Ein Wissenskosmos in brillanten Schlaglichtern

Das von Herbert Jaumann herausgegebene Handbuch „Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit“ verlangt nach einer Fortsetzung

Von Misia Sophia DomsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Misia Sophia Doms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein mehr als 1.000-seitiger Band mit dem Titel „Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit“ und dem Untertitel „Ein Handbuch“ wirft bereits im Vorfeld der Lektüre unweigerlich viele Fragen zu seinem Gegenstand und seiner Zielsetzung auf und lässt nähere Ausführungen zum Auswahlprozedere der insgesamt 22 Einzelbeiträge unvermeidlich erscheinen – dies weiß, besser als jeder andere, der Herausgeber selbst, der (neben anderen Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet) vor einigen Jahren bereits ein bio-bibliografisches Repertorium zur Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit publiziert hat. Daher geht Jaumann in der Einleitung des Bandes sorgfältig darauf ein, wie die Begriffe „Diskurs“, „Gelehrtenkultur“, „Frühe Neuzeit“ und „Handbuch“ im Fall dieses Bandes zu fassen sind und auf welche Weise sich die Auswahl der Diskurse – ausgehend von der Benennung von insgesamt sechs Themenkomplexen beziehungsweise Wissensfeldern – vollzogen hat.

Die einleitenden Ausführungen zum Verständnis der titelgebenden Begriffe umreißen dabei trotz ihrer Knappheit deutlich das weite wissenschaftliche Gebiet, in dem sich der Band bewegt. Die Publikation beschäftigt sich nicht mit Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinne, sondern mit der „intellektuelle[n] und theoretische[n]“ sowie „soziale[n] und materiale[n] Kultur“ der Gelehrten des 15. bis 18. Jahrhunderts. Nicht ein streng diskursanalytisches Vorgehen wurde den Beiträgern verordnet, sondern nur „in der Tendenz autorunabhängige Frageinteressen“ von ihnen erwartet, der Diskursbegriff also in einem sehr weiten Sinne verstanden. Und als – gattungstypologisch zwischen den Polen des Lexikons und der Sammlung von Einzelstudien zu verortendes – Handbuch will sich der Band nicht allein mit der Bereitstellung „zuverlässiger Sachinformation (auch Grundlageninformation)“ begnügen, sondern auch um die „Prüfung, Reflexion und, wenn nötig und möglich, Innovation von Deutungsperspektiven“ bemühen, „ohne daß in jedem einzelnen Fall schon ausgearbeitete materiale Alternativen angeboten werden“.

Eröffnet wird der mit zahlreichen Abbildungen versehene Band mit fünf dem Komplex der artes liberales beziehungsweise mechanicae gewidmeten Beiträgen. Jörg Robert befasst sich mit der Ciceronianismus-Debatte, Jörg Wesche mit dem Petrarkismus und Jörg Jochen Berns mit „Mythographie und Mythenkritik“. Um den Vorrang der Epochen wie der Einzelformen der artes kreisen die Ausführungen von Martin Disselkamp zur frühneuzeitlichen antiqui-moderni-Diskussion und von Eric Achermann zum Paragone delle arti.

Es folgen vier Beiträge zu Diskursen im Bereich der frühneuzeitlichen Medizin und Naturphilosophie: Simone de Angelis befasst sich mit dem „Sehen mit dem physischen und dem geistigen Auge“ in der zeitgenössischen Heilkunde, Hanns-Peter Neumann und Claus Priesner mit dem Paracelsismus, der Alchemie und der magia naturalis. Der Beitrag von Paola Zambelli zur „Magie als Alternativreligion“ stellt thematisch schon einen Übergang zum folgenden religionsgeschichtlichen Themenschwerpunkt dar. Er wird vertreten durch die Ausführungen von Kai Bremer und Hanspeter Marti, die beide für neue Forschungsperspektiven in der Konfessionalitätsforschung plädieren.

Mit diesen Beiträgen weisen Martin Mulsows Darlegungen zu „Exil, Kulturkontakt und Ideenmigration“ insofern einen thematischen Zusammenhang auf, als viele der frühneuzeitlichen Migrationsprozesse eng mit der Frage der Konfessionalität verbunden sind. Während sich zwischen den folgenden vier Beiträgen noch einmal ein thematischer Zusammenhang erkennen lässt (Wolf Peter Klein befasst sich mit der Entwicklung des Deutschen zur Gelehrtensprache, Gerhard F. Strasser mit dem Ursprachen- und Universalsprachen-Diskurs und Sprachliches spielt auch in Reimund Sdzujs Untersuchung zur frühneuzeitlichen allgemeinen Hermeneutik sowie Anita Traningers Ausführungen zur „Konkurrenz von Rhetorik und Dialektik“ eine nicht zu vernachlässigende Rolle), stehen die folgenden beiden Darstellungen von Andreas B. Kilcher und Philipp Theison zur jüdischen Gelehrsamkeit und deren christlicher Rezeption sowie von Günter Butzer zur Psychagogik weitgehend für sich allein.

Volkhard Wels’ Beitrag zur „[u]nmittelbare[n] göttliche[n] Offenbarung als Gegenstand der Auseinandersetzung in der protestantischen Theologie der Frühen Neuzeit“ schließt noch einmal an den religionsgeschichtlichen sowie über die behandelten Autoren zum Teil auch an den naturphilosophischen Themenkomplex an. Es folgen zwei Darstellungen, die den frühneuzeitlichen Blick auf die Vergangenheit in den Mittelpunkt stellen: Martin Schmeisser befasst sich mit der „Erdgeschichte und Paläontologie im 17. Jahrhundert“, Markus Völkel mit den gelehrten Diskussionen um „historia und Historiographie“. Das Feld der Politik schließlich ist durch Cornel Zwierleins Darlegungen zum Machiavellismus und Antimachiavellismus vertreten, allerdings auch in vielen anderen Beiträgen durchaus präsent.

Nicht unbegründet erscheint, zumindest auf den ersten Blick, die von Jaumann selbst antizipierte Kritik daran, dass in einer letztlich doch überschaubaren Anzahl von Beiträgen eine große Menge von Wissensgebieten und zentralen Diskursen ausgespart bleibt. Die vom Herausgeber in diesem Zusammenhang genannten Beispiele ließen sich von den Lesern, je nach ihren eigenen Forschungsschwerpunkten, ohne Anstrengung um viele weitere ergänzen, auch wenn man Jaumann Recht geben wird, dass „Exhaustivität“ hier ein „Ding der Unmöglichkeit“ wäre. Dem Band seine ‚Lücken‘ kritisch zur Last zu legen, wäre trotzdem völlig unangemessen, ist doch die Leistung, die unter der Herausgeberschaft Jaumanns von den 22 Beiträgern erbracht worden ist, nicht hoch genug einzuschätzen.

Jeder, der auf dem Gebiet der Frühneuzeitforschung tätig ist, wird den knapp über zwanzig Wissenschaftlern, unter denen Nachwuchsforscher und namhafte Professoren aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gleichermaßen vertreten sind, für die Fülle überzeugend gegliederter und solider historischer Informationen, für hervorragende Quellenüberblicke und Darstellungen des jeweiligen Forschungsstands und nicht zuletzt für ihre methodisch und/oder in der Fragestellung innovative eigene Perspektive auf die jeweils behandelten Diskurse danken. Dass Jaumann einen so großen Kreis herausragender Experten für die frühneuzeitliche Gelehrtenkultur für sein Projekt gewinnen und sie zur Übernahme der umfangreich-arbeitsaufwändigen Artikel überreden konnte, verdient höchstes Lob.

Positiv hervorzuheben ist auch Jaumanns Entscheidung, den Forschern bei der letzten Eingrenzung ihrer Themen, aber auch ihrer methodischen Zugänge, so viel Freiheit zu lassen, dass jeder von ihnen auf die ihm und dem jeweiligen Thema angemessene Weise Beachtliches leisten konnte. Schablonenhafte Vorgaben zur Gestaltung der Beiträge hätten das Unternehmen mehr gehemmt als gefördert: Dass nun einzelne Beiträge den von ihnen behandelten Diskurs im Rahmen weniger ausführlicher Einzelanalysen umreißen, während andere eine Vielzahl von Quellen gleichzeitig in den Blick nehmen, dass einige Forscher wissenschaftliche Termini und Betrachtungsweisen, die nicht aus der Frühneuzeitforschung stammen, gewissenhaft auf die besonderen Bedingungen der letzteren zuschneiden, während andere auf solche Zugänge verzichten, wirkt nicht störend, sondern lässt das Gemeinschaftswerk zugleich zu einem Handbuch eines weiten Spektrums gelungener methodischer Zugänge in der Frühneuzeitforschung werden.

Hinsichtlich der noch bestehenden Lücken ist vor dem Hintergrund dieser herausragenden, selbst lückenschließenden Ergebnisse nicht Kritik, sondern der energische Ruf nach einer baldigen Fortsetzung des Unternehmens in Form eines zweiten Handbuch-Bandes das Gebot der Stunde – dass er nicht folgenlos verklingen möge, dass nicht Schwierigkeiten auf dem nicht unproblematischen Absatzmarkt für Forschungspublikationen zur frühen Neuzeit ihn letztlich ungehört verklingen lassen, ist der dringliche Wunsch der Rezensentin.

Titelbild

Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch.
De Gruyter, Berlin 2010.
1054 Seiten, 169,95 EUR.
ISBN-13: 9783110189018

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