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Sibylle Dahms hat ein Buch über Leben und Werk des Tanzmeisters Jean Georges Noverre geschrieben

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Herr Noverre, der Wiederhersteller der Tanzkunst der Alten, verdient in seiner Art so gut wie Raphael Mengs in der seinigen, einen der ersten Plätze unter den Dichtern unsers Jahrhunderts […].“ Dieses fulminante Lob formuliert der Herausgeber des „Teutschen Merkur“ im Mai 1773. Christoph Martin Wielands Würdigung spiegelt nicht nur die Hochschätzung wider, die dem Tanz- und Ballettmeister Jean Georges Noverres im Verlauf des 18. Jahrhunderts mehr und mehr entgegengebracht wird, sondern nimmt im Grunde auch vorweg, welchen zentralen Platz ihm die moderne Forschung vor allem in der Theatergeschichte einräumt.

Mit ihrer Monografie über Noverre hat Sibylle Dahms, die damit zugleich ihre Habilitationsschrift vorlegt, die Noverre-Forschung entscheidend bereichert. Gestützt auf die umfangreiche Tanz- und Theatersammlung Friderica Derra de Morodas, die sich am Institut für Musikwissenschaft der Universität Salzburg befindet, gelingt es Dahms, einen ebenso detailreichen wie fundierten Überblick über Noverres Biografie, seine theater- und ballettbezogenen Schriften sowie über seine praktisch-pädagogischen Tätigkeiten zu geben.

Spätestens mit der differenzierten Zusammenstellung von Noverres Mitarbeitern und dem systematischen Werkverzeichnis erweist sich die Arbeit als ein unentbehrliches Grundlagenwerk für die künftige Noverre-Forschung.

Wie Dahms schon im Klappentext ausführt, muss die etablierte Gesamtdarstellung von Deryck Lyham über den „Chevalier Noverre“ (1950) inzwischen als überholt angesehen werden. Dahms hingegen präsentiert nicht nur bislang unveröffentlichtes Archivmaterial, sondern reflektiert und bündelt auch jüngste Erkenntnisse über Leben und Werk Noverres. Schon Matthias Sträßner hatte mit seiner Studie „Tanzmeister und Dichter. Literaturgeschichte(n) im Umkreis von Jean-Georges Noverre“ (1994) dargelegt, wie fruchtbar die Auswertung von Noverres Wirkung auf die deutsche Literatur sein kann – eine Studie, die Dahms zwar zur Kenntnis genommen hat, jedoch nicht in ihrem knappen forschungsgeschichtlichen Aufriss erwähnt.

Einen Schwerpunkt der Arbeit bildet die Auswertung von Noverres Hauptwerk „Lettres sur la Danse et sur les Ballets“ (1760). Während Gotthold Ephraim Lessing und Johann Joachim Christoph Bode 1769 eine deutsche Übersetzung anfertigten, publiziert Noverre 1803/04 eine stark erweiterte Fassung, die zusätzlich eine Tanzgeschichte enthält. Dahms, die sich allerdings auf die Ausgabe letzter Hand von 1807 stützt, erläutert, wie Noverre insbesondere mit den „Lettres“ sein Hauptziel verfolgt: „die Rückführung des Körpers auf sein natürliches Maß“.

Dabei macht Dahms sichtbar, wie interpretationsbedürftig die Empfehlungen Noverres im Einzelfall sein können. Während unmittelbar einsichtig ist, dass etwa das „Zerbrechen“ von Masken oder die „Abschaffung“ von deformierenden Kostümen zur Etablierung eines natürlichen Bühnenstils beitragen, bleibt unklar, wie Noverres Forderung, die gestische Aktion müsse „den Regungen unsrer Seele folgen“, konkret zu erfüllen sei.

Dahms zufolge könne diese Anregung auf die Theatertheorie Rémond de Sainte Albines zurückgeführt werden, der „vom darstellenden Tänzer verlangte“, sich selbst in den Zustand jener „Gefühle […] zu versetzen, den er darzustellen hat“. Zu ergänzen ist, dass diese Vorschrift ihrerseits rhetorische Wurzeln hat, da bereits Horaz in seiner „Ars poetica“ fordert: „si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“. Demgegenüber weist Dahms aber auch auf das nicht unerhebliche Gewicht hin, das Noverre den Begriffen ‚Verstand‘ und ‚Geschmack‘ zuerkennt. Das heißt,  um zu einer authentischen Bühnensprache zu finden, müsse der Tänzer imstande sein, die Einfühlung in die darzustellende Leidenschaft und die Reflexion über seine Bewegungen kunstvoll miteinander zu kombinieren.

Neben diesen konzeptuellen Überlegungen enthalten die „Lettres“ hauptsächlich Vorschläge für die Choreografie und Komposition von Ballettstücken sowie differenzierte Erläuterungen tanzpädagogischer Aspekte. Außerdem macht Dahms kenntlich, dass Noverre sogar pragmatische Rahmenbedingungen der Tanzaufführungen bedenkt, wenn er zum Beispiel einen „Forderungskatalog“ zur Verhütung von Theaterbränden aufstellt. Aufgrund der verheerenden Brandkatastrophen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts beispielsweise in Theatern in Mailand, Paris und England ereignen, fordert Noverre, dass mindestens „acht Feuerwehrleute“ angestellt werden müssen, „die die Bühne während der Aufführung nie verlassen dürfen“.

Die klare und thematisch gegliederte Analyse der „Lettres“ ergänzt Dahms um eine Auswertung von Noverres „Programmen“, das heißt seiner Ballettlibretti, in denen sich Hinweise für die choreografische Umsetzung der Ballette oder auch Beschreibungen der jeweiligen Bühnenaktion finden. Am Beispiel des Programm-Vorworts zum Szenar von „Euthyme et Eucharis“ (1775) kann Dahms herausstellen, dass Noverre sogar die Textgattung der Programme nutzt, um Grundbegriffe seiner Bühnenarbeit wie ‚Tanz‘, ‚Ballett‘ oder ‚Pantomime‘ zu definieren.

Der zweite große Schwerpunkt der Monografie liegt auf Noverres praktischem Wirken, das heißt auf seinem Umgang mit den Tänzern und Tanzensembles sowie auf seinen Beziehungen zu zeitgenössischen Komponisten. Hervorstechendes Merkmal seiner Tanzchoreografie, die Dahms anhand der verschiedenen Ballettensembles Noverres in Paris, London, Lyon, Stuttgart, Wien und Mailand verfolgt, sei die „außerordentliche Exaktheit“ in der Organisation und Kombination der angeleiteten Gruppen. Gleichfalls habe sich Noverre durch großen Erfindungsgeist ausgezeichnet, der sich etwa bei einer Aufführung von Christoph Willibald Glucks Reformoper „Alceste“ darin beweist, dass er den Chor durch die Tänzer doubeln lässt. Wie Dahms zu recht unterstreicht, war Noverre mit dieser ungewöhnlichen Lösung „seiner Zeit weit voraus“.

In übersichtlichen Binnenkapiteln führt Dahms aus, dass Noverre neben Gluck auch mit den Komponisten Niccolò Jommelli, Joseph Haydn und mehreren Kleinmeistern zusammengearbeitet hat. Außerdem kommt es zu einer Begegnung mit Wolfgang Amadeus Mozart, der eine Teilkomposition des Genreballetts „Les petits riens“ übernimmt. Die ungünstigen Pariser Verhältnisse verhindern allerdings eine Fortführung der freundschaftlichen Kooperation beider Künstler. Aparterweise ‚überlebt‘ Noverre in Mozarts Briefen als ein Gönner, „bey dem“, so Mozart, „ich speiss so oft ich will“.

Nicht zuletzt aufgrund der detailreichen Verzeichnisse zu Noverres Mitarbeitern und seinen Balletten, mit denen Dahms ihre Untersuchung abrundet, ist zu vermuten, dass sich die Arbeit als ein Standardwerk in der Noverre-Forschung etablieren wird. Der einzige, nahezu marginale Kritikpunkt, der vermerkt werden kann, besteht darin, dass am Ende der Eindruck bleibt, als fehle ein synthetisierendes Resümee, das noch einmal die zentralen Aspekte von Noverres Kunstverständnis hätte bündeln können. Daran hätte womöglich ein Exkurs über die – zum Beispiel deutsche – Aufnahme von Noverres Bühnenästhetik im 18. Jahrhundert angeschlossen werden können.

Gleichwohl sollen hier keine überzogenen Erwartungen formuliert werden. Schließlich hat Dahms im Vorwort ergänzend angekündigt, an einer kommentierten Edition der „Lettres“ zu arbeiten. Da dürfte es unproblematisch werden, in den Kommentar einige Bemerkungen zur Aufnahme dieser bedeutenden Schrift Noverres zu intergrieren, die von einem zeitgenössischen Rezensenten sogar „zu den besten Werken der Kunst“ gezählt wird. Dass diese Schrift ebenso wie Noverres Überlegungen zur Tanzpädagogik und Ballettpraxis tatsächlich zu den wichtigsten „Werken der Kunst“ im 18. Jahrhundert zählen, hat Dahms mit ihrer sehr lesenswerten Arbeit nachhaltig deutlich gemacht.

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Sibylle Dahms: Der konservative Revolutionär. Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts.
epodium Verlag, München 2010.
505 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783940388179

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