„Lieben kann man nur einmal richtig“

Der Roman „Das andere Dasein“ ist Galsan Tschinags Medizin gegen den grauen Beziehungsalltag

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Galsan Tschinag, Schamane und Schriftsteller, in der mongolischen Steppe und der deutschen Sprache zu Hause, widmet sich in seinem neuen Roman „Das andere Dasein“ der Liebe. Seine geografische Heimat ist dabei nur die atemberaubende Kulisse für eine märchenhafte Schilderung der „Sehnsucht, die von der unerfüllten Liebe ausgeht“, in der Schriftsprache, die seine literarische Heimat ist. Der interkulturelle Aspekt gerät – ob des universalen Themas – in diesem Roman in den Hintergrund.

„Wagen wir einmal, uns zu fragen, was im Leben öfters vorkommt, erfüllte oder unerfüllte Liebe? Wenn wir ehrlich genug sind, werden wir zugeben: die unerfüllte.“ Minganbajir, ein 25-jähriger Hirtenjunge aus der mongolischen Wald- und Bergsteppe, studiert am Moskauer Fremdspracheninstitut. Seine große Liebe beginnt „gefährlich und poetisch“, als er in ein Auto läuft und dabei das Buch des ungarischen Dichters Endre Ady ausgerechnet der ungarischen Studentin Anni in die Hände fällt. So finden die beiden zueinander und es beginnt eine innige Studentenliebe, die so detailliert und lebensnah beschrieben wird, dass der Leser jeden Herzschlag selbst spürt, bei jedem schüchternen Annäherungsversuch mitfiebert und den ersten Kuss (endlich, Junge!) genießt.

Es sind nur 88 Tage, davon „7 Nächte, an die 50 Stunden“, die „sie ganz zusammen, Arm in Arm, Haut an Haut haben verbringen dürfen“, und die Diplomfeier von Minganbajir erscheint wie eine Hochzeit. Drei Tage später kommt es zum bewegenden Abschied: „Dass sie einander immer schreiben würden, darüber sprachen sie nicht, das war einfach selbstverständlich.“ Aber statt eines Wortes von Anni erhält Minganbajir seinen ersten Brief zurück: „Kein Empfänger. Bitte, an diese Adresse nicht wieder schreiben!“ Allerlei Mutmaßungen und Erklärungsversuche „zermarterten […] sein Hirn, benebelten seine Sinne, rieben sein Inneres auf“. Er schreibt weiter erfolglos an sie und kommt sich „wie einer vor, der in ein Meer Steine warf, in eine Wüste Schreie schickte“.

Zwei Jahre später lernt er eine alleinerziehende Buchhalterin kennen, sie wird schwanger und sie heiraten. Annis Bild aber bleibt weiterhin in seinem Herzen und auf seinem Schreibtisch. Als Minganbajir als „antikommunistisches Unkraut“ aus der Partei ausgeschlossen wird und seine Arbeit im Ministerium verliert, verdingt er sich als Dolmetscher und lebt zukunftslos, gleichgültig in den Tag hinein.

Eines Tages wird er von oberster Stelle gebeten, bei einem internationalen Zirkusfestival als Dolmetscher einzuspringen. Er trifft auf die „Genossin Professorin Anni Erdos, Leiterin der Truppe aus der Volksrepublik Ungarn“ und erlebt ein zweites Mal das süße Gefühl der Liebe auf den ersten Blick. Aber auch Anni „bekam mit einem Mal schlimmes Herzklopfen“.

Galsan Tschinag lässt elf Jahre nach der Jugendliebe eine fast 50-jährige Frau in Minganbajirs trostloses Dasein treten. Damit nicht genug: Sie begreifen allmählich, dass sie die Mutter der Jugendliebe und er der ehemalige Geliebte der Tochter ist. Die verheiratete Karrierefrau Anni wird in den zweieinhalb gemeinsamen Tagen aus ihrem geordneten Alltag heraus- und mitgerissen. Minganbajirs „Leidenschaft, die sich in den Jahren nie echt verbraucht und so angestaut hatte“, scheint grenzenlos. Zweifel an Motiv oder Existenzberechtigung des gemeinsamen Gefühls werden vom gegenseitigen Verlangen überrollt. Anni lernt, dass das Leben keine „peinvolle Pflicht“, sondern „lustvolles Recht“ ist. Die Einsicht und Akzeptanz des eigenen, übermächtigen Verlangens befreit beide schließlich und überstrahlt alles andere. Ist es noch denkbar zum stillen Glück zurückzukehren?

Der Leser kommt nicht umhin, Zeit und Raum zu vergessen, denn die „bis zum Durchdrehen erwachte Seele“ des jungen Studenten verliert beim erwachsenen Geliebten nichts von ihrem Elan; man hat die Leidenschaft, Liebe und Sehnsucht im Sinn, nicht die Protagonisten. Im Vordergrund steht die Frage, ob ein Leben in zwei Menschen geteilt gelebt oder in einem anderen fortgesetzt werden kann.

Tschinag erzählt mit seinen „zum Schmunzeln und auch zum Weinen geradlinigen“ Worten über eine „bemitleidens- wie auch bewundernswerte Liebe“. Er vermag es, den Leser mit Wortspielen, Bildern und Rückblenden zu fesseln. Spannend wie ein Krimi, ergreifend-romantisch wie die Frühlingsgefühle von Teenagern, wohlüberlegt und ausgefeilt ist dieses Buch. Schade aber, dass der Epilog diesen Lesegenuss nicht aufrecht erhalten kann und einen viel zu schnell wieder in die ernüchternde Realität zurückholt.

Das Kernstück des Romans aber ist eine Hommage an die grenzenlose Kraft des Gefühls. Es ist „die Liebe, von der in Büchern geschrieben steht. Die man auf der Leinwand, auf der Bühne sieht“, von der Galsan Tschinag in „Das andere Dasein“ so eindrucksvoll lebendig erzählt. Das, wovon zu viele Menschen nur träumen, und weshalb gute Liebesgeschichten immer ihre Leser und Zuhörer – eben ihr Publikum – finden werden.

Titelbild

Galsan Tschinag: Das andere Dasein. Roman.
Insel Verlag, Berlin 2011.
271 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174943

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch