Haarige Betrachtungen

Über die Anstrengungen der Menschen, ihre Verwandtschaft mit den Affen zu verbergen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Es wird wieder wärmer, der Frühling strebt dem Sommer entgegen, die T-Shirts werden wieder ohne Pullover drüber getragen, auch die Röcke werden wieder aus den Kleiderschränken geholt: Spätestens jetzt hebt das emsige Rasieren an!

Und schon hängt die „diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester“ Mateja K. ihre Preisliste und Telefonnummer in den Toiletten des Instituts für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz aus:

Haarentfernung für Damen
Beine komplett (bis Knie) 20 Euro
Beine komplett 35 Euro
Beine komplett mit Bikinizone 40 Euro
Nur Bikinizone 16 – 20 Euro
Brazilian Waxing- Perron Rigot 28 Euro
Achseln, Oberlippe, Bart 14 – 18 Euro
Arme, Brust, Rücken 20 – 28 Euro
Augenbrauen formen 14 Euro

Das Angebot für die Herren ist ein wenig teurer: Achseln 18 Euro, Arme/Brust/Rücken 18-28 Euro, Beine (bis Knie) 26 Euro, Beine komplett 50 Euro.

Nachdem gerade kurz zuvor in jener Zeitung, hinter der „die klugen Köpfe“ stecken, in einem ganzseitigen Artikel „Die Wachstumshemmer“ über jene beiden Ketten berichtet wurde, die in Deutschland den Enthaarungs-Markt beherrschen – „Senzera“ („Sexy von Kopf bis Fuß durch schöne, glatte Haut – das ist heute nicht nur zu jeder Jahreszeit ein Muss, sondern wird mit Senzera zum wahren Vergnügen!“) und „Wax in the City“ („Wir entfernen Ihre Körperhaare überall dort, wo sie nicht hingehören. Gründlich, sanft und nahezu schmerzfrei.“) –, scheint es mir an der Zeit, einen soziologischen Blick auf dieses Phänomen werfen.

Die Debatten rund um das Thema weibliche – und inzwischen gleichberechtigt: männliche – Körperbehaarung bestätigen, dass es sich bei der Enthaarung der Achseln, der Beine, des Schambereichs um eine Norm handelt, der sich zumindest Frauen – und immer mehr Männer – unterwerfen müssen, wenn sie nicht wünschen, von der Gesellschaft ins Abseits gestoßen zu werden. Die Strafe für AbweichlerInnen besteht darin, dass der menschliche Körper diskursiv mit Ekel aufgeladen wird, sofern er Behaarung aufweist. Es kommt zu einer Stigmatisierung der Behaarten als Hygiene vernachlässigende, Ästhetik mit Füßen tretende Erscheinung. Aber wie wurde diese Norm wider den natürlichen Körper durchgesetzt? Welche sozialen Mechanismen sind an der Produktion und Reproduktion der Enthaarungsnorm beteiligt? Wie verändern die Normen die subjektive und objektive Wahrnehmung des (vor allem noch) weiblichen Körpers? Und nicht zuletzt: Lässt sich ihre Wirksamkeit in einen größeren, gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang einbetten?

Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht die kritische Betrachtung des laufenden Enthaarungsdiskurses. Wer die einschlägigen Internet-Foren durchforstet, erkennt die Vehemenz, die darin zum Ausdruck kommt. Die Tatsache, dass Körperbehaarung Gegenstand heftiger Diskussionen sein kann, weist darauf hin, dass es sich nicht um ein triviales Thema handelt. Eine kurze Durchsicht genügt, um festzustellen, dass Körperbehaarung ein vielschichtiger Diskursgegenstand ist, der nicht bei der Konsensfeststellung einer „Geschmacksfrage“ stehen bleibt. Dass Körperbehaarung keine Geschmacksfrage ist, sondern zu einer moralischen Angelegenheit wird, zeigt sich in der Länge der Beiträge. Denn mit dem Bekenntnis zu Körperhaaren ist der Zwang zur Rechtfertigung verbunden. Und entsprechend ausführlich wird dieses Bekenntnis mit Aversionsbekundungen anderer kommentiert.

Die Macht der Diskurse über den behaarten menschlichen Körper

Ein beliebtes Argument, um die Entfernung von Körperhaaren zu proklamieren, stellt der Verweis auf das „Zeitgemäße“ der Norm dar. Es handelt sich hierbei um ein klassisches „argumentum ad populum“, bei dem von einer tatsächlichen oder bloß unterstellten Mehrheitsmeinung auf die Wahrheit einer Aussage oder die Angemessenheit einer Norm geschlossen wird. Die Enthaarung wird als modische Erscheinung aufgefasst, die man unhinterfragt „mitmacht“.

Angeblich wissenschaftliche Fundierung erhält dieses Zeitgeist-Argument durch statistische Erkenntnisse über den Anteil von Männern und Frauen an der Gesamtbevölkerung, die sich enthaaren. Interessanterweise sind die Initiatoren dieser Studien zumeist international agierende Rasierklingen- und Enthaarungsmittelhersteller. Ihre Ergebnisse tauchen dann in Frauenzeitschriften im Gewand der Schönheitsberatung auf, wobei dem Mann die Funktion des erhobenen Zeigefingers und des kritischen Auges zukommt: „Wer mit samtig glatter Haut bei den Jungs punkten will, kommt nicht darum herum, die lästigen Härchen zu entfernen. Wir stellen Ihnen die unterschiedlichen Methoden vor.“

Die offensive Werbung der Haarentfernungsindustrie findet ihre Produkt-Abnehmer vor allem in jungen Menschen, die empfänglich für die mit Drohgebärden durchsetzten Einflüsterungen sind und die Trends besonders schnell aufgreifen. Die nicht altern Wollenden indes übernehmen die Trends der Jungen und verfestigen sie diskursiv zu Normen, die für alle gleichermaßen verbindlich werden. Die Verletzung einer durchgesetzten Norm geht mit gesellschaftlichen Sanktionen einher. Umgekehrt hat der Normhörige Aussicht auf Belohnung, möge diese auch bloß darin zum Ausdruck kommen, nicht zur Zielscheibe des Spotts, der Verachtung und der Ausgrenzung zu werden. Der Vorteil, der damit verbunden ist, sich der Enthaarungsnorm zu unterwerfen, besteht darin, den gängigen Schönheitsvorstellungen zu entsprechen. Man kann die Vermutung anstellen, dass der Diskurs, der von den Agenten der Macht, hier: der Enthaarungsindustrie, initiiert wird, schließlich zur unhinterfragten Praxis führt und der Disziplinierung des Körpers dient. Im Sinne einer „Bio-Macht“ (Michel Foucault) soll der Körper für die (kapitalistische) Verwertbarkeit nützlich gemacht werden. Die Informationen über das „richtige Verhalten“ werden von Individuen und Gruppen netzartig verbreitet, bis sie sich in den Körper eingeschrieben haben und im Körpererleben als selbstverständlich empfunden werden. Aber wie genau werden die Normen durchgesetzt? Welche Machttechniken sind dafür verantwortlich, dass sie verinnerlicht werden und die mit ihnen verbundenen Sanktionen die Macht bekommen, generationenübergreifend handlungsorientierend zu sein?

Diskrete Einflüsterungen der Werbeindustrie

Auf der Suche nach möglichen Gründen für die Durchsetzung bestimmter Schönheitsideale kommt man nicht umhin, medial vermittelte Botschaften und deren Wirksamkeit zu entschlüsseln. Die auf die Manipulation der Abnehmer ausgerichtete Werbung macht sich bestehende Trends zunutze, noch häufiger aber kreiert sie diese Trends erst. Sie weckt Bedürfnisse, die vorher nicht da waren, und bietet die Mittel, diese zu stillen. In der Literatur findet sich häufig die These, dass der enthaarte Körper sich erst über Jahrzehnte entsprechender Werbebotschaften als Schönheitsideal durchsetzen konnte. Die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Christine Hope kommt nach einer Durchsicht von Katalogen, Zeitschriften und Schönheitsratgebern zum Schluss, dass zumindest in den Vereinigten Staaten Frauen ihre Körperhaare nicht vor dem Ersten Weltkrieg rasierten. Die Enthaarung als gängige Schönheitspraxis hat sich erst zwischen 1914 und 1945 etabliert. Als verantwortlichen Motor für diese Entwicklung sieht die Autorin Werbekampagnen, die im benannten Zeitraum beständig zunahmen.

In Europa tauchen die ersten Werbemaßnahmen für Körperhaarentfernungsprodukte in den 1920er-Jahren auf. Auch wenn es sich dabei größtenteils um die Entfernung von Nackenhaaren handelt, die in Form von Stoppeln bei einem Bubikopf als ästhetisches Ärgernis dargestellt werden, zeichnet sich hier schon eine ganz bestimmte Argumentationsstruktur ab, die in den Folgejahren auch auf die Enthaarung von Achseln und Beinen Anwendung finden wird. Das Produkt „Exex“ wurde mit folgenden Worten beworben: „Enthaarungs-Milch Exex sollte jeder gebrauchen, um lästige, überflüssige und hässliche Haare im Gesicht und am Körper zu entfernen. Auf ästhetisch empfindsame Menschen wirken solch überflüssige Haare abstoßend und manche oft unbegreifliche Abneigung ist darauf zurückzuführen.“

Die Werbetexter der 1920er-Jahre bedienten sich einer belehrenden Rhetorik „von oben herab“. Der Text erinnert an die Ratgeberliteratur für junge Frauen, die zu jenen Zeiten in Mode war, sie ist der pädagogischen Strömung zuzuordnen, innerhalb derer junge Frauen von älteren und sozial höher stehenden Frauen über all die peinlichen und unangenehmen Situationen informiert wurden, in die sie geraten könnten, wenn sie nicht eine Reihe von Regeln befolgen würden, die darauf abzielten, die Frau zum tadellosen Weibchen zu stilisieren, das jedem, vor allem aber dem Gegenpol Mann, zu gefallen versteht. Diese Werbung bediente sich des ästhetischen Arguments und setzt auf die Hochschätzung des charakterlichen Merkmals „Empfindsamkeit“. Der „ästhetisch empfindsame“ Mensch reagiert mit Ekel, und das impliziert, dass der menschliche Grund seines Anstoßes seine Empfindsamkeit offensichtlich nicht teilt, dass er barbarische Züge trägt, die sich mit seinem Gemüt im Missklang befinden. Für die Frau, die als Garantin von Harmonie und Repräsentantin des Zarten und Tadellosen gelten will, ist die Vorstellung und die damit verbundene Angst, abstoßend und grob gefunden zu werden, natürlich ein plausibler Grund, über Körperhaarentfernung nachzudenken. Sie erfährt schließlich von den Werbetextern unverblümt auf direktem Wege, dass die Haare an ihrem Körper „lästig, überflüssig und hässlich“ sind. Das war ihr in ihrer Naivität vorher nicht bewusst, daher auch die „Unbegreiflichkeit“ der Abneigung ihrer Person gegenüber. Nun weiß sie den Grund: ihr naturbelassener Körper erregt Ekel. Die Haare müssen weg.

Dieses Beispiel aus Urgroßmutters Zeiten mag uns heute amüsieren. Zu direkt erscheint die Wahl der Worte, zu naiv und bearbeitungsbedürftig die Zielgruppe. Die Methoden und Techniken der Werbung sind diesen groben Kinderschuhen längst erwachsen und Wirksamkeit wird auf weit subtilere Weise erzeugt. Im Gegensatz zu den früheren Strategien werden die heutigen Kundinnen auf den ersten Blick nicht negativ, sondern positiv motiviert. Man erspart es ihnen, sich die ekelverzerrten Gesichter ihrer Freunde vorzustellen, die das „Pech“ haben könnten, ihrer Körperhaare ansichtig zu werden. Stattdessen wird die Enthaarungsprozedur als „fun way to treat yourself right!“ dargestellt. Auf den zweiten Blick entpuppt sich jedoch auch dieser Satz als Träger von negativem Motivierungsbestreben, weil die „richtige“ Behandlung des eigenen Körpers einen Gegenspieler in der „falschen“ Behandlung hat. Und darüber, was richtig und was falsch ist, bestehen in der US-amerikanischen Weiblichkeitskultur feste Vorstellungen: sich selbst „richtig“ zu behandeln, setzt Selbstachtung voraus. Wer Selbstachtung hat, das heißt, wer sich selbst etwas wert ist, betreibt gewissenhaft Körper- und Seelenhygiene. Sein Wert wird sich in den Augen seiner Mitmenschen widerspiegeln. Junge Mädchen wollen begehrenswert, selbstsicher und beliebt sein. Dank der Werbung wissen sie, dass die „spaßige“ Entfernung ihrer Körperhaare sie wenigstens vor einer Stigmatisierungsgefahr bewahrt. Die Werbesätze enthalten auch gleich die Information darüber, was „natürlich“ ist am Erwachsenwerden: nämlich nicht die Behaarung, die sich vom zarten Flaum in sichtbare Haare verwandelt, sondern die Nervosität, die mit diesen Veränderungen und den Gedanken an ihre Sichtbarkeit einhergeht. Auf diese Weise wird die Pubertät zu der Herausforderung, in die natürlichen Veränderungen einzugreifen, bevor die Natur der werdenden Frau ein Schnippchen schlägt.

Die Disziplinierung des reifenden Körpers

Für die Disziplinarmacht stellt der junge Körper mit seiner bereits vorhandenen, aber noch ungeformten und daher formbaren Sexualität einen besonders dankbaren Angriffs- und Eingriffspunkt dar. Viele Mädchen berichten in den Internetforen von erfahrener Ausgrenzung aufgrund ihrer Körperbehaarung. An den Eingangstoren zur Pubertät waren es zumeist die Gleichaltrigen, die erklärten, was zu tun und zu lassen ist. Jedoch nicht nur die Gleichaltrigen in der Schule sind an der gegenseitigen Disziplinierung ihrer Körper beteiligt, sie erhalten mittäterische Unterstützung von erfahrenen Akteurinnen, die einmal selbst durch die Sanktionenhölle gegangen sind: ihre Mütter. Und Anpassung ist das Ergebnis, weil die Möglichkeit des Widerstands als aussichtslos erlebt wird. Mütter fungieren also, nachdem sie selbst der Enthaarungsdiktatur zum Opfer gefallen sind, nach erfolgreicher Disziplinierung als Machtagentinnen, die die Fortpflanzung der selbst erfahrenen Disziplinarmacht in die nächsten Generationen sicherstellen – und sei es nur durch praktiziertes Vorleben im Sinne eines Nachahmens (Stichwort: Lernen an den „Models“).

Überwachen und Strafen des unangepassten Körpers und die diskursive Inszenierung des Ekels

Immer wieder taucht in den Internetdiskussionen die Aussage auf, dass es jeder Frau (und jedem Mann) selbst überlassen werden sollte, wie er mit seiner Körperbehaarung verfährt. Doch selten steht diese Toleranzbekundung für sich da, häufig wird sie begleitet vom Hinweis auf die Konsequenzen dieses Bruches mit der gesellschaftlichen Norm. Abhängig davon, wie die Person, die den Beitrag verfasst, selbst zu Körperbehaarung steht, fallen die angedrohten Konsequenzen in unterschiedliche Härtekategorien. Die Drohungen sind besonders bei Heranwachsenden wirksam, die in der Phase der körperlichen und psychischen Veränderungen besonders empfänglich für Verletzungen sind.

Die australischen Psychologinnen Marika Tiggemann und Christine Lewis haben 2004 die Einstellungen gegenüber weiblicher Körperbehaarung und die damit verbundenen Ekelpotenziale psychologisch untersucht. 98 % der teilnehmenden Frauen gaben an, sich regelmäßig an Beinen und/oder Achseln zu rasieren. Diese Frauen wurden im ihnen ausgehändigten Fragebogen aufgefordert, den Grund für ihre Rasur anhand von vorformulierten Items anzugeben. Die Frauen sollten ebenfalls angeben, weshalb sie glaubten, dass andere Frauen sich rasierten. Auf diese Weise haben Tiggemann und Lewis sowohl das subjektive Erleben der Frauen als auch die von ihnen verinnerlichten objektiven Strukturen erfassen können. Mit den Ergebnissen gestellter Assoziationsaufgaben konnten die Forscherinnen bestätigen, dass nicht entfernte Körperbehaarung mit Gefühlen des Ekels einhergeht. Tiggemann und Lewis ist es gelungen, anhand empirischen Materials die Überzeugung zu wecken, dass soziale Normen, die sich jenseits des individuellen Körpers ausbilden, subtil verinnerlicht werden, dass sie ummodelliert und übersetzt werden in Körperlichkeit. Erst derart in den Körper eingeschrieben, können sie sich stabilisieren und reproduzieren. Ihre sozial gesetzte Natur wird so weit verleugnet, dass/bis sie den Willen zur Auflehnung untergräbt. Ekel ist die Reaktion, die am häufigsten in Verbindung mit Körperhaaren empfunden wird.

Der Ekel steht in Zusammenhang mit Scham und dem Wunsch, diejenigen zu bestrafen, die den Ekel erregen. Körperhaare werden auf diese Weise in eine Reihe mit Benimmregeln gestellt, die zu brechen unser anerzogenes oder erst zu erlernendes Schamgefühl zu verhindern weiß.

Enthaarungspraxen und Zivilisationsprozess

Wie in dieser kursorischen Ausleuchtung des diskursiven Phänomens „(weibliche) Körperbehaarung“ angedeutet wurde, sind die Argumente, mit denen Körperhaargegner ihre Aversion verteidigen, nicht oder nur bedingt haltbar. Ästhetik erscheint als fragliches Konzept zur Beschreibung der rasierten Frau, betrachtet man den Schamhügel der Durchschnittsfrau, die mit Schnittwunden, Pickeln und eingewachsenen Härchen nicht mit einer engelsgleichen Skulptur mithalten kann. Dass sie einen hygienisch anstrebenswerten Vorteil dadurch hat, kann bezweifelt werden. Einerseits sind Verletzungen das Musterbeispiel für hygienische Gefährdung, andererseits kann man auch auf die Schutzfunktion von Schamhaaren verweisen. Auch das Sex-Argument kann nicht überzeugen. Es scheint, als würde bloß eine Empfindung gegen eine andere Empfindung eingetauscht, und nicht, wie manche Aussagen es suggerieren, das Unerotische gegen das Erotische, das Gefühlshemmende gegen das Gefühlsenthemmende. Bei den Begründungen für Aversion handelt es sich nicht um eine bloße Geschmacksfrage. Denn wenn es so einfach wäre, würde das Thema keinen so kontrovers behandelten Diskursgegenstand bilden. Es geht bei der Aushandlung der Legitimität von Körper- und insbesondere Schambehaarung um eine normative Frage, um eine moralische Frage, um eine Frage nach dem Menschen selbst und seiner Verortung in der Gesellschaft.

Es stellen sich nach dieser Betrachtung einige Rätsel: Wenn die Argumente, die vorgebracht werden, aus dem rational-pragmatischen Blickwinkel nicht valide sind, verschleiern sie die wahren Gründe? Wenn sie es tun, muss gefragt werden, welcher Natur diese Gründe sind und warum sie von vorgeschobenen Gründen (Ästhetik, Hygiene, Sexualempfinden) verschleiert, falls sie überhaupt bewusst werden.

Norbert Elias hat in seinem bekanntesten Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ (zuerst 1939) nachweisen können, dass das, was wir heute als Anstand schätzen und einander abfordern, sich seit dem Mittelalter fortschreitend konstituiert hat. Der Prozess, der hinter diesen Entwicklungen steht, ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass Menschen aus Gründen des persönlichen Vorteils gezwungen waren, ihr Verhalten und ihre körperlichen Bedürfnisse zu beherrschen und zu zügeln. Elias hat, um diese besondere Entwicklung zu illustrieren, hauptsächlich die Etappen, die sich in Benimmbüchern und Tischzuchten spiegelten, untersucht, und konnte anhand ausgewählter Beispiele zeigen, dass Gefühle wie Scham und Peinlichkeit gegenüber den natürlichen Vorgängen des Körpers beständig zunehmen. Diese Stärkung selbstregulierender Mechanismen geht mit einer Zunahme des Ekelempfindens einher. Das Prinzip lässt sich auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit Körperbehaarung anwenden.

Neben der Herstellung eines dem Menschen auch virtuell bewusst werdenden Interdependenzgefüges über die Werbung und andere Medienbotschaften spielt die Allgegenwart des Internets auf dem Hintergrund der Globalisierung dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Der öffentliche Diskurs ist für alle einsehbar, nicht umsonst sind Diskussionen in Internet-Foren eine besonders brauchbare Illustration dieser Überlegungen. Dem modernen Menschen fällt es leichter als früher, sich gesellschaftliche Regeln und Normen zu erschließen. Waren seine Unsicherheiten früher Anlass, einen vertrauten Menschen um Ratschläge und Meinungen zu bitten, Ratgeberliteratur zu lesen oder sich auf das Kopieren des Verhaltens seiner nächsten Umgebung zu verlassen, „googelt“ er sich heute die Antworten auf seine Fragen und landet in Diskussionsforen, die ihn aus den Sicherheiten seines sozialen Umfelds hinausheben in einen sehr viel größeren Zusammenhang, der die Ansichten von ganz unterschiedlichen Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund vereint, wobei jedoch selten der Eindruck von Meinungspluralität entsteht. Kommunikativ wird ein Konsens hergestellt, bei dem das Legitime vom Illegitimen getrennt wird  und der sich schließlich in der sozialen Praxis, hier: der sozialen Praxis der Körpermanipulation, niederschlägt. Der Mensch, der nach Orientierung sucht, hat es also mit der „ganzen Welt“ zu tun.

Die Entfernung der Körperbehaarung ist ein Beispiel dafür, wie die Natur über Triebe und Emotionen hinaus gezähmt werden kann. Nach der erfolgreichen Zähmung der Triebe muss das Äußere des Körpers unter Kontrolle gebracht werden. Die Zivilisiertheit muss sichtbar gemacht werden, und zwar bis in die intimsten Bereiche hinein. Verwendeten unsere Vorfahren noch Zeit und Energie darauf, körperliche Ausscheidungsvorgänge und Sexualtriebe zu leugnen, so ist es heute die sichtbare Natürlichkeit, die geleugnet werden will. Der Mensch will die letzten Anzeichen dafür ausmerzen, dass er mit dem Affen verwandt ist. Nichts darf darauf hinweisen, dass wir Produkte einer Natur sind, die uns in der Hand hat. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass zumindest der Eindruck entsteht, wir hätten sie in der Hand.

Will man in der Enthaarung des menschlichen Körpers einen Indikator für zivilisatorischen Fortschritt sehen, so stünden jedoch nicht die US-Amerikaner an der Spitze der Evolution, sondern beispielsweise sehr viel eher Gesellschaften, in denen der Islam durch den Koran die Enthaarung aller Menschen ab Kopf abwärts vorschreibt, also alle Haare bis auf die Kopfhaare und Augenbrauen. Könnte es also doch sein, dass die islamische Welt dem gottlosen Okzident vorauseilt? Den Haaren nach zu urteilen, könnte das der Fall sein, auch wenn wir Westler dies in den wenigsten Fällen empirisch überprüfen können. Wer von uns weiß schon, wie es unter bodenlangen Gewändern bei Männern und Frauen aussieht?

Es ist charakteristisch für die Veränderung des psychischen Apparats, schreibt Elias, „dass die differenziertere und stabilere Regelung des Verhaltens dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr als ein Automatismus angezüchtet wird, als Selbstzwang, dessen er sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewusstsein will“. Fremdzwänge werden zu Selbstzwängen. Sie werden zu Neurosen, denen nicht anders begegnet werden kann als durch Anpassung an das geforderte Verhalten, das geforderte Aussehen. Die Erziehung zum Ekel ist dabei ein mächtiges, obgleich paradoxes Mittel: indem nämlich eine „natürliche“ Reaktion auf Körperhaare hergestellt wird, wird Aversion gegen Natürlichkeit erzeugt. Es kommt, wenn man so will, zur Rationalisierung des Natürlichen durch Naturalisierung des Normativen. Dem Abweichler bleiben angesichts heftiger Ekelreaktionen seitens der Gesellschaft kaum Handlungsoptionen, die nicht durch Ablehnung bezahlt werden müssten: „Heute legt sich der Ring der Vorschriften und Regelungen so eng um den Menschen, die Zensur und der Druck des gesellschaftlichen Lebens, die seine Gewohnheiten formen, ist so stark, dass es für den Heranwachsenden nur eine Alternative gibt: sich der gesellschaftlich geforderten Gestaltung des Verhaltens zu unterwerfen oder vom Leben in der ‚gesitteten‘Gesellschaft’ ausgeschlossen zu bleiben.“

Wurde vor nicht allzu langer Zeit der weibliche Körper so angenommen, wie die Natur ihn geschaffen hatte, so wird er heute zum Objekt allgemeiner Besorgnis. Mit Klingen, Depiliergeräten und Enthaarungscremes wird der Körper „gereinigt“. Inzwischen sehen sich auch zunehmend Männer dieser Anforderung ausgesetzt, selbst wenn Mateja K. und ihre Kollegen dafür – wohl infolge der als geschlechtsspezifisch angenommenen Behaarungsdichte – mehr berechnen. Dies geschieht nicht aus hygienischen Gründen, sondern vor allem auf symbolischer Ebene, wo Hygiene und ein allgemeines Ästhetikdiktat dem Zivilisationsprozess als Scheinargumente übergestülpt werden. Das verwundert nach Elias nicht weiter, denn „die Zivilisation ist nichts ‚Vernünftiges‘; sie ist nichts ‚Rationales‘, so wenig sie etwas ‚Irrationales‘ ist. Sie wird blind in Gang gesetzt und blind in Gang gehalten durch die Eigendynamik eines Beziehungsgeflechts, durch spezifische Veränderungen der Art, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind.“

Die Gründe sind dem Menschen nicht bewusst, weil er sie längst verinnerlicht hat. Nunmehr sind es quasi-automatisch ablaufende (Re-)Aktionen. Der Zivilisationsprozess hat sich in den Körper eingeschrieben. Der Ekel ist das Bewusstsein über das ekelhafte Wesen der Dinge, die einer Gesellschaft als ekelhaft gelten. Fremdzwänge werden zu Selbstzwängen, aber weil das Konzept des Fremdzwanges gegen das Freiheits- und Selbstbestimmungsideal des zivilisierten westlichen Menschen verstößt, werden die äußeren, als unangenehm repressiv empfundene Zwänge ummodelliert in andere, mit dem Selbstverständnis der Zivilisierten kompatiblere Empfindungen: Erst ohne Haare sind wir zivilisierte Menschen, die den Primaten in uns vergessen machen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.