Die guten alten Zeiten

Francisco González Ledesmas „Gott wartet an der nächsten Ecke“ verstößt gegen alle Regeln des Krimi, macht aber deshalb eine Menge Spaß, weil er so herrlich weitläufig ist

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Krimis, in denen am Schluss Ermittler und Täter in der Länge und Breite die Tat, ihre Motivation, ihre Durchführung und alle Aktionen, die zur Vertuschung des Ganzen dienten, besprechen müssen, leiden an einem heuristischen Defizit, das man auch nicht durch die Zugabe eines Krimi-Vitamins beheben kann. Krimis, die die Motivation von Tätern ins Moralische verdrängen, stehen immer in Verdacht, zu sorglos gearbeitet zu sein. Krimis, die ihre Helden durch fremde Länder jagen und die Orte wechseln wie andere Leut die Hemden, ersetzen Handlung möglicherweise durch Exotismus und den Plot durch die Schilderung von Szenerien, die aus Reiseführern stammen könnten. Krimis, die mit großem Knall und möglichst entsetzlich beginnen, flachen meist schnell ab und enttäuschen schließlich durch ihre Banalität. Krimis, die ihrer Gegenwart allzu melancholisch begegnen, kommen in ihrem Klageeifer oft nicht mehr an sie heran und ihre Protagonisten (meist die Ermittler) haben es dann auch noch nicht allzu sehr mit der Plausibilität.

Francisco Gonzáles Ledesmas Krimis weist so ziemlich jeden Mangel eines mittelmäßigen und überbordernden Kriminalromans auf: Er beginnt mit einer Kinderleiche, hat einen melancholischen Helden, der den alten Zeiten nachtrauert, er entführt seine Leser in aller Herren und Damen Länder und seine Mörder sind vor allem eines: moralisch. Alles das sind böse Fehler, und dennoch: Das Buch ist unterhaltsam bis grandios, und man kann es sich aussuchen, ob das darauf zurückzuführen ist, dass er ungemein gut gearbeitet hat, um diesen Effekt zu erzielen, oder ob er sich jede Nachlässigkeit erlauben kann, ohne an Größe zu verlieren. Es gibt solche Autoren, denen anderer Leute Schlampereien zu großen Romanen geraten. Im Fall Ledesmas ist das Ergebnis außerordentlich unterhaltsam, so dass man in seinem Fall bereit ist, alles einzuräumen – Sorgfalt und Schlampigkeit.

Der Ermittler in „Gott wartet an der nächsten Ecke“ ist ein alternder, alkoholisierter und melancholischer Polizist, der den alten Zeiten nationaler Größe hinterhertrauert (eine Figur, die angesichts der spanischen Vergangenheit ungeheuerlich ist und die in einem deutschen Krimi nicht möglich wäre). Er schlägt sich von Mahlzeit zu Mahlzeit und von Weinflasche zu Weinflasche durch, immer mit dem melancholischen Blick auf das, was ihn umgibt, und keineswegs bereit, auf seine gewohnte Diät zu verzichten (die aus einer Reihe sehr fetter Speisen und sehr starker Alkoholika besteht).

Méndez verlässt eigentlich nie sein Viertel, und bei der Polizei vertraut man ihm nur die kleinen Fälle an – irgendwelchen Dieben und Kleinbetrügern hinterherrennen zum Beispiel.

Dieser Méndez nun findet die Leiche eines Kindes, das er anfangs für die Tochter eines seiner Lieblingsganoven hält, bis er feststellt, dass das Mädchen das Adoptivkind einer blinden, reichen Frau ist, die anscheinend erpresst wird.

Auch wenn die Frau zahlen wollte, ist das Kind getötet worden, und nun wird auch ihre zweite Adoptivtochter bedroht, was Méndez endgültig zum Eingreifen treibt. Denn so antriebsarm, versoffen und melancholisch er auch sein mag, Kindern mag er nicht gern etwas angetan sehen.

Interessanterweise ist Ledesmas Krimi anfangs als komplexes Verwirrspiel angelegt. Die ersten Erfolge bei der Ermittlung führen nur zum nächsten Rätsel, das auf seine Lösung wartet, die wiederum zum nächsten Rätsel führt.

Der Mörder des Mädchens ist schnell gefunden, wird beinahe geschnappt und versucht, einen Deal mit Méndez auszuhandeln. Um entkommen zu können und weil er geopfert werden soll, gibt er seinen Auftraggeber preis, einen korrupten Polizisten. Der aber wird beim Besuch Méndez’ erschossen, sodass die Ermittlung wieder zu stocken beginnt. Und so weiter und so weiter. Jedem Schritt folgt eine Wendung, die ins Leere führt, bis Ledesma seinem Text einen radikalen Charakterwechsel verordnet. Aus dem Rätselspiel wird eine Verfolgungsjagd, bei der sogar die Killer bekannt zu sein scheinen (aber so einfach ist es dann doch nicht). Die Familie des getöteten Mädchens flieht mit dem zweiten Kind nach Ägypten (warum auch nicht), der Täter folgt ihr offensichtlich, denn einer nach dem anderen werden die Beschützer getötet. Schließlich kommt es zum Showdown, an dessen Ende dann auch noch alles erklärt wird, denn Beweise gibt es auch jetzt nicht.

Eine wilde Jagd das Ganze also, und wenig plausibel, aber dennoch ist Ledesmas Roman grandios und sehr sehr unterhaltsam. Womit ein weiteres Mal erwiesen wäre, dass die Regel (was ist ein guter Krimi?) nichts ist gegen die Ausnahme (das ist ein guter Krimi).

Titelbild

Francisco González Ledesma: Gott wartet an der nächsten Ecke. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Sabine Giersberg.
Bastei Lübbe, Köln 2011.
413 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783431038262

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