Kontinuitäten aus der Nazivergangenheit

Christine Ullrich schildert, wie „die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft“ gelingen konnte und Franz Albert Heinen widmet sich den „NS Ordensburgen“ Vogelsang, Sonthofen und Kössinsee

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ist eine andauernde Herausforderung. Zu dieser Vergangenheit gehört mehr als sechzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Regimes auch die Zeit danach. Es gab nicht die Stunde Null in Deutschland, die das Geschehene von nun an abtrennte von dem, was eine neue Zukunft bringen sollte. Im Gegenteil: Kontinuitäten blieben wirksam und prägten die Nachkriegsgellschaft.

Eine dieser Kontinuitäten war (und ist bis heute) nur schwer zu ertragen: die Folgen der „Integration von NS-Täten in die Nachkriegsgesellschaft“. Dieser zweifelhaften Leistung der Nachkriegsgesellschaft widmet sich die Historikerin Christina Ullrich in ihrem Buch „Ich fühl’ mich nicht als Mörder“. Am Beispiel von 19 Männern, die als ‚ganz normale‘ SS-Angehörige aktiv an den Morden an tausenden Menschen, zumeist Juden, im Osten Europas beteiligt waren, erkundet sie, wie diese Männer nach 1945 wieder zu ‚ganz normalen‘ Bürgern werden konnten. Unbehelligt gingen sie ihren alten Berufen wieder nach, einigen von ihnen gelang der Wiedereintritt in den öffentlichen Dienst, vor allem in den Polizeidienst, in dem sie wenige Jahre zuvor zu Tätern geworden waren. Ihr prominentester Vertreter, der zugleich den höchsten Rang in der jungen Bundesrepublik erreichen konnte, war Georg Heuser. „Maßgeblich und in führender Position“ nahm der SS-Hauptsturmführer seit 1941 an Judenvernichtungsaktionen in Minsk teil. Er leitete Erschießungsaktionen, nahm selbst als Schütze an solchen Mordaktionen teil, führte Aufsicht bei der Ermordung von Juden in Gaswagen, mordete zudem eigenhändig in mindestens drei Fällen. Nach 1945 bereitete er als falscher Doktor der Rechtswissenschaften seine neue Laufbahn vor. Mit gefälschten Angaben erschwindelte er sich schließlich Anfang der 1950er-Jahre seine Wiedereinstellung in den Kriminalpolizeidienst des Landes Rheinland-Pfalz. Dort machte er Karriere: als er 1959 verhaftet wurde, war er Leiter des Landeskriminalamtes.

Wie war das möglich? Wie gelang die Integration dieser Täter, bei denen aus heutiger Sicht die Diskrepanz zwischen ihren schrecklichen Taten und der ‚Normalität‘ ihrer Karrieren nach 1945 besonders markant ist? Wer half ihnen? Warum ‚übersah‘ man so bereitwillig ihre Taten?

Die Autorin beschreibt drei Phasen der Integration. Die erste Phase „Transition“ meint die unmittelbare Zeit des Kriegsendes. Sie begann für die meisten der Täter in Kriegsgefangenschaft. Die Internierung war eine reale Gefahr, wenn man von den Alliierten als Täter erkannt wurde. Schaffte man es aber durch falsche Papiere und Angaben unerkannt zu bleiben, so bot gerade diese Übergangszeit gute Gelegenheit, eine Strategie zur aktiven Gestaltung der Zeit nach der Entlassung zu treffen.

Es folgten die Verfahren zur Entnazifizierung während der „Integrationsphase I“. Nun konnten sich die Täter mit ihren inzwischen sorgsam „angepassten Lebensläufen“ aber auch mit „Argumentationsmustern und Rechtfertigungen“, wie zum Beispiel Befehlsnotstand und fehlgeleiteter Idealismus, die später zum Standardprogramm der Entlastung werden sollten, vielfach darauf verlassen, dass diese Selbstbilder auf Akzeptanz stießen. Zum einen fehlte den Spruchkammern vielfach (noch) das historische Wissen, die Angaben der Täter zu überprüfen oder gar in Frage zu stellen, zum anderen ergänzten ehrenamtliche Erklärungen von Angehörigen des Ehemaligennetzwerkes die Angaben der Täter. So entstand das Bild anständiger und pflichtbewusster Männer. Konnte man denn diese Männer mit normalen Kriminellen gleichsetzen?

Und waren nicht eigentlich andere die „wirklichen“ Täter? Sie waren schuld: der engere Kreis um Adolf Hitler, brutale Exzesstäter oder ‚gewissenlose‘ Nutznießer des Regimes. Mit solchen Einschätzungen hatte die Gesellschaft „ihren Frieden nicht nur mit den Mitläufern sondern auch mit den NS-Tätern und Kriegsverbrechern gemacht“. Und so konnte die soziale Reetablierung in der „Integrationsphase II“ vollendet werden. Die Lebenswelten der sich „anständig“ und pflichtbewusst einfügenden Täter, so schreibt die Autorin zusammenfassend, „glichen denen vieler anderer Deutscher. Sie waren angekommen in der Bundesrepublik, in der Mitte der Gesellschaft“.

Der Frieden freilich beruhte auf falschen Voraussetzungen. Die Lügen und Legenden der Täter wurden in dem Maße aufgedeckt, wie das Wissen über die komplexen Zusammenhänge der Nazi-Terrorherrschaft zunahm. Eine zunehmend kritischer nachfragende Öffentlichkeit widersetzte sich dem stillschweigenden Konsens und forderte Konsequenzen. Der „Ulmer Einsatzgruppen-Prozess“ machte 1958 erstmals einer breiten Öffentlichkeit den tatsächlichen Umfang der Nazi-Verbrechen deutlich. Nun traf es auch die scheinbar so ‚normalen‘ Mitbürger und sie mussten mit Aufdeckung und strafrechtlicher Verfolgung rechnen.

Christina Ullrich erklärt anschaulich und nachvollziehbar, wie in einer frühen Phase der jungen Bundesrepublik, die Integration von NS-Tätern funktionieren konnte. Sie profitierten von einem gesellschaftlichen und politischen Klima, in dem die unmittelbare Vergangenheit nur sehr selektiv thematisiert wurde. In dem Maße aber, wie die so bewirkte Verdrängung der Wirklichkeit aufgebrochen wurde, verloren die Täter ihren Halt.

Eine andere Kontinuität stellen die baulich-architektonischen Hinterlassenschaften des Regimes dar. Auch hier brauchte es einen langen Weg zur kritischen Aufarbeitung, ehe ein selbstbewusster Umgang mit diesen Relikten möglich werden konnte. Wurden in einer ersten Phase nach dem Zusammenbruch des Regimes noch besonders markante Repräsentationsbauwerke und -symbole wie zum Beispiel die „Ehrentempel“ am Münchner Königsplatz oder die Aufbauten der Haupttribüne des Zeppelinfeldes auf dem ‚Nürnberger Reichsparteitagsgelände‘ von den Alliierten spektakulär gesprengt, so gerieten viele Bauten der Nazis bald schon wieder ins Vergessen. Völlig aus dem Blick gerieten jene Bauten, die ‚bequemerweise‘ nach dem Krieg wieder einer Nutzung zugeführt werden konnten. Aus heutiger Sicht wirkt die Unbefangenheit, mit der beispielsweise die Stadt München lange Jahre mit ‚ihren‘ Bauten der Nazizeit umging, wahlweise naiv oder unverschämt. Jedenfalls brauchte es das kritische Bewusstsein jüngerer Zeitgenossen, damit die Bauten als ‚Täterorte‘ wieder thematisiert wurden.

So erging es auch den „NS-Ordensburgen“ Vogelsang, Sonthofen und Krössinsee. Diese als Schulungsstätten für den Nachwuchs der NSDAP geplanten „Ordensburgen“ sollten Teil einer umfassenden nationalsozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft werden. Franz Albert Heinen informiert in seinem Buch über die drei Orte, wobei der Schwerpunkt seiner Darstellung auf dem in der Eifel liegenden Vogelsang liegt, über die Planungen zu diesen größenwahnsinnigen und nie vollständig vollendeten Projekten, ihre Nutzung während der Nazizeit und schließlich die Nutzung nach 1945. Alle drei Orte wurden nach 1945 militärisch genutzt und waren der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Nur in Vogelsang änderte sich das, nachdem 2005 die belgischen Truppen den Truppenübungsplatz Vogelsang aufgaben. Seit 2006 ist Vogelsang zu besichtigen. Ein Besucherzentrum informiert über die Geschichte des Ortes.

Titelbild

Christina Ullrich: "Ich fühl' mich nicht als Mörder". die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2011.
354 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783534238026

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Titelbild

Franz Albert Heinen: NS-Ordensburgen. Vogelsang, Sonthofen, Krössinsee.
Ch. Links Verlag, Berlin 2011.
216 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783861536185

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