Neue Wege der editorischen Arbeit

Zehn Jahre Editionsprojekt Karl Gutzkow

Von Gert VonhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gert Vonhoff

Warum Gutzkow lesen?

Karl Gutzkow – Autor der „Wally“: als solcher ist jener Schriftsteller, der von 1829 bis 1878 das öffentliche Leben Deutschlands schreibend wie kommentierend mitbestimmt hat, heute noch häufig in Erinnerung. Für das Verbot des Jungen Deutschland hatte der Roman aus dem Jahr 1835 den Vorwand geboten; „Wally, die Zweiflerin“ hat seither auf eine eigentümliche, mehr die Umstände der ersten Veröffentlichung als die Werkstruktur und ihre Bedeutung berücksichtigende Art (Literatur-)Geschichte geschrieben. Die oft gestellte Frage, ob es sich überhaupt lohne, Gutzkow zu lesen, lässt sich indes wohl am besten mit der Gegenfrage beantworten, wie genau man denn das 19. Jahrhundert zu kennen wünsche. Denn wer sich mit Dokumenten und Texten aus den Jahrzehnten von 1830 bis 1880 auseinandersetzt, stößt immer wieder auf den Namen Gutzkow. Eine Beschäftigung mit diesem Autor und seinen Texten scheint darum notwendig, ist aber häufig genug mühsam: weil die zeitgenössischen Ausgaben heute oft nicht mehr die Lesesäle der großen Bibliotheken verlassen dürfen und die späteren Auswahlausgaben nicht die Texte der Erstdrucke enthalten, sondern Fassungen bieten, die in vielen Fällen stark gekürzt sind. Dies hat Google Books in den allerletzten Jahren zwar prinzipiell verändert, aber auch hier erscheinen die Texte nicht textkritisch bearbeitet, und – was vermutlich noch wichtiger ist – ohne jede weitere Erläuterung. Will man Gutzkows Beitrag zur Literatur, zum Journalismus, zum Buchmarkt und zur Kultur insgesamt verstehen, bedarf man einer fachgerechten Orientierung. Darum bietet die „Kommentierte digitale Gesamtausgabe“ von „Gutzkows Werken und Briefen“ neben den textkritisch erarbeiteten Texten der Erstdrucke auch Kommentierungen unterschiedlichster Art.

Gutzkow war nicht nur über einen ebenso langen Zeitraum wie Theodor Fontane oder Wilhelm Raabe produktiv; seine Texte erhellen zugleich jene früheren Entwicklungen, die wie keine anderen den Übergang von der feudalen Ordnung zur bürgerlichen Klassengesellschaft markieren. Die Debatten um Liberalismus und Nationalismus, vor allem die rapide voranschreitende Industrielle Revolution und die damit aufkommende soziale Frage verlangten Antworten und Standortbestimmungen. Diese versuchte Gutzkow zeitlebens im Spannungsfeld zwischen deutschem Idealismus und europäischem Materialismus zu geben: in Romanen, Novellen und vielen neuartigen Versuchen literarischer Prosa, die oft genug an Entwicklungen in England oder Frankreich orientiert waren; in Dramen, in autobiografischen Schriften und Reiseliteratur, vor allem aber in journalistischen und essayistischen Texten – all dies gilt es als vielfach verloren gegangene Fährten ins 19. Jahrhundert neu zu entdecken. Nicht nur im Hinblick auf Inhalt und Form, sondern auch bezogen auf ihre Publikationsweise lohnt sich eine Auseinandersetzung mit Gutzkows Texten; gerade gegenüber medialen Neuerungen war der Autor stets aufgeschlossen. So enthalten die Zeitschriften, die er in 1830er-Jahren herausgab, mancherlei für den deutschen Sprachraum neuartige Textsorten; mit der ersten deutschen Familienzeitschrift, „Unterhaltungen am häuslichen Herd“, versuchte Gutzkow später unter den Bedingungen des Nachmärz, so gut es eben ging, liberale Energien zu erhalten und in ein ‚(Volks ) Bildungsprogramm‘ modernen Zuschnitts einzubringen.

Die rasante Entwicklung, die der Buchmarkt in jenen Jahrzehnten durchmachte – für den, der vom Verkauf seiner Schriften leben musste, war sie die nicht zu umgehende Voraussetzung seiner Existenz. Auch dies sollte man bedenken, wenn man allzu leichtfertig vom ‚Vielschreiber‘ Gutzkow spricht, seinen Texten vorschnell mangelnde Qualität attestiert oder sich darüber mokiert, dass der Autor bereits Veröffentlichtes immer wieder umarbeitete und in neuen (Werk-)Zusammenhängen noch einmal verwertete. Berufsschriftsteller im 19. Jahrhundert zu sein bedeutete etwas durchaus anderes als eine Schriftstellerexistenz noch zu Zeiten der Klassik oder der Romantik; der Markt gab nun in vielerlei Hinsicht Tempo und Inhalt der Arbeit vor. Für Heinrich Heine beispielsweise hat man sich längst daran gewöhnt, dies als eine Voraussetzung seines Werkes anzusehen. Es ist an der Zeit, auch Gutzkows Schreiben in diesem Produktionskontext zu begreifen. Viele heute meist unbekannte Texte des Autors veranschaulichen, worum es beim Schreiben, Verlegen und Verkaufen von Büchern und Artikeln damals ging. Stichworte sind hier der Eisenbahnbuchhandel, die Pfennigmagazine, die literarische Industrie oder der Preiskampf auf einem Markt, auf den eine ganze Reihe neuer Verleger mit innovativen Strategien drängte. Gutzkows Texte sind Ausdrucksformen dieses sich ausbildenden kulturellen Marktes, nicht nur, wo sie wie bei seinem Roman „Die Ritter vom Geiste“ die Möglichkeiten des feuilletonistischen Fortsetzungsromans ausschöpfen.

Die Vielschichtigkeit und innere Widersprüchlichkeit von Gutzkows an der Schwelle zur Moderne entstehendem Œuvre zu veranschaulichen, dazu bedarf es der Texte, die wieder zugänglich gemacht werden müssen. ‚Zugänglich machen‘ bedeutet in besonderem Maße, eine historische Einordnung und detaillierte Kommentierung der Texte zu leisten, damit die Vorurteile der älteren Forschung, die an dem orientiert war, was sich kulturpolitisch (auch unter nationalen Vorzeichen) durchsetzte, überwunden werden. Die weißen Flecken auf der bewusstseins- und kulturgeschichtlichen Landkarte der Jahrzehnte von 1830 bis 1880 gilt es zu beseitigen. Mit seinen vielfältigen und intensiven Kontakten, mit seiner häufig scharfen Kritik stand Gutzkow im Kreuzfeuer der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Deren Netzwerke zu rekonstruieren ist eine der vordringlichen Aufgaben der Forschung gerade zur Jahrhundertmitte, wie die jüngeren Diskussionen um die Revolution von 1848/49, um Vor- und Nachmärz oder auch um die Herausbildung und Konsolidierung des Bürgerlichen Realismus gezeigt haben.

Die Kommentierte digitale Ausgabe der Werke und Briefe Gutzkows versucht diesen vielfältigen Ansprüchen gerecht zu werden, indem sie editorische und kulturgeschichtliche Akribie mit modernen Erfassungs- sowie Präsentationsweisen verbindet und damit zu einer wirklichen Edition ‚in progress‘ werden kann. Verfügbarkeit des bislang Erforschten bei gleichzeitigem Voranschreiten der Erarbeitung – auf diese Formel lässt sich das in mehr als einer Hinsicht innovative Editionsunternehmen bringen, das nun in das zehnte Jahr seit dem Erscheinen des Eröffnungsbandes geht. Neuartig ist dabei auch, dass die am Projekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Benutzer der Edition um Unterstützung bitten, so wie sie ihrerseits Hilfe und Informationen über das enge Feld ‚Gutzkow‘ hinaus anbieten.

Eine Edition ‚in progress‘

Das Keeler Symposion von 1997 gab den Anstoß zur Gründung einer internationalen Arbeitsgruppe, die sich mit der Möglichkeit und den Methoden einer modernen kommentierten Gesamtausgabe beschäftigte. Kontinuierlich durchgeführte Treffen (in Darmstadt, Wittenberg und Berlin) zeigten immer deutlicher, dass ein derartiges Editionsunternehmen zwar eine (nicht nur in editorischer Hinsicht) große Herausforderung darstellt, sich aber unter Zuhilfenahme von Mitteln der digitalen Edition sinnvoll realisieren lässt. Und so konnte das Editionsprojekt Karl Gutzkow im Rahmen der von Forum Vormärz Forschung organisierten Berliner Konferenz „Gutzkow lesen!“ sein Vorhaben im September 2000 erstmals öffentlich vorstellen. Kurz darauf wurde eine Arbeitsoberfläche der digitalen Ausgabe im Internet verfügbar gemacht.

Grundidee der entstehenden Gutzkow-Ausgabe ist, eine dem neuesten Stand der Editionsphilologie entsprechende Gesamtausgabe der Werke und Briefe nach und nach zu verwirklichen. Dabei werden alle Texte und Kommentare sukzessive im Internet auf einer von der University of Exeter gepflegten Homepage veröffentlicht und stehen damit für die weitere Erarbeitung der Kommentare schon früh zur Verfügung. Eine im Fußbereich der Seiten/Dateien jeweils genannte Fassungsnummer sichert die Zitierbarkeit jeder Entstehungsstufe, wobei alle veröffentlichten Entwicklungsstadien archiviert und auf Rückfrage wieder zur Verfügung gestellt werden.

Daneben sind die Werke, wo dies zu finanzieren war, in Buchform erschienen. Das Editionsprojekt hat mit dem Oktober Verlag, Münster, eine entsprechende Rahmenvereinbarung über die Herstellung hochwertiger traditioneller Druckbände getroffen. In den ersten Jahren haben Zuschüsse der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“ und der „Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld“ den Druck von Bänden ermöglicht. Langfristig ist dieser Zweig der Ausgabe aber davon abhängig, dass sich genügend Subskribenten finden, die den Druckbänden eine Planungssicherheit bieten. Die Anstrengungen des Editionsprojektes und des Verlages, Subskribenten einzuwerben, sind in den letzten Jahren ein gutes Stück voran gekommen, aber es fehlen noch etwa hundert Subskriptionen, um den Druckzweig der Ausgabe langfristig abzusichern. Das Jubiläumsjahr wird hier hoffentlich helfen, unserem Ziel näherzukommen.

Die so entstehende ‚Hybrid‘-Ausgabe verbindet die Vorteile der traditionellen Buchherstellung mit denen der neuen Medien. Eine ‚entspannte‘ Lektüre fernab vom Computer wird damit genauso möglich wie das Surfen in den großen Datenbeständen. Und wer mit dem Internet nicht zufrieden ist, kann die Daten auch in jährlichen Updates auf CD-ROM über den Oktober Verlag beziehen. Zudem eröffnen die pdf-Dateien Möglichkeiten, Texte und Kommentare auch mit E-Book Readern zu lesen.

Wichtig ist, dass aufgrund der neuen digitalen Präsentationsmöglichkeiten die Edition schon frühzeitig verfügbar wird. Die Veröffentlichung eines Textes kann bereits beginnen, bevor sämtliche Arbeiten abgeschlossen sind. Und auch die Kommentarteile lassen sich lange, bevor ihre Erarbeitung beendet ist, schon ins WorldWideWeb einstellen. Es entsteht im Gegensatz zu einer traditionellen Werkausgabe also eine wirkliche Edition ‚in progress‘, in die sich Änderungen und Korrekturen laufend einarbeiten lassen. Bei der Menge an Daten, die für die Edition der Werke und Briefe Gutzkows von Grund auf ermittelt oder genauer erforscht und miteinander verzahnt werden müssen, wäre eine andere Erarbeitungs- und Publikationsform geradezu unmöglich.

Die Möglichkeiten der Ergänzung und Modifikation, wie sie eine digitale Edition kennzeichnen, stellen sich in der Struktur der Gutzkow-Ausgabe besonders dort dar, wo die Rubrik ‚Fragen und Probleme‘ den Benutzern die Möglichkeit zur Rückmeldung oder gar Mitarbeit bietet. Und auch in den Kommentaren sind problematische oder offene Stellen markiert. Statt wie bislang in Editionen offen gebliebene Fragen eher zu kaschieren und problematische Stellen geschickt zu umschreiben, macht es sich die Gutzkow-Ausgabe gerade zum Ziel, auf Desiderate und Lücken der Forschung hinzuweisen – in der Hoffnung, hier durch Meldungen der Leser weiter voranzukommen. Wo immer die digitale Ausgabe auf Interaktivität und auf Zuwachs ausgerichtet ist, hat sie bisher nicht vorhandene editorische Möglichkeiten erschlossen, und dies zum Teil mit erheblichem Gewinn für die Ausgabe.

Die neuen Wege in der Erarbeitung, Speicherung und Bereitstellung werden mit Editionsverfahren beschritten, die sich am fortgeschrittenen theoretischen und praktischen Stand der traditionellen Editionsphilologie orientieren. Ziel ist es, ein wissenschaftlich zuverlässiges Instrument zu schaffen, das nicht wie viele ältere Projekte im Bereich elektronischer Textdarbietung der Faszination und vermeintlichen Schnelligkeit der neuen Medien auf Kosten der Wissenschaftlichkeit erliegt. Dabei wird durchgängig darauf geachtet, zugleich eine benutzerfreundliche Arbeitsumgebung zur Verfügung zu stellen, die in ihrer Übersichtlichkeit wie individuellen Anpassungsmöglichkeit neue Maßstäbe zu setzen bemüht ist.

Schwerpunkte: Erstdrucke und Kommentierung

Das Editionsprojekt gibt Gutzkows Werke auf der Basis der Erstdrucke heraus. Der Text des Erstdrucks wird dabei einer philologisch-historischen Textkritik unterzogen, die im Wesentlichen daran arbeitet, auf der Basis des historischen Sprachstandes Druckfehler ausfindig zu machen und zu korrigieren. Der Erstdruck markiert den Schnittpunkt von Produktion und Rezeption und begründet damit den Werkcharakter des jeweiligen Textes. Vom Moment seines ersten Erscheinens an wird ein Text zum Diskursgegenstand. Eine Ausgabe, die sich auf die Erarbeitung und Darstellung der kontextuellen Bezüge konzentriert, findet im Rückgriff auf den Erstdruck noch in besonderer Weise ihre Legitimation.

Was dann der Textkonstitution jeweils als Erstdruck zugrunde gelegt wird, richtet sich auch nach den Textsorten. So werden Romane und Dramen in der Regel auf der Basis des Bucherstdrucks ediert. Kleinere zeitgeschichtliche oder kritische Artikel und Erzählungen dagegen werden nach dem Zeitschriftenerstdruck herausgegeben, wenn ihr Bucherstdruck in Miszellenbänden erst sehr viel später und in überarbeiteter Form erfolgte. In die von Gutzkow selbst veranstalteten Mischbände sind gerade derartige kleinere Werke oftmals als Teil einer neuen Gesamtkonzeption aufgenommen. In diesen Fällen bedarf es neben der Herausgabe des Zeitschriftenerstdrucks der Edition der Sammlung, da sie ihrerseits einen eigenständigen Diskursgegenstand darstellt. Generell gilt, dass es bei erheblichen Unterschieden zwischen Zeitschriften- und Bucherstdruck, aber auch bei größerer Varianz zu späteren Fassungen den Herausgebern freigestellt ist, diese Fassungen wiederum als eigenständige Texte zu edieren. Nicht die Druckbände, aber das Internet bietet dazu die editorischen Möglichkeiten.

Die Ausgabe konzentriert sich auf die Erstellung von lesbaren Fassungen, und das bedeutet auch, dass sie umfangreiche Variantenlisten und komplexe Variantenapparate vermeidet. Deshalb ist eine (auswählende) Verzeichnung und zusammenfassende Darstellung von Varianten vor allem dort zu finden, wo eine Varianz aussagekräftig ist. Eine stark abweichende spätere Fassung wird – falls arbeitstechnisch möglich – als eigenständiger Text zu einem späteren Zeitpunkt vorgelegt. Das Bereitstellen einer derartigen Fassung hat innerhalb der Gutzkow-Ausgabe gegenüber der Variantenverzeichnung unbedingten Vorrang.

Offensichtliche Druckfehler werden korrigiert. Alle Texteingriffe sind im Kommentar verzeichnet. In die konstituierten Texte eingefügt sind die Seitenzählung und etwaige lebende Kolumnentitel der Drucke, die als Vorlage dienten.

Es klang bereits an, ihren Schwerpunkt legt die digitale Ausgabe von „Gutzkows Werken und Briefen“ auf die Kommentierung der Texte. Sie greift dazu auf bewährte neue Konzepte der Kommentierung wie die Verzahnung von Global- und Einzelstellenkommentar zurück. Zugleich entstehen dadurch neue Möglichkeiten der Nutzung. Wer sich nicht durch viele Seiten Einzelstellenerläuterungen hindurcharbeiten will, findet im Globalkommentar eine überblicksartige Darstellung, die den Zugang zum Werk erleichtert. Und für Benutzer, die den schnellen Zugriff suchen, werden so vorab Fragen aufgeworfen, die im Einzelstellenkommentar vertieft oder beantwortet werden. Die digitale Gutzkow-Ausgabe geht hier noch einen Schritt weiter als die „Bibliothek deutscher Klassiker“, indem sie eine Auflistung von ‚Quellen, Folien und Anspielungshorizonten‘ und ein ‚Gutzkow-Lexikon‘ als zusätzliche Ebenen des Kommentars bereitstellt.

Das Gutzkow-Lexikon stellt dabei die allgemeinste Kommentarebene dar; es enthält autorbezogene zusammenfassende Artikel, welche die anderen Kommentarteile entlasten und zugleich überblickshafte Informationen zu bestimmten Sachkomplexen oder über Gutzkows Beziehung zu anderen Autoren geben.

Die listenartige Benennung der Quellen, Folien und Anspielungshorizonte jedes Werkes schafft eine besonders effiziente (erste) Orientierungsmöglichkeit für Leser, die den kontextuellen Bezug betrachten möchten, ohne schon Details mitgeteilt zu bekommen. Das kann die Literaturbeschaffung ebenso erleichtern, wie es die Lektüre eines Textes geschichtlich zu konturieren vermag.

Der Globalkommentar zu dem einzelnen Werk erklärt dann, welcher Art diese Bezüge zu den historischen und zeitgenössischen Kontexten sind und wie sie zur Bedeutung des Werkes beitragen. Kommentierungen auf dieser Stufe sind immer interpretatorisch, bereiten also eine Interpretation vor, ohne selbst schon Interpretation sein zu wollen. Erfasst werden hier neben literarhistorischen und gesellschafts- sowie kulturgeschichtlichen Bezügen auch die Stellung des jeweiligen Textes innerhalb des Gesamtwerkes von Gutzkow, seine Bewertung durch Kritiker und allgemeinere Deutungsaspekte (etwa Beobachtungen zur Struktur).

In den Einzelstellenerläuterungen wird schließlich die historische Kommentierung auf das bestimmte Lemma hin konkretisiert. Dies ist zugleich die isolierteste wie auch die präziseste Stufe der Texterarbeitung. Querverweise von hier auf die anderen Kommentierungsebenen ermöglichen es dem Benutzer, sich von konkreten Einzelstellen aus, die bei der Lektüre aufgefallen sind, allgemeinere Zusammenhänge zu erschließen.

Unterschiedlichen Informationsbedürfnissen und verschiedenartigen Benutzerprofilen wird so schon durch die Struktur des Apparates Rechnung getragen; die Ausgabe wird zudem durch ihre allgemeineren Kommentarteile auch für diejenigen interessant, die sich über Literatur und Kultur im 19. Jahrhundert generell informieren wollen.

An Apparaten liegt so inzwischen eine ausreichende Auswahl vor, die über das, was 2001 im Eröffnungsband vorgestellt werden konnte, eine Vorstellung von dem erweckt, was in diesem Bereich zu erwarten ist. Kurt Jauslin hat mit seinen umfangreichen Arbeiten zur Entstehung, Rezeption und zum Globalkommentar der „Neuen Serapionsbrüder“ dezidiert vorgeführt, wie die präzise historische Forschung zu einem eher weniger beachteten Roman einen substantiellen Beitrag zum Wissen über die Gründerzeit liefern kann. Seine in Arbeit befindlichen Einzelstellenkommentare versprechen hier weitere spannende Details, die das Lesen der Apparate zu einem ebenso großen Lesevergnügen werden lassen, wie es die literarischen Texte sind. Ähnliches zeichnet sich in den Einzelstellenerläuterungen zu den „Briefen eines Narren an eine Närrin“, Gutzkows frühester Buchveröffentlichung, ab. Hier gelingt es Rik Kavanagh, eine Unzahl dunkler Stellen in diesem anspielungsreichen Text aufzuhellen und damit ein Geflecht von Verweisungen und Kommentaren zu entwirren, das nicht nur zeigt, wie viel Gutzkow gelesen und verarbeitet hat, sondern auch wie er dies kritisch zum Ideenschmuggel unter den Bedingungen der Oppressionen gegen die revolutionären Kräfte nach 1830 nutzt. Martina Lauster schließlich demonstriert mit ihrer Arbeit am Kommentar zu den „Zeitgenossen“, wie Gutzkows Schreibweise nicht nur deutsche Literatur, sondern alle Bereiche der europäischen Kultur zur Kenntnis nimmt und in einer Frühform soziologischer Arbeitsweise verarbeitet – als Teil eines Bildungsverständnisses, mit dem Gutzkow hofft, auch unter deutschen Verhältnissen Fortschritt erzielen zu können.

Im Laufe der Arbeiten an Texten und Kommentaren hat sich ergeben, dass das Editionsprojekt in zwei weiteren Bereichen, der Sammlung von Dokumenten zur Entstehungs- und zur Rezeptionsgeschichte wesentlich weiter gelangen kann, als wir ursprünglich gehofft hatten. Konkrete Arbeiten verschiedener Mitarbeiter (vor allen Dingen von Wolfgang Rasch, David Horrocks und Martina Lauster) am Nachlass Karl Gutzkow, der in der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main aufbewahrt wird, haben nicht nur eine Menge Materialien zutage befördert, sondern auch dazu geführt, dass Sortierungs- und Restaurationsmaßnahmen von Seiten der Bibliothek in Angriff genommen werden konnten, um die dort gelagerten Materialien langfristig zu erhalten. Auf diese Weise sind im Laufe der letzten 10 Jahre noch einige weitere unerwartete Entwicklungen eingetreten, die ich abschließend kurz skizzieren möchte. Wir denken, dies sind gute Beispiele dafür, wie ‚ansteckend‘ hochmotivierte Arbeit sein kann.

Projekte im Projekt – überraschende Dynamik

Das ‚Editionsprojekt Karl Gutzkow‘ ist an keine literarische Gesellschaft und keine universitäre Institution gebunden und verfügt über keine bezahlten festen Mitarbeiter. Getragen wird es vom Einsatz seiner Mitglieder. Es ist sozusagen in vielerlei Hinsicht eine ‚Low-cost-Unternehmung‘. Wir sind darum der University of Exeter dafür dankbar, dass sie seit 2001 nicht nur Serverplatz, sondern auch die notwendige Infrastruktur (Büro, Netzzugang) zur Verfügung gestellt hat. Unsere ‚Low Budget‘-Arbeitsweise führt immer wieder einmal zu leichten Verzögerungen bei den geplanten und angekündigten Buchveröffentlichungen, aber sie hat sich, was die Kontinuität der Arbeit und die Freude an ihr betrifft, in den nun mehr als zehn Jahren des Projektbestehens mehr als bewährt.

In der Aufbauphase hat die MHRA das Editionsprojekt 2002-2003 für ein Jahr zusammen mit der University of Exeter in besonderer Weise unterstützt, insofern eine Mitarbeiterstelle finanziert werden konnte, auf der Catherine Minter ein Jahr in Exeter für das Projekt arbeiten konnte.Das Jahr 2002 sah noch eine weitere unerwartete Neuerung. Ein an der Universität Halle durchgeführtes Projekt brachte zwei Examensarbeiten hervor, deren praktische Komponente ein neues Layout und eine professionellere Benutzeroberfläche für die Internetausgabe bedeuteten. Judith Näther und Juliane Schaefer stellten uns nicht nur ihre Expertise, sondern auch eine Menge zusätzlicher Zeit zur Verfügung und konnten im Gegenzug wertvolle Erfahrungen an einem konkreten Projekt gewinnen und ihrem Portfolio eine Website zufügen, die sich, wie wir finden, auch Jahre später im Vergleich mit anderen Editionsprojekten noch durch ihre klare Linienführung, ihr ansprechendes Layout und ihre Funktionalität überzeugt. Für das Jubiläumsjahr 2011 sind so nur geringe Änderungen an der Präsentationsoberfläche geplant, die diesmal von der University of Exeter unterstützt werden.

Die unermüdliche Arbeit von Susanne Schütz und Thomas Bremer in Halle hat noch ein weiteres ‚Projekt im Projekt‘ ergeben. Zusammen mit einer ganzen Reihe von Mitarbeiterinnen, die während oder nach ihrem Studium für die Edition von Dramentexten interessiert werden konnten, hat Susanne Schütz Jörg Ritter und einige seiner Informatikstudenten an der Luther-Universität Halle-Wittenberg für die Arbeit am Projekt interessieren können. So haben zahlreiche Seminare in Halle stattgefunden, die Leute an die editorische Arbeit mit Texten herangeführt haben, die anderweitig nie einen Einblick in diesen Bereich erhalten hätten. Darüber hinaus ist aber auch Forschungsarbeit vorangetrieben worden, die zur Entwicklung und zum Einsatz eines TEI-konformen Editors für die Edition der Dramen Gutzkows geführt hat. Jörg Ritter und Susanne Schütz sind auf zahlreichen Tagungen im Bereich der XML-Kodierung eingeladen gewesen und haben ihr Produkt dort vorstellen können sowie ihre Forschungsergebnisse in entsprechenden Fachorganen veröffentlicht. Die Beispiele aus Halle demonstrieren eindrucksvoll, wie Arbeit, Ausbildung und Forschung zusammenspielen und unerwartete Ergebnisse hervorbringen können. Dass das Editionsprojekt auf diese Weise zurückwirken und gleichzeitig profitieren könnte, hat bei seinem Start niemand voraussehen können. Wir sind Susanne Schütz, Jörg Ritter und allen weiteren Mitarbeiterinnen in Halle zu großem Dank verpflichtet.

Auf eine ähnliche Art und Weise hat Wolfgang Lukas durch seine Arbeit für das Editionsprojekt an der Universität Wuppertal Studierende motiviert, Kontakte zu noch lebenden Nachfahren Gutzkows herzustellen. Lukas Werners und Kerstin Meixners hartnäckiges Nachforschen (insbesondere im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf, das einen Teilnachlass von Gutzkow aufbewahrt) hat direkte Nachfahren des Dichters ausfindig gemacht: Christiane Rooseboom-Osanna in Den Haag und Selma Urfer-Graf in München; die beiden Halbschwestern sind Urenkelinnen Gutzkows. Wolfgang Lukas arbeitet zudem (in Zusammenarbeit mit Wolfgang Rasch) an Planungen für die Edition der Briefe Karl Gutzkows.

Unter der Schirmherrschaft von Christine Haug hat das Institut für Buchwissenschaft an der Universität München schließlich das ‚Gutzkow Lexikon‘ als Sammelstelle für Daten innerhalb des Projektes übernommen. Franziska Mayer und Johannes Frimmel sind hier unsere Ansprechpartner geworden.

Für das Jubiläumsjahr 2011 sind aus den Reihen der Mitarbeiter am Editionsprojekt schließlich zwei internationale Tagungen organisiert worden. Die eine hat im September 2010 in Exeter stattgefunden und sich mit Gutzkow und seinen Zeitgenossen auseinandergesetzt. Die andere Tagung findet in diesem Monat, zum eigentlichen 200. Jubiläum des Geburtstages von Karl Gutzkow am 18. März, an der Universität Mainz statt und ist von Ute Schneider und Wolfgang Lukas vorbereitet worden. Ihr Thema ist das Zusammenwirken von Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit. Beide Tagungen haben Förderung durch verschiedenste Organisationen erhalten. Der Tagungsband zur Exeter-Konferenz wird in diesen Tagen vom Forum Vormärz Forschung und dem Aisthesis Verlag in der gemeinsamen Publikationsreihe „Vormärz-Studien“ der Öffentlichkeit zugängig gemacht.

Einige Stationen der Arbeit an der Gutzkow Ausgabe sind hier skizziert worden, doch ist diese Darstellung keineswegs erschöpfend. Für eine detailliertere Übersicht sei auf die „News“ Sektion innerhalb der Gutzkow Website verwiesen (www.gutzkow.de, Auswahl „Editionsprojekt“, Auswahl „News“).

Was in den vergangenen zehn Jahren gelungen ist, gibt dem Editionsprojekt Karl Gutzkow begründete Hoffnung auf die Weiterführung seiner Arbeiten. Die Beteiligten wissen, dass noch eine gewaltige Menge an Arbeit vor ihnen liegt, die Jahrzehnte brauchen wird, bevor sie abgeschlossen werden kann. Die dezentralen und ‚Low Budget’-Arbeitsformen, die das Projekt in den letzten Jahren entwickelt hat, werden helfen, die Edition nicht von einer Institution oder einer Fördererorganisation abhängig zu machen. Um den Druckzweig der Ausgabe langfristig zu sichern, freut sich das Editionsprojekt natürlich über jede neue Subskription, die dem Oktober Verlag Münster helfen wird, auch zukünftig hochwertige Bände zu einem relativ geringen Preis anbieten zu können. Weitergehende Informationen über die lieferbaren Bände und ein spezielles Subskriptionsangebot sind auf der Website des Oktober Verlags (www.oktoberverlag.de, Auswahl „Gutzkow“) zu finden.

Bisher im Druck erschienen sind die folgenden Bände von „Gutzkow Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe“:

Eröffnungsband. Münster 2001.

Die neuen Serapionsbrüder. Münster 2002.

Briefe eines Narren an eine Närrin. Münster 2004.

Börne’s Leben. Münster 2005.

Rückblicke auf mein Leben. Münster 2006.

Der Zauberer von Rom. Münster 2007.

Dramatische Werke, Bd. 1: Marino Falieri. Hamlet in Wittenberg. Nero. König Saul. Münster 2009.

Dramatische Werke, Bd. 2: Richard Savage. Werner. Gräfin Esther. Patkul. Münster 2009.

Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Münster 2010.