Jungen sind keine Rattenmännchen

Über Lise Eliots Sachbuch „Die Gehirnentwicklung bei Jungen und Mädchen“, das mehr ist als nur ein Ratgeber für Eltern

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lise Eliot ist Neurobiologin. Als solche war sie zu Beginn eines ihrer Forschungsvorhaben sicher, es werde ihr ohne größere Schwierigkeiten gelingen, die Ursachen empirisch nachweisbarer Verhaltensunterschiede psychischer Charakteristika zwischen Jungen und Mädchen mithilfe der Hirnforschung zu erklären. Doch gerade die Erforschung des Gehirns belehrte sie eines anderen. Denn die erzielten Ergebnisse waren „alles andere als eindeutig“ und ließen „keine Rückschlüsse“ auf die Ursachen der Differenzen zu. Heute hat sie ihre damalige Annahme, „die in Laboratorien gewonnenen Ergebnisse einfach verallgemeinern“ zu können, als „naiv“ erkannt und ist zu der Überzeugung gelangt, sich hierzu nicht mit Laborergebnissen zufrieden geben zu dürfen, sondern sich mit den „eigentlichen Manifestation unserer bemerkenswerten zerebralen Plastizität“, nämlich mit der menschlichen Kultur, befassen zu müssen. Denn „Jungen sind keine Rattenmännchen“.

Die Ergebnisse ihrer Forschungen zur Entwicklung der Gehirne von Jungen und Mädchen sind nun in ein Buch eingeflossen, das laut Titel versucht, die Frage zu beantworten, wie verschieden sie sind. Eliots Spezialgebiet ist die Erforschung der Plastizität des Gehirn, ein besonderer Zweig der Neurologie, der zu der noch nicht allzu alten Erkenntnis führte, „dass das Gehirn formbar ist und sich durch die Erfahrungen, die es macht, fortwährend ändert“. Wie Eliot pointiert formuliert, ist das Gehirn somit, „das, was wir mit ihm tun“. Dabei kreieren wir das Gehirn selbstverständlich nicht wie ein Schöpfergott aus dem Nichts, sondern arbeiten sozusagen mit vorhandenem Material. So weist Eliot denn auch darauf hin, dass „Anlage und Umwelt“ keine „einander ausschließenden Pole“ sind, sondern als „unauflöslich ineinander verwobene Einflussgrößen“ betrachtet werden müssen, die mittels der „epigenetischen Interaktion“ ständig aufeinander einwirken. Was nun die Gehirnentwicklung im Besonderen betrifft, so legt die Autorin dar, dass aus minimalsten pränatalen Unterschieden in den Gehirnen von weiblichen und männlichen Föten nach der Geburt durch Umwelteinflüsse jeder Art, insbesondere aber durch gesellschaftliche Einflüsse, beträchtliche Differenzen erzeugt werden. Während der ersten Jahre ist die Erziehung hierbei besonders wirkungsmächtig.

In den am heranwachsenden Kind orientierten und somit chronologisch aufgebauten Abschnitten listet die Autorin noch die minimalsten und belanglosesten Unterschiede zwischen den statistischen Unterschieden der Gehirne von Jungen und Mädchen akribisch auf. Dies dient zum Beleg dafür, dass sich selbst bei genauestem Hinsehen keine wirklich relevanten Differenzen zwischen weiblichen und männlichen Hirnen ausmachen lassen. Ebenso akribisch weist sie die Irreführungen populärer Fachbücher nach, die solch grundlegende Unterschiede behaupten. „Das Gehirn von Mädchen heißt es da, sei auf Kommunikation, das von Jungen auf Aggression programmiert; ihre Serotonin- und Oxytocinspiegel seien unterschiedlich; bei Jungen sei, während sie sich mit mathematischen Aufgaben beschäftigen, der Hippocampus aktiv, bei Mädchen die Großhirnrinde; Mädchen nutzten vor allem die linke, Jungen die rechte Gehirnhälfte.“ Solche Thesen seien nicht nur „durchweg problematisch“, sondern teilweise sogar „völlig aus der Luft gegriffen“. „Besonders tückisch“ sei es, wenn populärwissenschaftliche AutorInnen „Gehirnstrukturen als per Definition angeboren“ darstellten und die Ansicht „propagieren“, „Geschlechtsunterschiede seien fest einprogrammierte, von vornherein festgelegte biologische Gegebenheiten“. So weist Eliot etwa Behauptungen wie diejenige von Louann Brizendine, „emotionale Bindungen“ würde von Mädchen anders als von Jungen hergestellt, als „nicht nur falsch, sondern regelrecht gefährlich“ nach. Ebenso widerlegt sie die alte Mär, „das große Bündel aus Nervenfasern, das die beiden Gehirnhälften verbindet, sei bei Frauen im Verhältnis größer als bei Männern“. Denn tatsächlich gibt es hierfür „keinerlei relevante und statistisch signifikante Belege“.

AdressatInnen des vorliegenden Buches sind Väter und Mütter, die von der Autorin auch schon einmal direkt angesprochen werden. Es handelt sich also nicht etwa um ein Fachbuch für den KollegInnenkreis, sondern um ein Sachbuch, das am Ende der einzelnen Abschnitte umfangreiche „Tipps zum Umgang mit Mädchen und Jungen“ bietet, in denen die Autorin beispielsweise den natürlich nicht nur von Eltern zu beherzigenden Rat erteilt: „Versuchen Sie Geschlechterklischees zu meiden“. Selbstverständlich ist sie sich dabei sehr wohl bewusst, dass es Eltern nie möglich sein wird, sich vom Geschlecht ihres Kindes nicht beeinflussen zu lassen. Dies führt sie zurecht keineswegs auf eine angeborene menschliche Disposition zurück, sondern darauf, „dass wir selbst mit den Kategorien ,männlich‘ und ,weiblich‘ aufgewachsen sind und diese Erfahrungen nicht einfach beiseitewischen können.“

Allerdings hält sie es auch für eine „Illusion“ zu glauben, die Geschlechter seien psychisch „von Grund auf gleich“. Doch seien die nachweisbaren Unterschiede der psychischen Merkmale und dem Verhalten von Frauen einerseits und Männern andererseits, nicht nur „viel kleiner“ als die körperlichen; weit wichtiger noch sei, dass die Differenz der diesbezüglichen, statistischen Mittelwerte des jeweiligen Geschlechts „auch recht klein im Vergleich“ zur Spannbreite der „Messwerte innerhalb der Gruppe von Männern und innerhalb der Gruppe der Frauen“ ist. Vor allem aber solle man sich stets vor Augen halten, dass sich aus all diesen Daten „keine sinnvollen Prognosen“ über eine bestimmte Person deduzieren lassen.

Die fast allgegenwärtige „Überzeichnung von Geschlechtsunterschieden“ berge auch darum „gewaltige Gefahren“, weil sich diese Stereotypsierungen in der Selbstwahrnehmung der Jungen und Mädchen niederschlagen und so zu „sich selbst erfüllenden Prophezeiungen“ würden. Dem möchte Eliot „gegensteuern“, indem sie zeigt, wie groß – oder besser gesagt: wie gering – die psychischen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen tatsächlich sind und wie „vielfältig“ deren Ursachen sind. Dabei wendet sich die Autorin zwar gegen die auch in der Boulevardpresse immer wieder kursierenden evolutionären Erklärungen für nachweisbare kognitive und emotionale Unterschiede oder Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen, führt aber emotionale Geschlechterdifferenzen selbst darauf zurück, „dass Jäger/Krieger einem anderen Selektionsdruck unterliegen als Sammlerinnen/Fürsorgerinnen“. Dies überrascht umso mehr, da sie an anderer Stelle darlegt, dass die vermeintlich geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Jäger und Sammlerinnen nicht belegt ist.

Überzeugend wendet sie sich indessen gegen die Annahme, eine Ursache geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen in hormonellen Unterschieden ausmachen zu können. Die Belege hierfür seien „gelinde gesagt dürftig“. Nur im Falle der Aggression verhalte es sich etwas anders. Hier lasse sich nun wirklich „einer der größten und verlässlichsten Unterschiede“ zwischen Männern und Frauen ausmachen. Er betreffe die geschlechtsspezifische Reaktion auf die eigenen „feindseligen Gefühle“ anderen Menschen gegenüber. Während Männer sie aggressiv ausagieren, pflegen Frauen sie zu unterdrücken. Außerdem lasse sich ein Zusammenhang zwischen dem „berüchtigten Stereoid“ und Aggressionen nachweisen. Doch anders als gemeinhin unterstellt. Denn tatsächlich sei ein erhöhter Testosteronspiegel nicht etwa die Ursache aggressiven Verhaltens, sondern vielmehr dessen Folge. Mädchen übten nicht wegen eines anderen Hormonhaushalts weniger körperliche Gewalt aus als Jungen, sondern weil sie wüssten, dass dieses Verhalten „geächtet“ würde. Sie zögen daher „verdeckte Maßnahmen“ vor, „um ihre Widersacherinnen einzuschüchtern“. Dagegen gewönnen Jungs an sozialem Prestige, wenn sie ihre Aggressionen auslebten. Kurz: „die unterschiedlichen aggressiven Verhaltensstile von Jungen und Mädchen“ seien „kaum von Natur aus festgelegt“. Eine viel „naheliegendere Ursache“ hierfür macht sie in den „patriarchalischen Verhältnissen“ aus. Insgesamt konstatiert die Autorin, dass die sozialen und emotionalen Differenzen zwischen den Geschlechtern keineswegs „so fest verdrahtet“ sind, wie in populären und wenig wissenschaftlichen Sachbüchern gerne behauptet wird. Tatsächlich begännen sie als „winzige von der Evolution gesetzte und von den Hormonen genährte Sämlinge, die aber nur unter der heißen Sonne unserer ausgeprägten gesellschaftlichen Geschlechterdifferenzierung zur Blüte gelangen.“

Fast alles in dem von Eliot gesetzten Rahmen des mit einschlägigen Tipps versehenen, an Eltern gerichteten Fachbuches fällt überzeugend aus. Allerdings lässt sich von kulturwissenschaftlicher, an Judith Butler geschulter Seite auch einige Kritik vorbringen. Etwa an der Behauptung, dass „von allen Eigenschaften“ Neugeborener diejenige, ob es männlich oder weiblich ist, „die folgenreichste“ sei. Butler-AdeptInnen werden sofort einwenden, weiblich und männlich seien keine Eigenschaften, sondern Zuschreibungen. Kritik lässt sich aber auch von biologischer Seite üben, denn das biologische Geschlecht ist keineswegs ein allein durch Chromosomen und anatomische Merkmale „binäres Entweder-oder-Merkmal“. Tatsächlich lässt sich wohl eher von einem Geschlechterkontinuum (mit allerdings ausgeprägten Spitzen an beiden Enden) als von zwei voneinander getrennten Geschlechtern reden, die gemäß dem Satz tertium non datur kein Drittes kennen. Vor allem aber ist die geschlechtliche Zuordnung keineswegs so einfach und eindeutig, wie von Eliot behauptet. Margarete Maurer weist etwa darauf hin, dass das biologische Geschlecht in den Disziplinen Humanbiologie, Primatologie und vergleichender Zoologie „traditionell nach mehreren Gesichtspunkten bestimmt“ wird: „chromosomal (‚genetisch‘)“, „gonadal“, „morphologisch oder phänotypisch“, „hormonell“, „verhaltensbiologisch“ und „gehirnanatomisch oder -physiologisch“. Die sechs genannten Betrachtungsweisen verweisen keineswegs immer eindeutig und übereinstimmend auf eines von zwei Geschlechtern. Als Biologin dürfte Eliot all das nicht unbekannt sein. Vielleicht aber fürchtete sie, die Zielgruppe des Buches, jene Eltern, denen die Tipps am Schluss der jeweiligen Abschnitte gelten, mit derlei Informationen unnötig zu verwirren und zu verunsichern.

Titelbild

Lise Eliot: Wie verschieden sind sie? Die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
605 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783827005724

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