„Eine der populärsten literarischen Gattungen“

Ein von Matteo Galli und Simone Costagli herausgegebener Sammelband zur Genealogie und zum Kontext deutscher Familienromane

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der weltweit erfolgreichste Familienroman erschien 1901 und wurde 1929 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet: „Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Er schildert bekanntlich den „Verfall einer Familie“. Spätestens seitdem ist „Familie“ ein beliebtes, aber eben auch problematisches Thema – nicht nur der Literatur. Freilich kam das Genre zwischendurch auf den Hund und galt in der Nachkriegszeit als trivial. Es feierte als soap-opera im Vorabendprogramm des Fernsehens Urständ (1971-1980: „Die Onedin-Linie“; 1978-1991: „Dallas“) und ist dort auch nicht totzukriegen (2008-09: „Geld.Macht.Liebe“). Spätestens seit Jonathan Franzens „Korrekturen“ (2001) aber wird der Familienroman auch in der Hochkultur international wieder hoch gehandelt, und zwar nicht zuletzt, weil die realistische Erzählweise des 19. Jahrhunderts „wieder voll salonfähig ist“ (Moritz Baßler). Sigrid Weigel vermutete, die „Wiederentdeckung der Familienbande“ in der jüngsten Literatur verdanke sich dem Wunsch, einen neuen „Zugang zu einem verschwiegenen Wissen der Geschichte“ zu finden.

2008 organisierten die Germanisten Matteo Galli und Simone Costagli eine wissenschaftliche Tagung zum deutschen Familienroman im internationalen Kontext, dessen Akten nunmehr als Buch erschienen. In 17 wissenschaftlichen Aufsätzen und einem erzählerischen Essay wird die Gattung seit ihrem Populärwerden im 19. Jahrhundert beleuchtet, genauer gesagt anhand verschiedener Beispiele seit Wilhelm Raabe und Rainer Maria Rilke, wobei der Schwerpunkt auf den Romanen liegt, die um 2000 erschienen (Stephan Wackwitz, Uwe Timm, Marcel Beyer, Ulla Hahn, Dagmar Leupold, Annette Pehnt, Jonathan Litell und Feridun Zaimoglu sind einige der ausführlicher behandelten Autoren). Die Spanne reicht dabei von der bloßen Präsentation des Materials bis zu systematisch ambitionierten Aufsätzen.

Insgesamt wird deutlich, dass der Familienroman von Anfang an ein Krisenphänomen ist. Schon im 19. Jahrhundert, als die Familie oftmals nicht nur Hintergrund, sondern Schauplatz des Geschehens war, trat der Roman häufig mit dem „Wunsch nach Erneuerung des Familienlebens“ auf, was zeigt, dass die Ordnung der Familie, allen ideologischen Behauptungen zum Trotz, als prekär erlebt wurde. Allerdings wurde Familienlosigkeit (als Hagestolz, alte Jungfer oder Waisenkind) häufig als soziales Stigma dargestellt, während die Protagonisten der klassischen Moderne regelmäßig alleinstehend (also Junggesellen) sind, ja mitunter nicht nur ihre Familien, sondern auch den Familiennamen verloren haben (etwa Kafkas K., Robert Musils Ulrich). Inzwischen aber scheint die Familie mindestens als utopisches Moment („ein unsichtbares Land“), wenigstens in der Aufarbeitungsliteratur der sogenannten dritten Generation, in Deutschland also der Enkel von Tätern beziehungsweise Opfern der Nazizeit, wieder aufzuerstehen. Dies hat allenfalls indirekt mit dem demografischen Wandel zu tun, sondern dürfte vielmehr ein Reflex kultureller Verunsicherung sein. Überhaupt ist „Familie“ (um mit Pierre Bourdieu zu reden) in erster Linie ein „Papiergebilde“, das heißt keine soziale Realität, sondern ein begriffliches Werkzeug, mit dem diese erst hergestellt wird.

Hugo von Hofmannsthal hatte 1895 schon prononciert formuliert: „Für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt der Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte.“ Daraus zieht Britta Herrmann in ihrem Aufsatz zu Raabe den Schluss: „Je mehr sich die Familie in und als Fiktion zeigt, desto weniger mag ihr zwar eine reale soziale Struktur korrespondieren – doch umso stärker funktioniert ‚Familie‘ als ein gesellschaftspolitisches Ordnungswort […]. Welches Modell der Familie jedoch als Norm erscheint, hängt zusammen mit den Bedürfnissen und Ängsten einer Gesellschaft – es ist also Ausdruck des kulturellen oder sozialen Imaginären.“ Die Gegenwart scheint dabei vor allem dadurch gekennzeichnet, dass nirgendwo ein „einheitliches verallgemeinerbares Modell“ von Familie existiert, worauf Jörg Thomas Richter hinweist, was allerdings umso leichter mache, die „Familie“ als Medium der „Reflexion alternativer sozialer Wirklichkeiten“ zu benutzen.

Leider wird das in den seltensten Fällen dazu genutzt, auch alternative ästhetische Modelle auszuprobieren. Stattdessen tendiert der Familienroman zu einem trivialen Realismus. Als eine der seltenen Ausnahmen präsentiert Moritz Baßler den Roman „Waffenwetter“ (2007) von Dietmar Dath, der das Genre nicht benutze, um zu fragen, „wie die Großelterngeneration an den Taten der Nazis beteiligt war, sondern umgekehrt, um zu fragen, was wir, die Enkel, gegen die Bedrohungen unserer Zeit zu tun gedenken“. Und indem „er erkennt, dass diese Frage keine des Familienzusammenhangs mehr ist, kippt der Roman die Familienhandlung über Bord, verzichtet dadurch auf Schließung und steuert ins Fantastische einerseits, in den außerliterarischen Diskursraum des World Wide Web andererseits“.

Mag Daths Vernetzung des Romangeschehens mit der virtuellen Realität des Internet (vgl. auch die Rezension in literaturkritik.de) die Grenzen des traditionellen Familienromans auch am entschlossensten sprengen, so ist gleichwohl darauf hinzuweisen, dass die gegenwärtigen Familienromane öfter dazu tendieren, die Narration mit essayistischer Reflexion zu verbinden oder zu durchmischen. Vermutlich ist dies durch das Bedürfnis der Autorinnen und Autoren bedingt, den häufig halbautobiografischen Geschichten eine allgemeinere Verbindlichkeit zu geben, ja die eigene Familiengeschichte mehr oder weniger repräsentativ zuzurichten oder in einen Kommentar zur Epoche zu verwandeln. In diesem Zusammenhang wird in dem Sammelband auch häufiger auf Sigmund Freuds psychologischen Begriff des „Familienromans“ rekurriert, bei dem es darum geht, „die äußere Scheinwelt durch die innere Wunschwelt zu bewältigen“. Allerdings scheint die Wunschwelt der Gegenwartsliteratur eher einem negativen Fantasma zu gleichen als dem sentimentalen Bild einer genealogisch heilen Kette. Aber, wie gesagt: Krisenphänomen war der Familienroman schon immer.

Der vorliegende Sammelband bietet eine Vielzahl von Denkanstößen zu dem Themenbereich. Nur schade, dass das Buch vom Reflexionsniveau her sowie in methodischer oder auch nur gegenständlicher Hinsicht wenig geschlossen wirkt. Auch der Untertitel der Einleitung („Vom Familienroman zum Generationenroman“) suggeriert eine Entwicklungsgeschichte, an der die wenigsten Autorinnen und Autoren des Bands mitschreiben, geschweige denn dass die erzählende Literatur diesem Modell gehorchen würde. Immerhin bietet die Einleitung von Matteo Galli und Simone Costagli aber einen brauchbaren Forschungsbericht. Wahrscheinlich ist es noch zu früh, um die zur Zeit mal wieder florierende Gattung in ihrer ästhetisch-reflexiven Leistung für unsere Gegenwart präzise einzuschätzen und von älteren Darstellungsmodi überzeugend abzugrenzen; daher haben auch Sammlungen, die die Disparatheit des Materials unerschrocken zur Schau stellen, ihren nicht zu unterschätzenden Wert.

Titelbild

Matteo Galli / Simone Costagli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2010.
262 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770550029

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