Magnet – Medium – Magie

Nils Röller erzählt in seinem Buch „Magnetismus“ eine „Geschichte der Orientierung“

Von Christian KassungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Kassung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Gegensatz zum Rotkehlchen verfügt der Mensch nicht über einen natürlichen Sinn für den Magnetismus. Dieser ist für ihn eine verborgene und geheimnisvolle Kraft, die er allenfalls technisch vermittelt erfahren kann. Damit sind die Grundpfosten genannt, die das Terrain von Nils Röllers Buch „Magnetismus. Eine Geschichte der Orientierung“ abstecken: Der Magnetismus kann nicht jenseits der technischen Apparate und Medien begriffen werden, die ihn allererst zu einem kulturellen Phänomen machen, aber eben auch nicht jenseits der nicht gesicherten, nicht instrumentell reproduzierbaren, nicht hegemonialen Wissensbestände und deren okkulten Funktionen. Technik und Magie erscheinen „als untrennbare und doch verfeindete Zwillinge“, worauf bereits Albert Kümmel und Dierk Spreen den Ansatz für eine allgemeine Medientheorie gründeten. Insofern besteht die Herausforderung des Buches darin, innerhalb der enormen longue durée von Antike bis Heute, zwischen Asien und Europa die produktive Spannung zwischen szientistischen und spiritistischen, zwischen wissenschaftlichen und magischen Epistemologien des Magnetismus nicht zu verlieren.

Um es gleich vorweg zu sagen: Dies gelingt Röller passagenweise brilliant, aber – notwendigerweise – nicht immer. Dabei ist die Monografie so angelegt, dass die Chronologie als verlässlicher Leitfaden der Geschichte fungieren muss. Die Neuzeit ist säuberlich in Jahrhundertkapitel gegliedert, eingerahmt von Antike, Mittelalter und China einerseits und den Walt Disney Studios, sprich der medialen Gegenwart, andererseits. So mündet die „Geschichte der Orientierung“ im modernen Subjekt, das zur unmittelbaren Orientierung kaum mehr fähig ist. Ein weniger linearer Aufbau hätte sicherlich geholfen, den sich damit zwangsläufig einstellenden Eindruck zu vermeiden: Der Mensch expliziert zunehmend Kulturtechniken der Orientierung und verliert sich dabei immer stärker im eigenen Wissen über sich selbst und die Welt. Dem entspricht zugleich eine Verschiebung der Methodologie. Sind die Eingangskapitel eher philosophiegeschichtlich angelegt, herrschen am Schluss literatur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen vor. Der neuzeitliche Mittelteil dagegen argumentiert überwiegend wissenshistorisch und überzeugt auch deshalb am stärksten.

Zwei Passagen illustrieren das Schwanken des Magnetismus zwischen Magie und Medium besonders eindrücklich, weil sie die Grenzen des Wissens genauso fluid umspielen, wie die Buchstaben des Covertitels „Magnetismus“ unscharf konturiert sind. Die große Zäsur 1500, die Entdeckung der Neuen Welt, markiert Röller durch das Problem, dass der Kompass als Instrument zur Ortsbestimmung selbst als ortsabhängig erkannt wird. Wie sollte Kolumbus navigieren, wenn seine Kursrichtung davon abhing, wo er sich aktuell im Atlantik befand? Kolumbus löste das Problem auf eine wenig neuzeitliche Art: Er nahm Kompasse aus verschiedenen Werkstätten mit an Bord, das heisst Instrumente, deren jeweilige Abweichung von der Nordweisung unterschiedlich stark durch Korrekturmagnete auf Null reduziert wurde. Mit anderen Worten lag der Fehler für Kolumbus im Instrument und nicht im Phänomen. Produktiv im Sinne einer Wissensgeschichte des Magnetismus wird diese Störung in dem Moment, da sie im Magnetfeld der Erde selbst gesucht wird, was zweierlei voraussetzt: erstens sehr genaue Messungen an unterschiedlichen Orten und zweitens Kommunikation der Instrumentenmacher über diese Messwerte. So werden um 1500 in Nürnberg die ersten Kompasse nicht mehr länger ,künstlich‘ korrigiert, sondern die Missweisung als ortsabhängige Differenz von geografischem und Magnetnadelpol explizit auf dem Gehäuse markiert. So wandert die Störung langsam aus dem Instrument heraus und wird zu einem Wissen über das Phänomen.

Die große Fiktion dieser ortsabhängigen Missweisung ist die Lösung des Längengradproblems: Wenn der Kompass an jedem Ort der Welt einen anderen ,Nordwert‘ anzeigte, so ließe sich daraus auf die Schiffskoordinaten rückfolgern. Doch das weitere Sammeln und Vermitteln von Messwerten führt gut 120 Jahre später zur Ernüchterung: Die Deklination der Kompassnadel ist nicht nur orts- sondern auch zeitabhängig. Der englische Astronom Henry Gellibrand konnte durch den Vergleich zeitlich weit auseinanderliegender Messwerte beweisen, dass das Magnetfeld der Erde nicht konstant ist. Die Hoffnung der Seemächte in die kompassbasierte Längengradbestimmung wich damit einem noch stärker explizierten Wissen über den tellurischen Magnetismus. Möglich wurde dies nur, weil die notwendigen Daten über einen langen Zeitraum nach standardisierten Verfahren erhoben, normiert, gespeichert und kommuniziert wurden.

Diese beiden und viele andere Beispiele aus Röllers Buch zeigen, wie komplex eine Wissensgeschichte des Magnetismus ist. Zwar mag man bedauern, dass es einige nicht unwesentliche Leerstellen gibt, etwa die Formalisierung des Feldkonzeptes durch James Clerk Maxwell und die damit einhergehenden epistemologischen Probleme, jüngste Nachweise magnetischer Monopole am Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie oder die schon eingangs genannten Übergänge zwischen Magnetismus und Okkultismus. Doch über das Wechselspiel von Überblick, Tiefenbohrungen und Auslassungen wird Röllers Geschichte auch zu einer Geschichte der Orientierung seiner selbst, zur aktiven, sich selbst mitprotokollierenden Arbeit an der Frage, wo der Magnetismus als kulturelles Phänomen beginnt und wo es aufhört. Was wir beim Lesen des Buches deshalb nicht zuletzt gelernt haben: Vorsicht vor allzu schnellen Grenzziehungen.

Titelbild

Nils Röller: Magnetismus. Eine Geschichte der Orientierung.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn ; München 2010.
245 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770548903

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