Welche Auswirkungen hatte das Nazi-Regime auf jüdische Autoren?

Barbara Breysach und AlfredBodenheimer haben eine vielseitige Publikation über „Jüdisches Schreiben zwischen 1930 und 1950“ herausgegeben

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter der Überschrift „Europa als ersehnte Utopie, selbstverständliche Gegen wart und Bedrohung“ stellte Eva Lezzi im Oktober 2009 in „literaturkritik.de“ eine von Barbara Breysach und Caspar Battegay herausgegebene Buchpublikation der „Gesellschaft für europäisch-jüdische Literatur“ vor. Untersucht wurden in dem vorgestellten Buch jüdische Texte, die zwischen 1860 und 1930 verfasst worden waren.

Ende des vergangenen Jahres erschien in derselben Reihe ein weiterer, auf einer Tagung in Basel basierender Band, in dem Literaturwissenschaftler diesmal jüdische Texte zwischen 1930 und 1950 unter die Lupe genommen haben, Texte mithin, die unmittelbar vor, während und nach der Nazizeit entstanden sind.

Der neue Band spiegelt den Versuch, die Veränderungen der europäischen Dimension jüdischen Schreibens im Zusammenhang mit den zentralen Brüchen des 20. Jahrhunderts festzustellen, und zwar jenseits der Kategorien von Shoa-Literatur und Exil-Literatur, um das neue Verständnis von „Europäizität“ in der jüdischen Literatur zu ergründen.

Bekanntlich hatte Europa schon Jahrzehnte vorher sowohl im literarischen wie auch im politischen jüdischen Denken eine herausragende Rolle gespielt und im jüdischen Schreiben eine kulturelle Vielfalt gespiegelt. Literaturgeschichtlich betrachtet war es ein transnationaler Raum mannigfaltiger sprachlicher Optionen, bevor es nach dem Holocaust zu einem Objekt schmerzlicher Verwerfungen geworden war und sich durch die von den Nazis in Gang gesetzte systematische Verfolgung und Ermordung europäischer Juden zwischen 1930 und 1950 eine neue Art von Jüdischkeit entwickelt hatte. Vor allem durch die Flucht zahlreicher Juden aus Europa hatte sich das jüdische Schreiben verändert, so dass sich Literaturwissenschaftlern, die sich mit jüdischen Texten aus dieser Zeit befassen, die Fragen aufdrängen: Welchen Stellenwert nahm Europa nach dem Zivilisationsbruch der Shoa im Schreiben jüdischer Autoren ein? Wurde damit Europa für sie zur negativen Utopie oder verschwand es nun ganz aus der politischen Fantasie jüdischer Autorinnen und Autoren? Wird die Sprache bewusst gewechselt, oder gab es auch ein Weiterschreiben in der alten Sprache an einem anderen Ort, um an einem „Europa ohne Territorium“ fest zuhalten? Welche Nacherzählungen, Verfremdungen oder Verzerrungen erfährt ferner das zionistische Narrativ im historischen Augenblick seiner Verwirklichung unter den Vorzeichen der Katastrophe? Wie gestaltet sich Ankommen und Zurückblicken in den Vereinigten Staaten?

So viel steht fest: Äußerlich gesehen erfolgte ein Abschied von Europa, womit sich die Zentren jüdischer Literatur aus dem Deutschen, Polnischen, Jiddischen, Russischen in die hebräische Sprache (Israel) und ins Englische verlagerten (U.S.A). Überdies hatte schon Heinrich Mann (das sei nur am Rande vermerkt) 1943 für ein Kapitel in seinen autobiografischen Betrachtungen, in dem er seine Flucht von Marseille nach Lissabon schildert, die Überschrift „Abschied von Europa“ gewählt.

Für viele deutschsprachige Exilanten in den U.S.A war, wie Barbara Breysach hervorhebt, die deutsche Katastrophe Ausdruck einer europäischen Krise, der jüdischen „Europäizität“ schlechthin. Etliche Beiträge beschäftigen sich mit den literarischen Europa-Entwürfen polnisch- und russischsprachiger Juden. Leslie Morris wiederum nimmt die Spuren des Europäischen im amerikanisch-jüdischen Schreibens auf und verfolgt Spuren Europas im jüdisch-amerikanischen Schreiben von Alfred Kazin.

Aber vergegenwärtigen wir uns anhand des Buches Einstellungen einzelner Autoren einmal näher. Für Margarete Susman, die im Schweizer Exil überlebte, markierte Deutschland unmittelbar nach dem Krieg ein Tabu, durch das sich jüdisches Leben verbot. Ihre 1946 erschienene Studie ‚Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes‘ „ist ein durch die Theodizee gestütztes Bekenntnis zur jüdischen Identität und Verantwortung“.

Bei Jenny Rosenbaum (bekannt wurde sie bei uns als Jenny Aloni), der die Ausreise nach Palästina gelang, führte die Erschütterung des erzwungenen Abschieds zu einem Gefühl des Fremdseins in der neuen Heimat. Im Gegensatz zu ihrer Heldin Helga im Roman „Zypressen zerbrechen nicht“ hat sie ihren Namen nicht geändert. Hartmut Steinecke sieht in diesem nicht vollzogenen Namenswechsel ein Symptom dafür, wie schwer Jenny Rosenbaum die Loslösung von Deutschland fiel und wie schwer das Einleben in der neuen Heimat. (Den Namen Aloni erhielt sie durch ihre Heirat mit Esra Aloni, der seinen Namen Erich Eichengrün nach seiner Einwanderung hebräisiert hatte.) Schon Max Brod hatte erkannt, wie sehr die Doppelbedeutung „Abschied von Europa – Ankunft in Israel“ Jenny Alonis Werk prägt. Das zeigt jedenfalls seine Rezension ihres ersten Erzählbandes „Jenseits der Wüste“ (1963). Gab er doch seiner Besprechung die Überschrift „Der Abschied von Europa“.

Bei Joseph Roth war es fast umgekehrt, nicht er hat Abschied von Europa genommen – immerhin blieb er im Pariser Exil –, aber Europa selbst hat sich, so hat er es jedenfalls empfunden, von ihm verabschiedet. Für ihn waren die „alten Juden“ die Ahnen der europäischen Kultur. Da er den Nationalstaat ablehnte, war er auch ein entschiedener Antizionist.

Vivian Liska äußert sich über Walter Benjamins langen Abschied von Europa. Gelungen ist er ihm freilich nicht, denn 1940 nahm er sich auf der Flucht vor den Nazis an der französisch-spanischen Grenze das Leben. Der deutsch-jüdische Philosoph Karl Löwith kehrte dagegen nach Europa zurück. 1950 folgte er einem Ruf an die Universität Heidelberg. In seinen Schriften und Büchern erwies er sich als „Kritiker und Verteidiger Europas“ sowie als jüdischer Europäer in geistiger und politischer Distanz zu Deutschland. Ihm gelang es, meint Barbara Breysach in ihrer Einleitung, „Europas Untergang aus dem Geiste nihilistischer Kritik darzustellen“.

1961 veröffentlichte Hilde Spiel den Roman „Lisas Zimmer“. Dieser Roman, so Bettina Bannasch, führt drei Spielarten des Abschieds von Europa vor, den gescheiterten, den gelungenen und die gelingende Rückkehr nach Europa.

Daniel Weidner setzt sich mit Hermann Brochs Rückblick auf Europa auseinander und geht dabei auf seine „Massenwahntheorie“ und den Roman „Die Schuldlosen“ ein, wobei er die Meinung vertritt, dass Broch, der schon früh zum Katholizismus übergetreten war, kein jüdischer Autor im Sinne von Franz Kafka oder Jakob Wassermanns war. Ähnliches gilt in etwa auch für Erika Mann. Obwohl sie mütterlicherseits einer bekannten jüdischen Familie entstammte, nämlich den Pringsheims, hat sie sich nie als Jüdin verstanden. Ursula Amrein weist darauf hin, dass sie wie ihr Vater Thomas Mann den Antisemitismus als gesteigerten Ausdruck des Kampfes gegen die abendländische Zivilisation beziehungsweise als „Selbstmord unserer Zivilisation“ betrachtet habe, sich jedoch mit dem Satz:„Aber wo wir sind, da ist Deutschland, und wir sind da zuhause, wo der Schreibtisch steht.“ tröstete. Mit ihrem Vater teilte sie im Exil das Bestreben, der Auslöschung des Menschlichen entgegenzuarbeiten.

Zehn Jahre nach Adolf Hitlers Machtergreifung begann Erika Mann dann ihre Geschichte zu erzählen, ohne sie allerdings abzuschließen. Mit ihrem Bruder Klaus hatte sie sich von der Utopie Europa verabschiedet, so Ursula Amrein. Unmöglich sei es ihr gewesen, nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes noch mal neu anzufangen, stattdessen stellte sie sich ganz in den Dienst ihres Vaters, wurde seine Sekretärin und später seine Nachlassverwalterin. Sie hat dann nichts mehr veröffentlicht, aber ihre Schriften vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg seien wichtige Dokumente des Widerstands und widerlegten die Erinnerungspolitik des Nicht-Wissen-Könnens. „Als Jüdin verfolgt, dokumentiert sie den Vernichtungswillen Hitlers und entwarf in Abgrenzung davon ein Bild Europas, das für die Utopie des anderen und besseren Deutschland einsteht.“

So viel an Kostproben aus der vielseitigen Studie über jüdisches Schreiben, die allerdings nur literaturwissenschaftlich versierte und für differenzierte Betrachtungen aufgeschlossene Leser ansprechen dürfte.

Titelbild

Alfred Bodenheimer / Barbara Breysach (Hg.): Abschied von Europa. Jüdisches Schreiben zwischen 1930 und 1950.
edition text & kritik, München 2010.
235 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869160993

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