Geschichte als Selbstverpflichtung

Über die Sammlung „Vom Sinn und Unsinn der Geschichte“ der Aufsätze und Vorträge Reinhart Kosellecks

Von Kay ZiegenbalgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Ziegenbalg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schriften des Historikers Reinhart Koselleck bieten seit langem einen Fundus, dessen sich nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch angrenzende Disziplinen bedienen. Die Dissertation „Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der modernen Welt“ (1959) sowie die Habilitationsschrift „Preußen zwischen Reform und Revolution“ (1967) sind die bekanntesten Meilensteine einer langen und stillstandslosen Arbeit. Internationale Bekanntheit brachte ihm vor allem das gemeinsam mit Werner Conze und Otto Brunner herausgegebene Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“, dessen neunter und letzter Band 1997 erschien. Diese Bände sind aus dem Werkzeugkasten der Geschichtsbetrachtung nicht mehr wegzudenken.

Nachdem der Heidelberger Literaturwissenschaftler und Philosoph Carsten Dutt den Band „Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache“ mit einem Nachwort versah, gibt dieser nun unter dem Titel „Vom Sinn und Unsinn der Geschichte“ eine Reihe bisher verstreut veröffentlichter Aufsätze und Vorträge von Reinhart Kosseleck heraus.

Der Band ist gegliedert in drei Abschnitte. Unter „Theorieskizzen“ sind Texte zur Interdisziplinarität der Geschichtswissenschaft und zur Rolle der Fiktion (Narration) in der Geschichtsschreibung abgedruckt. Es folgen „Zeitbilder“, die sich von der Aufklärung über das 19. Jahrhundert als Übergangszeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und den damit verbundenen Gedächtnisdiskursen erstrecken. Drittens sind unter „Porträts und Erinnerungen“ Texte über Wegbereiter und Begleiter der Zunft versammelt.

Die Textsammlung ermöglicht einen differenzierten Einblick in Kosellecks umsichtiges Denken.

Geschichte einerseits als zeitlichen Verlauf prägender Ereignisse, deren Spuren wir im Alltag immer wieder begegnen und andererseits als Erzählung, an der stetig zu arbeiten ist, versuchte Koselleck immer gleichzeitig zu denken. Damit stehen seine Arbeiten für den Anspruch, aus der Geschichte und der Geschichtsschreibung jene Erkenntnisse abzuleiten, die Geschichtsbewusstsein und damit eine wesentliche Grundlage für Orientierung, kritische Auseinandersetzung und diskursive Partizipation möglich machen.

Die Erforschung historischer Sachverhalte ist dabei immer verbunden mit der Frage nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen des Nachdenkens über Geschichte.

Dabei hat er sich vielfach der Sprache gewidmet und in ihr den Träger mancher Fehler im Bezug auf „die Geschichte“ entdeckt. Ein geschärftes Bewusstsein für den historischen Wandel der Begriffe selbst, führt dabei zu immer tieferen Einsichten. Der große Glücksfall besteht nun darin, dass Kosellecks genaues Denken stets klar und verständlich formuliert ist.

Geschichte ist offenbar nicht als Singular denkbar, wenn die Inhalte historischer Forschung den Anspruch einlösen wollen, über Gebote, Traditionen und Mythen hinauszugehen. Das heißt nicht, dass Geschichtswissenschaft zwingend ein hochentwickelter Kontrapunkt zu den erstgenannten Konservierungssystemen ist. Denn das vermutlich unumgängliche Bedürfnis des Menschen nach Sinnstiftung und Kontextualisierung einer jeden Erfahrung kann nicht ernsthaft angegriffen werden, ohne im treppenlosen Elfenbeinturm zu landen.

Erst das Bewusstsein über die sprachliche Konstituierung der Geschichte, die Einsicht in die Notwendigkeit der Narration, der Begriffsbildung, mehr noch: die triviale Tatsache zu denken, dass Ereignisse nicht Geschichte sind, sondern dies erst werden können, indem der Graben zwischen dem hier und heute und dem Vergangenen intellektuell überbrückt wird, ermöglichen eine Überwindung der „Auslieferung an die Geschichte“. Nur so ist dem folgenreichen ideologischen Missbrauch der Geschichte zu entkommen.

Dies gilt im Negativen (Schicksalsgläubigkeit, politischer Messianismus) ebenso wie im Positiven (Ausruhen auf der Überlieferung), wenngleich diese Wertungen nicht tragend sind.

Da sich Koselleck sehr genau darüber im Klaren war, was es bedeutet, von Prozessen zu sprechen, verfiel er nicht dem Irrglauben, Fragen und Antworten an das vergesellschaftete Treiben und die davon kündenden Quellen könnten je an ein Ende gelangen, ohne den kritischen Geist einzumauern. So heißt es am Schluss eines Aufsatzes über die Aufklärung: „Wenn die Metaphorik der Aufklärungssprache in die Politik überführt wird, dann kennt sie nur noch zwei Lager: das des Lichtes und der Finsternis. Dahinter lauern Zwangsalternativen, die nur einen Ausweg zulassen. […] Dieses Erbe der Aufklärung, durch die Sprache der Propaganda vermittelt, sollten wir uns ersparen. Haben wir den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen.“

Titelbild

Reinhart Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Dutt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
388 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518585399

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