Unlust im Garten der Lust

Wolfgang Rother über Hedonismus und den Lustdisput von Plato bis Freud

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In vollem Einklang mit der gegenwärtig expandierenden Emotionsforschung präsentiert der Züricher Philosoph Wolfgang Rother sein Buch über die Lust und entfaltet darin Lust-Konzepte „von Platon bis Freud“. Freude und Entzücken am Fuß des „Uto“ hat schon Klopstock in seiner Ode „Der Zürcher See“ emphatisch signalisiert. Nun folgt Rothers 2010 erschienenes ,Lustbuch’ einer weiteren Untersuchung eines Zürichers über die Lust: Fady Barchas „Die Lust. Ein Disput in der abendländischen Tradition – von Homer bis Robespierre“ (Wien 2009).

In seiner Rehabilitierung der Lust, die sich einerseits über Immanuel Kants Pflichtethik hinwegsetzen, andererseits aber der heutigen „oberflächlichen Spaßkultur“ entgegenwirken möchte, spannt Rother den Bogen von Athen über Italien zur Zeit der Renaissance bis nach Deutschland. Den Endpunkt bildet das Lustkonzept des Österreichers Sigmund Freud. Während die Besprechung von Lusttheoretikern wie Platon, Aristoteles, Epikur, Kant und Freud erwartbar gewesen ist und man auch über Gustav Theodor Fechners Präsenz im Band als Vorläufer Freuds nicht überrascht ist, fallen Namen wie Pietro Verri und Karl Leonhard Reinhold in diesem Lustreigen um so mehr auf. Rother begründet seine Entscheidung für diese Autoren sowohl mit didaktischen Beweggründen als auch mit persönlichen Vorlieben.

Zum lustvollen Umgang mit dem Thema gehört für Rother die kaleidoskopische Beleuchtung der Lust „aus verschiedenen Perspektiven“. Das Kaleidoskopische soll die Beschränkung aufwerten, welche das Hauptmerkmal dieses Buches ist. Als Leser begibt man sich mit Rother auf keine heroische, gefahrvolle Reise – eine solche wäre es gewesen, hätte er „eine erschöpfende Behandlung des Themas“ angestrebt, die aber Rother zufolge „Folianten füllen“ würde. Statt dessen macht man einen „vergnüglichen Spaziergang“ durch den Garten der Lust mit. Das Ergebnis dieser Beschränkung ist ein anspruchsloses „Bändchen“, wie es der Autor selbst wiederholt nennt, von bescheidenem Umfang und Inhalt.

Aber sogar dieser kurze und oberflächliche Spaziergang durch mehrere Lusttheorien verkommt zu einem stereotypen Durchgang. Immer wiederkehrende Bausteine des Textes sind biografische Informationen über den jeweiligen Denker, mit denen fast jedes Kapitel beginnt, längere Paraphrasen relevanter Texte der einzelnen Philosophen (vorangetrieben durch die Worte „in einem nächsten Schritt“), die den Eindruck erwecken, einen Ersatz für die Lektüre des Originaltextes bieten zu wollen, Aufforderungen an den Leser vom Typ: „Schauen wir uns […] an.“

Kompensiert werden soll diese Stereotypie durch die Ungezwungenheit der lebendigen Rede und die Unmittelbarkeit der Ausdrucksweise. Was aber damit erreicht wird, ist der Sturz in die Trivialität und gelegentlich in die Abgeschmacktheit – bittere Früchte der Beschränkung und der damit verbundenen Anbiederung an das Publikum. So behilft sich Rother häufig einer Metaphorik, die Bezüge zur Gegenwart und zur Lebenswelt des von ihm implizierten Lesers herstellen möchte, die jedoch Befremden auslöst. Seinen Gedanken, dass Lust an sich „moralisch indifferent“ ist, illustriert der Autor im Kapitel über Aristoteles mit folgenden Vergleichen: „Die Freude des Bankräubers über den gelungenen Überfall oder auch des Geldwäschers oder des Steuerbetrügers über eine erfolgreiche Abwicklung ihrer Bankgeschäfte unterscheidet sich nicht von der Freude der Pianistin an der gelungenen Aufführung der Klaviersonate oder der Freude der Chirurgin an der gelungenen Operation“. Epikur wird als „sportlicher Asket“, Aristoteles sogar als „makedonischer Geheimagent“ präsentiert. Dem Stil, dem Haupttenor und der Intention des Buches entsprechend „vergnüglich“ und „genüßlich“ ist die Beschreibung der Verführung des Aristoteles durch Phyllis: „[…] die nur mit einer Kopfbedeckung bekleidete Phyllis, eine üppig-sinnliche Frau, die mit der linken Hand die Zügel und in der rechten eine Peitsche hält, mit der sie liebevoll-streng das Hinterteil des ebenfalls nackten Philosophen traktiert“.

Auch sonst wimmelt es in diesem Buch von „Anekdötchen“ und „Kalauern“. So beginnt der übliche biografische Vorspann im Hegel-Kapitel mit folgendem bekannten Zitat: „O Hegel, Du saufschst Dir g’wiß noch Dein ganz bißle Verstand vollends ab.“ Das leicht durchschaubare Ziel solcher Stellen ist neben der oben genannten Anbiederung an das Publikum der Nachweis, dass auch ,seriöse’, sogar lustfeindliche Denker der Lust gefrönt haben. Ein weiteres Bild, welches haften bleibt, ist dasjenige des Thomas von Aquin, der sich für seinen enormen Bauch einen extra Schreibtisch anfertigen ließ. Solche Widersprüche zwischen Theorie und Lebensweise der Philosophen entlocken dem Autor jedoch nichts anderes als Überraschung vortäuschende Ausrufe wie „Der heilige Thomas als Hedonist!“ oder belustigte Kommentare wie „Verkehrte Welt, in der der Übervater des Hedonismus [Epikur] als genügsamer Mann erscheint, der Wein predigt und Wasser trinkt, der Bettelmönch hingegen als notorischer Schlemmer.“ Daran schließen sich mit einem Augenzwinkern ausgesprochene, „erfrischend praktische“ Ratschläge an den Leser an, beispielsweise in Anlehnung an Thomas von Aquin: „Wenn Du Streß hast, nimm ein Bad und gönn dir Ruhe und genügend Schlaf.“

Das gedankliche und theoretisch-konzeptuelle Substrat dieses Buches ist dagegen dünn ausgefallen. Man vermisst etwa ein Kapitel über die Stoa – nur hin und wieder werden in anderen Kapiteln Hinweise auf die Lustvorstellungen dieser Schule gegeben. Die im Anschluss an jedes Kapitel angegebene Forschungsliteratur ist hilfreich, richtet sich aber in ihrer Auswahl und im Umfang ebenfalls nach den Vorlieben und Kenntnissen des Autors. Dies wird insbesondere beim Vergleich der meisten Kapitel mit dem Kapitel über Freud ersichtlich, wo sich die Sekundärliteratur auf zwei ältere Titel beschränkt.

Die Lust-Schmerz-Dialektik als Komponente der Geschichte der Lusttheorien wird zwar thematisiert, zieht aber keine profunden Explikationen nach sich. Als Beispiel für dieses Vorgehen seien folgende Ausführungen Rothers aus dem Kapitel über Pietro Verri genannt: „Das künstliche Bedürfnis [Verri grenzt dieses Bedürfnis von den auf Selbsterhaltung zielenden natürlichen Bedürfnissen ab] gleicht hingegen dem Kopf einer Hydra. Das System der Bedürfnisse ist ein Ungeheuer, dessen Eigendynamik nicht aufzuhalten ist. Aus jedem gestillten Bedürfnis erwachsen immer wieder neue und immer mehr Bedürfnisse.“ Statt sich sofort auf die Suche nach Erklärungen für dieses kuriose und beunruhigende Phänomen zu machen, knüpft Rother wieder an die „Bedürfnisse“ seiner Leser an, wobei er diese Leser der „Hydra“ ausliefert: „Wir kennen das Phänomen: Das Lustgefühl bei der Befriedigung eines Bedürfnisses weicht unmittelbar dem Schmerz neuer Bedürfnisse. Dieser Schmerz treibt den menschlichen Erfindungsgeist an, er führt zu wissenschaftlich-technischer und kultureller Entwicklung und macht unser Leben angenehmer und lustvoller, aber zugleich unruhiger, unbehaglicher und am Ende gar schmerzlicher.“ Erst in einem zweiten Anlauf stellt Rother dann in Anlehnung an Verri eine recht allgemein gehaltene Verbindung zwischen Schmerz und Zivilisation her. Weitaus befriedigender wäre hier eine ausführlichere und feste Verankerung von Verris Schmerzkonzept in den konkreten Parametern seiner ökonomischen Theorie gewesen, aus der hier nur beiläufig etwa die ,Dialektik‛ von Raub und Handel angesprochen wird.

Unlust bereitet bei der Lektüre von Rothers ,Lustbuch’ also neben der verspielten, aber anspruchslosen Diktion und der Beschränkung auf „membra disiecta“ – auf Fragmente und Versatzstücke des Diskurses über die Lust – auch der Verzicht darauf, sich auf ,Begleitprobleme’ der Lustdebatten wie Angst, Trauma und Aggression einzulassen, wie sie etwa in der Psychoanalyse „jenseits des Lustprinzips“ entdeckt wurden. Anders als in der oben genannten Untersuchung zur Lust von Fady Barcha, in der das Panorama der Lust vor dem soliden Fundament zeitgeschichtlicher, weltanschaulicher und politischer Annahmen entfaltet wird, verzichtet Wolfgang Rother auf Überlegungen zu den historischen und politischen Auslösern und Implikationen von Verschiebungen und Akzentverlagerungen in der Lustdebatte. Wie in Klopstocks „Zürcher See“ bleiben die Dissonanzen, die Unterströmungen, die tiefen Abgründe unter der schillernden Oberfläche, auf der die „Lüste“ „so verschieden wie die Farben“ sind, gut verborgen.

Titelbild

Wolfgang Rother: Lust. Perspektiven von Platon bis Freud.
Schwabe Verlag, Basel 2010.
152 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-13: 9783796526916

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