Er war der Komponist der Zerrissenheit

Bernd Sponheuers und Wolfram Steinbecks „Mahler-Handbuch“ ist ein vieldimensionales Kompendium gesicherter Kenntnisse und Erkenntnisse der Gustav-Mahler-Forschung

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mangelnde Resonanz auf seine erste Partitur „Das klagende Lied“ ließ Gustav Mahler vom Komponieren zum Dirigieren wechseln. Zielstrebig gestaltete er von nun an eine Kapellmeisterlaufbahn, folgte 1891 einem Ruf an die Hamburger Bühnen (dort bewunderte ihn Peter Tschaikowski als Dirigenten seines „Eugen Onegin“), gastierte 1892 von Hamburg aus in London mit Wagners komplettem „Ring des Nibelungen“ und ging fünf Jahre später mit einem Vertrag auf Lebenszeit nach Wien an die Hofoper, wo er sich besonders für Christoph Willibald Gluck, Wolfgang Amadeus Mozart, Carl Maria von Weber und Richard Wagner einsetzte. Doch seine künstlerische Unnachgiebigkeit führte dazu, dass er nach zehn Jahren der geballten Antipathie des Hauses – und zudem noch einer anhaltenden Pressekampagne – weichen musste und als Gastdirigent an die New Yorker Metropolitan Opera wechselte. Hier legte er den Akzent auf Mozart, Wagner und Bedrich Smetana. Mittlerweile hatten ihn die Wiener Philharmoniker zu ihrem Chef gemacht (1898-1901). Zuletzt, 1909-1911, war Mahler Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, mit denen er einen kompletten Anton-Bruckner-Zyklus aufführte.

Dem Dirigenten Mahler entspricht der Symphoniker Mahler. Als erklärter Fjodor-Dostojewski-Verehrer hat er wie Ludwig van Beethoven vor und Dmitri Schostakowitsch nach ihm, aber ungleich farbiger und sinnlicher, diese klassischste aller Gattungen zur philosophisch-psychologischen Arena gemacht. Symphonie bedeutet für ihn, „mit allen Mitteln der vorhandenen (Kompositions-)Technik eine Welt“ aufzubauen. Die lebenslange Auseinandersetzung mit der Symphonie verband er mit einem klaren Sendungsbewusstsein: „Meine Zeit wird kommen“. Und sie kam auch wirklich, wenn auch erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod. Gustav Mahler ist heute weltweit ein anerkannter Kulturbesitz und in den großen Konzertsälen immer wieder eine Herausforderung. Er zählt zu den international am häufigsten aufgeführten Komponisten und wird als Symphoniker Beethoven ebenbürtig angesehen. Aber immer noch fehlt eine historisch-kritische Edition seiner Werke und Briefe – eine unersetzliche Voraussetzung für jede Mahler-Forschung und -Pflege.

Das im Mahler-Jahr 2010 erschienene Mahler-Handbuch, eine zusammenfassende, vom aktuellen Wissensstand ausgehende Darstellung mit vielen brandneuen Erkenntnissen, ist ein unentbehrliches Standardwerk für den Spezialisten wie für den Musik-Freund. 22 Autoren geben nach einer fundierten Einleitung (in der Bernd Sponheuer berichtet, wie es zur „Mahler-Renaissance“ und zur Aufnahme Mahlers in den Kanon der großen Komponisten kam) ausführliche Darstellungen aller (vollendeten) Werke Mahlers, der frühen Kompositionen (dargestellt von Eckhard Roch), Lieder (Mathias Hansen), Sinfonien (die Autoren werden später genannt) und der von ihm vorgenommenen Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten (Eike Feß).

Dazu eine intensive Beschreibung seines Lebens und seiner Welt (Jens Malte Fischer, Verfasser einer hervorragenden Mahler-Biografie), übergreifende Themen wie Mahlers geistige Welt (Adolf Noack), seine kompositorische Herkunft aus dem „langen 19. Jahrhundert“ (Walter Werbeck), Mahlers „Ton“ (Mathias Hansen), sein Ort in der Wiener Moderne (Horst Weber), Mahlers Orchesterklang (Peter Jost), der Schaffensprozess des Komponisten (Peter Andraschke) und das Verhältnis seiner Musik zur Oper (Tobias Janz). Am Ende steht die außergewöhnliche Rezeptionsgeschichte seiner Musik, in der Musikkritik wie –forschung als auch bei Komponisten (Juliane Wandel, Bernd Sponheuer, Wolfgang Rathert), der musikalisch-praktischen Aneignung in den Aufführungen und Einspielungen seiner Werke (Hartmut Hein) und der Aneignung Mahlers durch das Medium Film (Albrecht Riethmüller). Eigentlich bleibt hier kein für Mahler wesentliches Thema offen, wenn man nicht auch an Mahler in der Literatur und bildenden Kunst denken könnte und wenn nicht vielleicht auch Mahler und Alma Schindler-Mahler ein besonderes Kapitel verdient hätten, obwohl sich Jens Malte Fischer in seinem Biografie-Kapitel dazu äußert. Dem Handbuch ist eine Zeittafel, ein Werkverzeichnis sowie ein Namen- und Werkregister beigegeben.

Im Zentrum dieses Kompendiums stehen die tief auslotenden Darstellungen der zehn Symphonien. Als „eine durchaus in sich geschlossene Tetralogie“ bezeichnet Wolfram Steinbeck die Erste bis Vierte Symphonie. Sie haben noch eine Grundtonart – Kopfsatz und Finale stehen traditionell in der gleichen beziehungsweise entsprechenden Tonart –, während die späteren Symphonien (mit Ausnahme der Sechsten und Achten) diese tonale Basis verlassen. Die Erste Symphonie (Uraufführung unter Mahlers Leitung 1889 in Budapest, in überarbeiteter Fassung 1893 in Hamburg aufgeführt)) entstand parallel zu den „Liedern eines fahrenden Gesellen“, den wohl erfolgreichsten Orchesterliedern überhaupt, deren zweites „Ging heut’ morgen übers Feld“ den Kopfsatz prägt. Der dritte Satz ist ein ambivalenter „Trauermarsch“: Mit einem ironischen Kanon – Steinbeck spricht sogar von einer Groteske – tragen die Tiere von Wald und Feld ihren Jäger zu Grabe. Das Choralthema des Finales erklingt zuletzt sieghaft in acht Hörnern, die stehend, mit erhobenen Schalltrichtern, geblasen werden. Zu Lebzeiten Mahlers höchst umstritten, ist die Erste Symphonie Mahlers heute die wohl meist gespielte.

Die Zweite Symphonie (Uraufführung – aber nur der Sätze 1-3 – 1895 in Berlin, im gleichen Jahr des gesamten Werkes in Prag) ist die so genannte „Auferstehungssymphonie“ nach der gleichnamigen Klopstock-Ode, die Mahler im grandiosen Finale vertont. Der Komponist schreibt das Erlösungsthema mit den hoffnungsvollen Worten fort: „Sterben werd’ ich, um zu leben“. Diese zweite der vier ersten auch so genannten „Wunderhorn-Symphonien“ (mit Texten aus „Des Knaben Wunderhorn“ von Clemens Brentano und Achim von Arnim) verwendet wie schon Beethoven die menschliche Stimme als dramaturgisches Steigerungsmittel. Bei 80 Minuten Aufführungsdauer werden „mindestens 5 Minuten“ Pause verständlich, die Mahler in der Partitur zwischen dem ausladenden Kopfsatz und einem idyllischen Ländler verlangt.

In der Dritten Symphonie (1902 erstmals in Krefeld unter Mahlers Leitung aufgeführt), die noch etwa zehn Minuten länger ausfiel, treten zum Alt-Solo noch ein Frauen- und ein Knabenchor. Den mitreißenden Eröffnungssatz, einen gewaltigen Marsch, assoziierte Richard Strauß mit „Arbeiterbataillonen“. Ein Wiener Kritiker äußerte sich über den revolutionären Gestus aufgebracht: „Für so was verdient der Mann ein paar Jahre Gefängnis“. Die Binnensätze bedienen sich der Worte aus Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ und „Des Knaben Wunderhorn“ („Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“). Eine so weihevolle Stimmung wie die des Adagio-Finales hatten zuvor nur der späte Beethoven und der reife Bruckner erreicht.

Die Vierte Symphonie (1901 – also noch vor der Dritten – in München uraufgeführt) mit dem Sopranpart „Das himmlische Leben“ im Finale beschließt die Trias der „Wunderhorn-Symphonien“, in denen das jeweils nachfolgende Werk auf das vorangegangene reagiert. Für Steinberg ist sie „offenbar eine Art Finale, gleichsam der Schluss-Satz einer Supersymphonie aus vier Teilen“.

In der Fünften Symphonie von 1903 (die Uraufführung 1904 im Kölner Gürzenich fand wenig Verständnis) verzichtet Mahler auf die menschliche Stimme – und auf die anheimelnde Romantik der Volksdichtung – und wendet sich der rein instrumentalen Besetzung zu. Aus der ansonsten völlig unsentimentalen Partitur wurde besonders das Adagietto auf ein eigenes Friedrich-Rückert-Lied („Ich bin der Welt abhanden gekommen“) bekannt durch Luchino Viscontis Verfilmung der Thomas-Mann-Novelle „Tod in Venedig“. Zur innigen Wirkung trägt hier die sanfte Instrumentation (Streicher und Harfe) bei. Barbara Meier beschreibt, wie das Sonatenschema der ersten Abteilung durch Peripetien, durch wiederkehrende Einsturz- und Durchbruchsfelder aufgebrochen wird: „Zusammenbrüche, Auflösungspassagen und dann wieder Aufschwünge, Erfüllungen des Erwarteten“. Versatzstücke aus der Wirklichkeit finden Eingang in die Musik.

Die Fünfte bis Siebente Symphonie scheint ebenfalls eine Gruppe für sich zu bilden. Sie haben sich von jenem Bindeglied abgekehrt, das die ersten vier Symphonien zusammenhält: dem Bezug zum Vokalen, vor allem zum Lied. In der Sechsten Symphonie, der „Tragischen“ (1904, Uraufführung 1906 in Essen), scheint Mahler die Schicksalsschläge des Jahres 1907 bereits vorauszusehen: Er wird in Wien „gestürzt“, die Ärzte diagnostizieren eine Herzkrankheit, seine Tochter Maria Anna stirbt. Das „Marschfinale“ gehört zu den bedeutendsten symphonischen Sätzen der Literatur: Klangstürze nehmen die Katastrophe des nahen Ersten Weltkrieges vorweg. Dennoch gehört die Sechste zu den am wenigsten gespielten Werken Mahlers. Kann man die strenge Stimmigkeit der Form bewundern und zugleich ihre negative Verlaufskurve mit ihren Assoziationsangeboten von Zerstörung und Tod fürchten oder gar hassen, fragt Siegfried Oechsle und bezieht in seine Werkinterpretation auch die widersprüchliche Rezeptionsgeschichte der Sechsten mit ein.

In der Siebenten Symphonie (Uraufführung unter Leitung des Komponisten 1908 in Prag) überraschen zwei rätselhafte „Nachtmusiken“, deren elegischer Charakter wie ein „Abendrot der alten Lebensordnung“ wirkt und die von Anton Webern als innovative Orchestrierung bewundert wurde. Die Solo-Violine lässt an mittelalterliche Darstellungen des Totentanzes denken: Alle müssen dem fiedelnden Knochenmann folgen, ob jung oder alt, arm oder reich. Der Optimismus des Finales (in der Stimmung von Wagners „Meistersingern“) wirkt vor diesem Hintergrund seltsam gebrochen, wie in Parenthese. Martin Geck sieht als Interpret der Siebenten in dem „affirmativ-lärmenden Finale“ karnevaleske Züge, einen „grauenvollen, seinen Frohsinn nur vortäuschenden Marsch ins Nichts“.

Die Uraufführung der Achten Symphonie (1910 in München), die monumentalste aller bis dahin komponierten Symphonien, war Mahlers größter Erfolg zu Lebzeiten – er hatte nur noch 8 Monate zu leben. In München war damals die geistige Elite der Alten Welt versammelt. Den reißerischen Untertitel „Symphonie der Tausend“ hatten die Veranstalter aus Werbegründen beigesteuert. Doch die Besetzung war tatsächlich gigantisch: zwei gemischte Chöre, ein Knabenchor, acht Vokalsolisten, ein Mammutorchester mit Orgel, gesondert aufgestellte Blechbläser. Das Riesenaufgebot gilt freilich erhabenen Textvorlagen: dem Pfingsthymnus des Hrabanus Maurus zugeschriebenen „Veni creator spiritus“ („Komm Schöpfer Heiliger Geist“) sowie der Schluss-Szene aus Goethes „Faust II“ („Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“), die bereits Franz Liszt in seiner „Faust-Symphonie“ vertont hatte. Beide Texte – ob deren Kombination in einem symphonischen Werk legitim ist oder ob sie eher einem Gewaltakt gleich kommt, ist immer wieder diskutiert worden – handeln von Erlösung durch den Heiligen Geist und durch die Liebe, die vom Himmel Begnadigung erfährt. Das Werk stellt auch innerhalb des symphonischen Œuvres seines Schöpfers eine Ausnahmeerscheinung dar. Intensiv beschäftigt sich Peter Revers mit Mahlers Strategien symphonischen Komponierens in der Achten und kommt zu dem Schluss, dass die Thematik des „chorus mysticus“ durchaus handlungsaktiv wird: „Sie durchreißt in der fortissimo-Wiederkehr des ppp-Chorbeginns das syntaktische Versprinzip, indem die zentrale Botschaft – der vierte Vers ,das Ewig-Weibliche zieht uns hinan‘ – emphatisch in das dynamisch zurückgenommene Ende des ersten Verses einbricht“.

Die Uraufführung seiner Neunten Symphonie (1912 in München) hat Mahler nicht mehr miterlebt und dürfte es auch kaum bedauert haben – denn vor der Zahl Neun hatte er im Zusammenhang mit Symphonien eine abergläubische Angst, weshalb er das „Lied von der Erde“ auch nicht mit einer Nummer versehen hat. Der Kopfsatz gilt als „bester Mahler“; das tragisch ausgehende, den grossen Krieg antizipierende Finale klingt wie der Rückblick auf eine vergangene Ära. Claudia Maurer Zenck meldet ihre Skepsis an sowohl gegenüber einer biografischen Auslegung der ganz klassisch, in vier Sätzen gebauten Neunten als auch gegenüber einer Anschauung, in Mahlers Werken seien musikalische „Vokabeln“ mit bestimmter Bedeutung zu finden und  die sprechenden Vortragsanweisungen Mahlers, besonders das häufige „ersterbend“, seien programmatisch-biografisch auszulegen.

Die eigentliche „Neunte“ Mahlers wäre die „Symphonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-)Stimme und Orchester“ mit dem poetischen Titel „Das Lied von der Erde“ gewesen. Es ist auch wieder Peter Revers, der sich mit dieser differenzierten Klangfarbenkomposition auseinandersetzt. Auf chinesische Lyrik – von Hans Bethge mehr nachempfunden als übersetzt – schrieb Mahler hier eine exotisch klingende Musik, die höchst modern wirkt und der gerade aufkommenden Zwölftontechnik den Weg bereitete. Man hört tatsächlich heraus, dass der Komponist inzwischen Entscheidendes, Lebensgefährdendes durchlitten hat. Die Klangsprache leitet über von Spätromantik zu Expressionismus. Die Zeit ist aus den Fugen, schreibt Revers, und das umso unwiderruflicher, je mehr ihr die Strenge der sie darstellenden Komposition widerspricht. Vor dem „Finale ‚Abschied‘“, einer Todesreflexion, hatte der Komponist selbst Angst und scheute eine Aufführung. „Werden sie sich nicht umbringen?“, fragte er den Dirigenten Bruno Walter. Die Uraufführung kam denn auch in diesem Fall erst nach seinem Tod zustande.

Von einer geplanten Zehnten Symphonie stellte Mahler – in der tiefen privaten Krise steckend, die er in seinem letzten Lebensjahr zu bewältigen hatte – nur das packende Adagio fertig, das den transzendenten Duktus etwa von Bruckners „Neunter Symphonie“ fortschreibt. Die Skizzen der weiteren Sätze gab die Witwe, Alma Mahler-Gropius-Werfel, erst sehr spät zum Druck heraus, denn im Autograf waren Kommentare des Komponisten zu seiner Ehekrise eingestreut. Heute existiert eine von Deryck Cooke vervollständigte Partitur aller Sätze, auf deren Grundlage auch Jörg Rothkamm seine Interpretation vornimmt. So kann er zahlreiche kompositorische Neuerungen feststellen, die Mahlers Zehnte bereits als Torso aufweisen.

Die Symphonien Mahlers setzen – wie es schon Theodor W. Adorno 1960 in seiner „musikalischen Physiognomik“ des Komponisten nachgewiesen hat – in der Hypertrophierung Wagnerscher Stilmittel, weit über Richard Strauß hinaus, die Sprünge und Brüche im Gesamtgefüge der Epoche in Klang um. Das an Dissonanzen reiche Verhältnis von Kunst und Leben galt es in Akkorden zu überführen, hierin stand Mahler in epochalem Einverständnis mit dem Erzähler Thomas Mann.

Titelbild

Bernd Sponheuer / Wolfram Steinbeck (Hg.): Mahler Handbuch. Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2010.
504 Seiten, 65,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022776

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