann geht Giulia dem vagen Hinweis eines Freundes nach, die Wohnung habe den Roten Brigaden als Versteck für Aldo Moro gedient. Sie entdeckt in einem Geheimraum ein Manuskript von Cristianos Vater. Das Bekenntnisschreiben wirft ein neues Licht auf Cristianos Vergangenheit. Giulia lässt es Cristiano zukommen, der auf der Suche nach der Wahrheit nach Paris zurückkehrt. Offenbar hat jemand das Manuskript absichtlich deponiert, um Cristiano zurückzulocken. Alte Freunde treten wieder an ihn und Giulia heran. Freunde, die die Zeit für einen neuen Terrorismus gekommen sehen.

Der Autor erzählt in einer sachlichen, präzisen Sprache eine spannende, nie reißerische Geschichte vor einem realen Hintergrund, wie sie so hätte geschehen können. Die Figuren reflektieren nüchtern ihr Verhalten, ihre damaligen Motive und ihre heutige Sicht der Dinge, nicht sympathisierend, nicht entschuldigend, nicht banalisierend oberflächlichen Erklärungsmustern folgend, sondern akkurat dem Wesen der Dinge auf den Grund gehend. Cristiano stellt in einem größeren historischen Kontext Italien als ein zwangsvereintes, daher zerrissenes Land mit einer langen Tradition der Gewalt dar. Der Bericht des Vaters, der in der Hierarchie am höchsten steht und den besten Überblick über das Netzwerk aus Geheimdiensten und Terroristen hat, wirft ein weiteres Licht auf die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse und den Terrorismus, der unter anderem auch von CIA und KGB, Faschisten und Kommunisten geschürt und gesteuert wird. Sie alle mischen mit und kooperieren notfalls auch miteinander, wenn es zur eigenen Zielerreichung notwendig oder opportun erscheint.

Der namenlose Journalist bleibt distanziert, die ihm zugespielten Unterlagen gibt er unverändert weiter, ohne zu erklären, zu beschönigen, zu spekulieren. Die im Roman beschriebene Welt ist intransparent. Vieles bleibt im Vagen, wird den Spekulationen und der Phantasie der Leser überlassen.

Ein lesenswerter Roman, der ein wichtiges Kapitel der italienischen Geschichte thematisiert, dessen Aufarbeitung bisher kaum stattgefunden hat und daher immer noch von politischer Aktualität und Durchschlagkraft ist. Kenntnisse der Epoche und auch Tim Weiners „CIA – Die ganze Geschichte“ sind hilfreich.

Titelbild

Roberto Cotroneo: Die Jahre aus Blei. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Insel Verlag, Berlin 2010.
298 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174790

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