Nietzsche hätte ein besseres Lexikon verdient

Taureck hat ein eigenwilliges Nietzsche-ABC zusammengestellt

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So furios, wie der Verlagsprospekt behauptet, ist dieses Nachschlagewerk nun wahrlich nicht. Enthält es doch weder "die wichtigsten Positionen und Begriffe der Philosophie Nietzsches" noch "überraschende aufschlussreiche Details aus seinem Leben". Was vor allem auffällt, ist die Voreingenommenheit des Autors und die Penetranz, mit der er dem Leser seine durchweg negativen, um nicht zu sagen, diffamierenden Urteile über Nietzsche aufdrängt. Nietzsches Denken wird eher verzerrt als objektiv dargestellt. In einzelnen Kapiteln erfährt man oft mehr darüber, was Hitler oder Heraklit oder sonstwer gesagt hat, als der Philosoph selbst.

Der Band beginnt mit "Abitur" und endet mit "Zukunft". Hier einige Stichworte, die Taureck wichtig genug dünkten, um sie mehr oder weniger ausführlich zu behandeln: Unter dem Terminus "Barbaren" erfahren wir, dass Nietzsche sich zur Institution der "Folter" nicht geäußert hat. Unter "Bevölkerungs wachstum" werden wir darüber informiert, dass die Verelendungsprognosen von Malthus auf die dritte Welt von heute zutreffen. Nietzsches "elitäres Bildungskonzept" wird kurz erläutert. Bald darauf stoßen wir auf "Bismarck", obwohl Nietzsche ihn nie getroffen, sondern ihm lediglich die Ehre erwiesen hat, "ihm durch Überreichung des ersten Exemplars von 'Ecce homo' meine Feindschaft anzukündigen." Unter "Die Deutschen", behauptet der Autor, dass Nietzsches "antideutsches Toben" Tendenzen der Globalisierung für Europa vorweg genommen habe. In der Rubrik "Logischer Positivismus" wird gleich im ersten Satz zugegeben, dass dieser "in das gewöhn liche Bild von der Wirkung Nietzsches" nicht hineinpasst.

"Marx, Engel, Bakunin, Bebel" kommen gemeinsam vor, auch wenn Nietzsche ihre Namen wahrscheinlich nicht gekannt hat, was Taureck allerdings bezweifelt. "Paris" wird mit mehr als vier Seiten bedacht. Dabei war Nietzsche niemals dort. Allenfalls hat er in "Ecce homo" ein Loblied auf das Paris der ästhetischen Moderne gesungen. "Quälen" hat ebenfalls Aufnahme gefunden, weil Deussen zu berichten wusste, dass Nietzsche die Neigung hatte, ihn "überall zu korrigieren, zu hofmeistern und gelegentlich recht sehr zu quälen." Dann wird's banal mit "Rauchen und Trinken". Unter "Schiller" steht der Vermerk, Nietzsche habe ihn 1872 "neben, wenn nicht über Goethe" gestellt. Hätte Taureck nicht um der wissenschaftlichen Genauigkeit auch sagen müssen, dass sich Nietzsche oft spöttisch über den Dichter ausgelassen hat und ihn einmal den "Moraltrompeter von Säckingen" genannt hat?

Für das Wort "Stolz" genügte ein hingeworfener kurzer Satz von Nietzsche: "J. Burckhardt", so Nietzsche 1975, "soll von mir gesagt haben, so einen Lehrer würden die Basler nicht wieder bekommen. Darauf bin ich stolz.-" Unter "Hampelmann" ist eine Schulgeschichte vermerkt, die Paul Deussen ein Jahr nach Nietzsches Tod zum Besten gegeben hat und in der es um eine Fotografie des jungen Nietzsche geht, die einst "zum Gaudium der Umstehenden" für einen Hampelmann hatte herhalten müssen. Xenophon lebte von etwa 426 bis 354 in Athen. Bei Nietzsche bleibt sein Name unerwähnt. Dennoch befand ihn Taureck der Aufnahme in das Nachschlagewerk für würdig. Wer Schopenhauer sucht, wird unter "Dies Buch" fündig. Wer etwas über Dionysos erfahren will, schlage unter "Panther und Tiger" nach. "Ressentiment" findet man dagegen unter "Dühring", der eingehend vorgestellt wird, weil er zu den "von Nietzsche selbst mit brutaler Polemik verwischten Bedingungen seines eigenen Denkweges" gehört. "Décadence" erscheint unter "Entartung", obwohl beide Begriffe nicht deckungsgleich sind. Dann wieder fragt sich Taureck, ob Nietzsche der erste große, richtungsweisende Europäer sei, und kommt zu dem Schluss, dass ein sich auf Nietzsche berufendes Europa des 21.Jahrhunderts auf einen neuen Napoleon zu warten hätte. Der Europäer Nietzsche war nämlich, nach Taurecks Ansicht, "ein Gespenster-Beschwö rer, aber kein politischer Vordenker demokratischer Denationalisierungstendenzen."

Mit Vorliebe hält sich der Verfasser bei Nietzsches Vorurteilen auf, zum Beispiel jenen, die England betreffen, und merkt nicht, dass er selbst gegenüber seinem Protagonisten Vorurteilen frönt. Unter "Fanatiker" wird lang und breit Herkunft und Bedeutungswandel erklärt, ehe Nietzsche auf taucht. Während Nietzsches Philosophie nur oberflächlich behandelt und auf seine Hauptwerke nur kurz eingegangen wird, fehlt es nicht an ständigen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus oder, um die vom Autor bevorzugten Worte zu gebrauchen, auf Italo- und Germanofaschismus. Die Stichworte "Barbaren", "Deutsche", "Fanatiker" und andere mehr führen zu Hitler und Mussolini. Mussolini hat einen eigenen Abschnitt erhalten, ebenso Hitler (in diesem Zusammenhang fällt der Name Dschingis-Khan, bei Nietzsche freilich erscheint er nicht) und sogar Lenin. Dabei kann nur vermutet werden kann, dass dieser etwas von Nietzsche gelesen hat. Wäre dies der Fall, so wäre Nietzsche auch "eine Figur, die mit zu den Bedingungen der Oktoberrevolution von 1917 gehört", schreibt Taureck und versteigt sich zu der tollkühnen Spekulation: "Nietzsches atheistischer Gestus und die Formel 'Umwertung aller Werte' könnten für Lenin Anlass zu Neuformulierungen des Marxismus gegeben haben."

Nebenbei wird gleich noch mit Autoren abgerechnet, die Nietzsche vor der Anschuldigung, Vordenker der Nazis zu sein, in Schutz genommen haben. Unweigerlich drängt sich bei manchen Stichworten die Frage auf: Was haben diese eigentlich mit Nietzsche zu tun? Gehört das ganze Sammelsurium überhaupt in ein Nachschlagewerk über den Philosophen? Sollte so ein Werk nicht auch objektiv sein? Doch der Nietzsche, der uns aus diesem Buch entgegen blickt, ist alles andere als sympathisch. Nach Auffassung von Taureck ist er wohl in erster Linie ein Epigone gewesen. Mit der Formel "Amor fati" habe er eine Formulierung von Spinoza nachgestaltet, bei Feuerbach habe er geborgt, bei Schiller und vielen anderen. Zudem sei er gar nicht der große Aphoristiker gewesen, für den er sich stets gehalten hat. Nietzsche sei unoriginell, eingebildet, humorlos, arrogant gewesen und habe sich selbst maßlos überschätzt, suggeriert Taureck. Überdies habe dem Philosophen, im Unter schied zu Karl Marx, das Interesse gefehlt, die Geduld und das theoretische Instrumentarium zu genauen ökonomisch-politischen Analysen.

Ob die Auswahl der eigenwillig zusammengestellten Stichworte für das Denken Nietzsches repräsentativ sind, ist mehr als fraglich. Ein Ordnungsprinzip ist jedenfalls in diesem Nachschlagewerk, das ganz ohne Personen-und Sachregi ster auskommt, nicht zu erkennen. Zweifellos hätte Nietzsche ein besseres Lexikon verdient.

Titelbild

Bernhard H. F. Taureck: Nietzsche-ABC.
Reclam Verlag, Leipzig 1999.
256 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3379016799

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