Für Kenner und Forscher

Eckard Heftrichs Aufsätze über Nietzsche und seine Nachwirkungen

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band "Nietzsches tragische Größe" - sein Titel geht auf eine Formulierung von Thomas Mann zurück - enthält Aufsätze und Vorträge, die zwischen 1964 und 1999 aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind. Da alle, auch die bisher unveröffentlichten, in ihrer ursprünglichen Fassung belassen wurden, kommt es gelegentlich zu Überschneidungen, die allerdings nicht allzu störend ins Gewicht fallen. Vor allem aber zeugen die hier publizierten Beiträge von Heftrichs kontinuierlicher Auseinandersetzung mit Nietzsche und seinen Nachwirkungen. Zugleich sind sie eine Fortsetzung und Ergänzung seiner 1962 erschienenen Nietzsche-Monographie "Identität von Welt und Nichts".

Der Band wendet sich in erster Linie an Kenner und Forscher, zumindest an Leser mit einem hohen Bildungsstand. Zudem setzt er an einigen Stellen Insiderwissen voraus, denn wer von den jüngeren philosophisch interessierten Lesern kennt heute noch Josef Hofmiller, der Anfang des vorigen Jahrhunderts Nietzsche vor einen "doppelten Gerichtsstand" zu bringen versuchte, "den des Irrenarztes und den des Geschichts schreibers der Philosophie"? Mit Hofmiller befasst sich der Literaturwissenschaftler und Philologe Heftrich in einem Aufsatz, in dem er die "Grenzen der psychologischen Nietzsche-Erklärung" auslotet. Wer Nietzsche nur psychologisch oder biologisch versteht, meint Heftrich, werde blind für seine eigentliche Philosophie. Auch gilt grundsätzlich, dass die Kausalität, unter derem Einfluss etwas entsteht, nichts über den Wert des Entstandenen besagt. Der Autor äußert sich ferner zu den Ausgaben von Nietzsches Werken und Briefen und rekapituliert die wechselvolle und nicht immer glückliche Editionsgeschichte seiner Bücher. Er wirft einen Blick auf siebzehn Jahre "Nietzsche-Studien", dem seit 1972 wichtigsten Forum der Nietzsche-Forschung, und wertet Nietzsches Briefe in der jetzt vorliegenden und vervollständigten Form als "ein menschliches, geistiges und sprachliches Zeugnis", das auch jener Literatur zum Nutzen gereicht, "die mehr als Historie, die Leben bedeutet."

"Die Geburt der Tragödie", Nietzsches erste Buchveröffentlichung, enthält nach Heftrich in nuce Nietzsches ganze Philosophie und ist entgegen aller Illusionen, wie Giorgio Colli einmal richtig festgestellt habe, sein schwierigstes, weil mystischstes Werk. Hier habe Nietzsche Schopenhauers Grundmodell der Welt als Wille und Vorstellung so übersetzt, dass für die Welt als Wille das Dionysische und die Welt als Vorstellung das Apollinische stehen könne, obwohl letztlich Nietzsches Überzeugungen den Grundanschauungen Schopenhauers zuwiderliefen.

Heftrich geht außerdem auf Nietzsches komplexe Auffassung von Moral ein und untersucht am "Tristan" Nietzsches Wagnerinterpretation. Immerhin war Wagner in der Frühzeit "die apotheotisierte Identifikationsfigur aller Nietzscheschen Hoffnungen". Der Philosoph selbst war vom "Tristan", Wagners subtilstem Werk, geradezu überwältigt.

In "Nietzsches Goethe, eine Annäherung" stellt Heftrich erst einmal ausführlich Ernst Bertrams Darstellung von Nietzsches Goethebild vor, ehe er die, nach seiner Ansicht, wichtigsten Gesichtspunkte erläutert, unter denen Nietzsche Goethe gesehen hat. In "Faust contra Zarathustra?" erklärt der Verfasser das Nietzsche-Verständnis von C.G. Jung, für den Goethe und Nietzsche von außerordentlicher Wichtigkeit gewesen seien, und zitiert Jungs Ausspruch: "Zarathustra war der Faust Nietzsches". In einem anderen Essay bemüht sich Heftrich um eine Ortsbestimmung Nietzsches im Denken von Heidegger, der Nietzsches Denken als Vollendung der abendländischen Metaphysik aus der Geschichte des Seins begriff.

Unter "Leiden an Nietzsche" macht Heftrich deutlich, dass an Nietzsche viele gelitten haben, auch jene, die ihn nicht verstanden oder abgelehnt haben wie Wolfgang Harich, der in ihm wie Georg Lukács einen ideologischen Wegbereiter des Faschismus sah und zu guter Letzt "die Windmühlen der DDR-Nietzsche-Renaissance" attackierte. Die Tatsache, dass Nietz sche vom Dritten Reich als Vorläufer reklamiert wurde und Hitler selbst ihn als seinen Künder vereinnahmt hat, bereitete von 1933 an all jenen Nietzsche-Verehrern Leiden, die weder Anhänger noch Mitläufer des Regimes waren.

Wahrhaft symbolträchtig aber war das Leiden an Nietzsche bei Thomas Mann, der, wie Heftrich meint, zum Verständnis von Nietzsches Philosophie zwar wenig beigetragen habe, doch wie kaum ein anderer Autor den Philosophen als deutsche und europäische Passion, als Leidenschaft und Erleiden erlebt und beschrieben habe. Heute, fünfzig Jahre später, scheine man an Nietzsche kaum noch zu leiden, konstatiert der Verfasser mit leisem Bedauern.

Heftrichs gelehrte, auf hohem Niveau belehrende, nuancierte und mitunter auch ausufernde Ausführungen (Jochen Hieber nannte den Wissenschaftler in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" einmal einen "Anwalt der Genauigkeit"), verraten präzise Detailkenntnisse und ein enormes Wissen subtiler literarischer und kulturgeschichtlicher Zusammenhänge. Den philosophischen Laien dürften sie oft überfordern und selbst bei gutem Willen zuweilen sogar verzweifeln lassen.

Titelbild

Eckhard Heftrich: Nietzsches tragische Größe. Das Abendland N. F. Band 25.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2000.
226 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3465030567

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