Suche nach den Wurzeln

Anna Mitgutschs Psychogramm eines jüdischen Emigranten

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haus der Kindheit - das klingt so traut, nach Heimat und Geborgenheit. In Anna Mitgutschs neuem Roman ist dieses Haus der Kindheit aber ins dunkelste Kapitel der jüdischen Geschichte in Österreich gebaut. Es steht in der Kleinstadt H. und gehörte vor dem Krieg der Familie von Max Berman, um dessen Kindheit es hier geht. Seine Eltern emigrierten Ende der zwanziger Jahre nach New York. Während die Mutter, vom Vater verlassen, verarmt und in stetigem Abstieg in immer trostloseren Wohnungen haust, ist das Foto des Hauses in H. wie ein "Schwur, ein Versprechen einzulösen". Max' eigene Erinnerungen an das Haus, ein Gefühl von Helligkeit und Weite, vereinen sich mit den Fantasien der Mutter von einem Leben in behüteter Sicherheit im Schoß einer großen stolzen Familie. Von den Verwandten, die in Europa geblieben sind, hat keiner überlebt. Das Foto ist das einzige, was bleibt.

Soweit die Exposition des klar aufgebauten Romans. Im Folgenden unternimmt Max drei Versuche, sich dem Haus der Kindheit zu nähern. Das erste Mal, im Herbst 1945, als amerikanischer Soldat, findet er es von fremden Menschen bewohnt. Die Mutter, vom Schmerz um die vielen Toten verstört, will nun nichts mehr davon wissen, fürchtet die Erinnerung, verbannt auch die deutsche Sprache, die das Erinnerte in Bilder fassen könnte, aus ihrem Umkreis. 1974, nach dem Tod der Mutter, fährt Max zum zweiten Mal nach H. Er ist inzwischen erfolgreicher Restaurator edler Häuser und kennt New York von der feinsten und teuersten Seite. Nun will er das Haus der Kindheit zurück. Es ist im Besitz der Stadtverwaltung von H. und ziemlich heruntergekommen. Er verlangt ein Rückstellungsverfahren. Seine Forderung nach Gerechtigkeit prallt am Bürokratenamtsdeutsch ab. Die Mieter, SA-Nachkommen, haben Wohnrecht auf Lebenszeit. Aus den Akten springt ihn die Tragödie seiner Familie an. Die kostbaren Details seiner Erinnerung finden sich wieder auf der Inventarliste des von den Nazis konfiszierten Hauses.

In den neunziger Jahren - er selbst ist schon siebzig und hat eine Bypass-Operation hinter sich - kommt Max zum dritten Mal nach H. Das Haus ist jetzt frei, er will es renovieren, sein Lebenswerk krönen. Aber der Plan funktioniert nicht. Die Sehnsucht, endlich die Wurzeln zu finden, sich zugehörig zu fühlen, erfüllt sich nicht. Das Haus ist fremd, löst die Erinnerung nicht ein. Die kleine jüdische Gemeinde in H. kann ihm nicht wirklich Heimat sein. Er fühlt sich enttäuscht, einsam, alt. Freunde aus Amerika, Emigranten wie er, fragen am Telefon: "Wie kannst du nur unter diesen Leuten leben?" Immerhin hat er, dem Gedächtnis der Mutter zuliebe, im Haus der Kindheit jede Jahreszeit einmal verbracht, bevor er endlich das Flugzeug zurück nach New York besteigt.

Anna Mitgutsch greift in diesem Buch die Themen auf, die sie seit ihrem ersten großen Erfolg "Die Züchtigung" (1985) bearbeitet: die Suche nach den Wurzeln, Formen der Ausgrenzung, die Heimatlosigkeit zwischen den Kulturen und Sprachen. Und auch das komplizierte Wechselspiel von Erinnern und Erfinden, das Gegenstand ihrer "Grazer Poetikvorlesungen" (1999) ist. Im Brennpunkt steht das Schicksal der jüdischen Emigranten. Die Familiengemeinschaft vernichtet, der Zugang zum Haus der Kindheit (real und symbolisch) abgeschnitten - wie kann ein Mensch unter diesen Umständen äußere und auch innere Heimat finden? Welche Chancen der Ganzwerdung hat er am Ende des Lebens? Anna Mitgutsch kennt sich offenbar aus in der Psychologie der Grenzgänger und Heimatlosen. Der Konflikt, vielschichtig und unbegreiflich, bleibt ungelöst. Mit Max, dem eleganten, aber im Grunde bindungsunfähigen Genießer, der Frauen aufnimmt, formt und wieder stehenläßt wie hübsche Einrichtungsgegenstände, ist ihr eine überzeugende, authentisch wirkende Charakterstudie gelungen, so wie das Buch überhaupt sich weniger wie ein Roman, eher wie eine aus einer gewissen Distanz verfaßte Studie liest. Eine ganze Reihe von Nebenfiguren mit jüdischen Wurzeln, vor allem Frauen, suchen in Variationen von Sehnsucht und Abwehr ihre jeweils eigenen Antworten auf die Frage: Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Soweit die Frauen durch Max' Augen gesehen werden, sind sie wenig konturiert, verwechselbar. Eine aber, Nadja, ist herausgehoben, indem sie eine eigene Erzählperspektive bekommt. So kann sie Max den Spiegel bieten für seine Liebesunfähigkeit. "Sein ganzes Leben erschien ihm plötzlich so unpersönlich und weit weg wie dieses Haus."

"Erinnerungsverlust bedeutet die Desintegration der Persönlichkeit," schreibt Anna Mitgutsch. Die Erinnerungen an das Haus der Kindheit sind lebensnotwendig, auch wenn sie nicht der Wirklichkeit entsprechen, sondern erdichtet und aufgeladen sind mit der Bedeutung, die der Erinnernde ihnen für sein Leben geben will. So entfaltet sich Anna Mitgutschs Sprache am wärmsten in der Beschreibung von Max Bermans innerer Welt, dem Haus der Kindheit, wie es ihn, ungedämpft durch die Realität, als beschworene Hoffnung durchs Leben getragen hat. Der Glanz der Bilder findet dann auch Eingang in die Erinnerung des Lesers, wie eine Wiederkennung und Sehnsucht nach Weite und Helligkeit.

Titelbild

Anna Mitgutsch: Haus der Kindheit.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000.
320 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3630870643

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