„ … nennt mich Tom“

Die Titelheldin in Thomas Glavinics neuem Roman „Lisa“ ist eine vagabundierende DNA-Spur

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Lisa“ existiert nicht. Was von Weitem aussieht wie ein Frauenroman – oder wenigstens ein Roman mit einer weiblichen Hauptfigur – erweist sich als Täuschung, sobald man die erste Seite des neuen Buches von Thomas Glavinic aufgeschlagen hat. Denn „Lisa“ ist der Name für ein Phänomen. Glavinics Ich-Erzähler – der eigentlich auch kein traditioneller Erzähler ist, sondern als Moderator eines Livestream-Programms im Netz daherkommt – und sein Polizistenfreund Hilgert haben ihn sich ausgedacht. Um eine Täterin benennen zu können, die weltweit in die brutalsten Verbrechen verwickelt scheint.

Zumindest taucht „Lisas“ genetischer Fingerabdruck an Dutzenden von Tatorten auf. Zwei entsetzlich zugerichtete jugendliche Tote in einer deutschen Baugrube? „Lisa“ war da. Ein verstümmelter Mann in Nigeria? „Lisas“ DNA findet sich unweit davon. Ein Mitglied der kasachischen Fußball-Jugendnationalmannschaft in einem riesigen Kessel gekocht? „Lisa“ hat ihm das muskellähmende Mittel gespritzt, damit er nicht in letzter Minute aus dem Topf springen konnte. Harmlose Spaziergänger, denen man ihre Tattoos herausgeschnitten hat? „Lisa“, keine Frage – „zweimal in Innsbruck, einmal in Magdeburg, einmal in Kiel. Immerhin ist keiner gestorben.“ In jedem Fall scheint klar, wer „Lisa“ begleitet und assistiert hat – mal waren es Albaner, mal Rumänen, mal Russen, mal zwei Frauen aus Burkina Faso. Nur „Lisa“ selbst ist unidentifizierbar.

Glavinics Roman liest sich streckenweise wie die Titelseite der „Bild“-Zeitung. Oder die der „Krone“. Oder die des „Blick“. MANN BRÄT UND VERZEHRT EIGENEN FUSS – DREI LEHRER IN KISTE GEZWÄNGT UND VERGRABEN – KATHOLISCHE JUNGSCHARGRUPPE AUS POLEN: HINGEMETZELT IN GRIECHENLAND – FRAU MIT EIGENER HAARPRACHT ERDROSSELT – OBDACHLOSEM GENUESER DIE NIEREN HERAUSGESCHNITTEN. Da kann einem schon schlecht werden – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn einmal dienen diese Übertreibungen dazu, mit allen Mitteln Auflage zu machen. Andererseits erdrücken die Balkenüberschriften sämtliche Reste des Seriösen. Aber gibt es überhaupt noch Seriöses in der Welt des sich „Tom“ nennenden Internetschwaflers? Sind dessen „Originalbeiträge“, wenn er in acht Kapiteln „auf Sendung geht“, angefeuert von Alkohol und jeder Menge Kokain, nicht genauso tendenziell wie die erfundenen Horrorgeschichten zum Frühstück?

Auf jeden Fall befindet sich Glavinics Protagonist auf der Flucht. Denn nach einem Einbruch in seine Wohnung ist „Lisas“ DNA gefunden worden. Da hat er die Taschen gepackt, seinen achtjährigen Sohn Alexander an die Hand genommen und sich in Panik davongemacht. Ein paar hundert Kilometer weit weg, in die Berge, wo er sich in einem einsamen Ferienhaus versteckt. Ohne uns, den Lesern, seinen wahren Namen zu verraten oder den genauen Ort, an dem er sich jeden Tag per Mikrofon, Laptop und Internetanschluss an eine anonyme Hörergemeinde wendet. Wir wissen nur, dass er Spieletester ist und eine Trennung hinter sich hat.

„Das bin doch ich“ (2007) hieß der Roman, mit dem der 39-jährige Österreicher bisher am nachdrücklichsten auf sich aufmerksam machte. Darin ging es um eine Figur namens Thomas Glavinic und die war das meisterhaft angelegte Double ihres Verfassers selbst, ausgesetzt den Tücken des Literaturbetriebs und den Begehrlichkeiten des eigenen Ego in diesem Karussell voll oberflächlicher Geschwätzigkeit, in dem immer die anderen auf den hohen Rössern zu sitzen scheinen. Die Kritik begrüßte das Buch als heiteres Vexier- und Satyrspiel und merkte an, das nicht auf Anhieb sich erschließende „ernste“ Thema des Romans sei die existentielle Unbehaustheit seiner Hauptfigur, das Leben mit Dämonen, welches sie führe. Dies, so scheint es, erfährt in „Lisa“ nun seine Fortsetzung. Denn „Tom“ ist ja die Abkürzung von Thomas (Glavinic?).

Und der legt via Netz los, was das Zeug hält, und gibt sich zu erkennen als „ein Leidender am Gesamtzustand der individuellen Unerträglichkeit“. Es geht um Schulamokläufe, Kirche und Religion und immer wieder Jörg Haider und die FPÖ. Fernsehkochshows bekommen ihr Fett genauso weg wie Peter Handkes „Gerechtigkeit für Serbien“. Der Leser/ Hörer ist live dabei beim Ablästern über Performancekunst, Vegetarismus und Journalisten, die diesen Namen längst nicht mehr verdienen. Modernitätsverweigerer und Esoteriker jeglicher Couleur werden an den gleichen Pranger gestellt – und „Weinführerhilfsredakteurgespräche“, wie sie die modernen Büros heutzutage zu unerträglichen Aufenthaltsorten machen, fallen der Verachtung anheim: „Ich muss überhaupt einmal sagen, dass mir diese ganze Weinscheiße ungeheuer auf den Keks geht.“

So weit, so gut, so kulturkritisch. Allein: Trägt dieses Sammelsurium einen ganzen Roman? Zu Thomas Bernhards Zeiten, der dieser Tage 80 Jahre alt geworden wäre, hat es das noch locker getan. Glavinic hat den Meister offensichtlich gelesen – will aber mehr, oder zumindest anderes als der. Und ein bestimmtes, fest stehendes Zentrum wie der berühmte Ohrensessel bei den Auersbergers in der Gentzgasse oder die Sitzbank im Bordone-Saal des Wiener Kunsthistorischen Museums, von wo aus Bernhards Figuren einst ihre Suaden loslassen konnten, besitzt „Tom“ auch nicht mehr. Der Mann lebt sozusagen im Exil. Die Verbindungen zu seiner gewohnten Lebensumgebung sind gerissen oder gerade dabei zu reißen. Und die Technik, derer er sich bedient, um weiterhin als Teilnehmer am „Weltgeschehen“ mitzuwirken beziehungsweise dieses wenigstens kritisch aus der Ferne zu kommentieren, hat auch ihre Tücken.

Das so genannte „Heilbronner Phantom“, welches Glavinic zu seiner „Lisa“ inspirierte, stellte sich schließlich als erzeugt durch in der Produktion verunreinigte Wattestäbchen heraus. Die geheimnisvolle Frau, die, beginnend 2007 mit einem Polizistinnenmord in Heilbronn, bei über 40 Straftaten die Finger im Spiel gehabt haben sollte, existierte gar nicht. Wie beruhigend. Der vorliegende Roman gönnt seinem Leser diesen Stoßseufzer nicht. Er verstört über sein Ende hinaus, indem er keinerlei Sicherheiten mehr verspricht, sondern seine Hauptfigur in ihrem Wahn belässt, ja diesem sogar noch eine bedrückende Tiefendimension verleiht. Bernhards Figuren gingen am Ende ihrer jeweiligen Erregung wieder nach Hause – wie es mit denen von Glavinic ausgehen wird, zeigt vielleicht schon sein nächstes Buch.

Titelbild

Thomas Glavinic: Lisa.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
204 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236363

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