Wille zur Macht und zum Schein

Alexander Hoghs verständnisvolle Dissertation über "Nietzsches Lebensbegriff"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Leben" ist zweifellos ein Schlüsselbegriff in Nietzsches Werk. Doch hat er ihn in keinem Text einigermaßen systematisch expliziert. Alexander Hoghs Versuch, Nietzsches Lebensbegriff zu rekonstruieren, ist nicht der erste, und die Ergebnisse fördern nur begrenzt Neues zu Tage. Das Buch lässt sich dennoch mit einigem Gewinn lesen, weil es den Lebensbegriff in Kontexten weiterer Schlüsselbegriffe Nietzsches expliziert und damit eine kleine Einführung in zentrale Bestandteile von Nietzsches Philosophie bietet.

"Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht", lautet ein berühmter Satz aus dem "Zarathustra". Nietzsches Bild des Lebens malt dieses als unaufhörlichen Kampf widerstreitende Kräfte aus. Als "Wille zur Macht" begriffen, unterscheidet sich dieses Lebenskonzept sowohl von Schopenhauers "Willen zum Leben" als auch von Darwins "Kampf ums Dasein". Resultiert nach Schopenhauer der Lebenswille aus dem reaktiven Bedürfnis, Erfahrungen des Mangels und des Leidens zu beseitigen, so versteht Nietzsche ihn als eine "Fülle von Kraft", die sich selbst spielerisch immer neue Widerstände setzt, um sie zu überwinden. Und anders als für Darwin geht für Nietzsche der Impuls des Lebens über das Ziel der bloßen Existenzerhaltung hinaus, drängt auf souveräne, aktive Umgestaltung der Umwelt. Teil des organischen Lebens ist daher, wie Hogh hervorhebt, auch der "Geist" und sein schöpferischer "Wille zum Schein", seine konstruktive Fähigkeit zur Lüge, Verstellung, Fiktion. Auch er dient der Machterweiterung, bemächtigt sich der Wirklichkeit, indem er ihre Negativität und Komplexität reduziert. In den Worten Nietzsches: "Es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt... Wir haben Lüge nöthig, um über diese Realität, diese 'Wahrheit' zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben..."

Eingehend arbeitet Hugh das spannungsreiche Verhältnis zwischen Machtwillen und Fiktionsbildung in Nietzsches Philosophie heraus. Er tut dies freilich fast ohne jede theoretische, methodologische oder auch bewertende Distanz. Kontexte kennt diese hermeneutisch genügsame Nietzsche-Interpretation kaum. Und auch die ganze vitalistische Metaphorik, mit der Nietzsche als Schriftsteller seinen Lebensbegriff in aufschlußreicher Weise umgeben hat, ist nicht berücksichtigt. Bei allen Verdiensten des textimmanenten Verstehens bleibt diese schmale Dissertation aus der Humboldt-Universität zu Berlin in ihrem Horizont doch recht begrenzt.

Titelbild

Alexander Hogh: Nietzsches Lebensbegriff.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
250 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-10: 3476452506

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