Überfordert

Gudrun Wedel hat sich mit ihrem Lexikon „Autobiographien von Frauen“ eine Recherche-Arbeit aufgebürdet, die alleine schlicht nicht zu bewältigen ist

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

179 Euro, das ist schon ein recht stolzer Preis, auch für ein dickleibiges Lexikon von rund 1.250 Seiten wie das von Gudrun Wedel erstellte Nachschlagewerk zu „Autobiographien von Frauen“. Außergewöhnlich ist ein solcher Preis aber nicht. Außergewöhnlich ist vielmehr, dass ein derart voluminöses Werk von nur einer Person verfasst wurde. Und dies nicht nur wegen seines Umfangs, sondern auch wegen der zweifellos überaus aufwändigen Recherchearbeit, die ein solches Lexikon erfordert. Ohne einen eingegrenzten Untersuchungszeitraum wäre ein solches Vorhaben sicher gar nicht realisierbar gewesen. So beschränkt sich der Band auf deutschsprachige Frauen, die im 19. Jahrhundert geboren wurden.

Eine Vorstellung des exorbitanten Rechercheaufwands gewinnt man, wenn man sich vor Augen führt, dass der Korpus des Lexikons rund 6.000 autobiografische Texte von nahezu 2.250 Frauen umfasst. Darunter etwa 4.600 „autobiographische Publikationen“, von denen wiederum 2.300 als selbständige Publikationen, 1.400 in Sammelwerken und 900 in Periodika veröffentlicht wurden.

Wie die Verfasserin in den „Hinweisen zur Benutzung“ darlegt, beabsichtigte sie vernünftigerweise keineswegs, ein „abschließendes Ergebnis“ ihrer Recherchen vorlegen zu können. Vielmehr bietet das Lexikon ‚nur‘ „den aktuellen Stand meiner Recherchen und inhaltlichen Erschließung“ – eine Selbstverständlichkeit, die sie mit einem gewissen Bescheidenheitsgestus und in der Hoffnung formuliert, dass ihre ‚Vorarbeiten‘ „als Basis einer über Internet recherchierbaren Datenbank der autobiographischen Schriften von Frauen“ dienen werden. Da digitale Daten jedoch bekanntlich nicht selten flüchtig sind, das Internet ebenso oft unzuverlässig und die Entwicklung neuer Hard-und Software immer rasanter vonstatten geht, so dass morgen womöglich schon nicht mehr abrufbar sein wird, was heute eingegeben wurde, ist es umso begrüßenswerter, dass Wedels Lexikon jedenfalls schon mal in gedruckter Form vorliegt.

Die Autorin hat sich die immense Arbeit aufgebürdet, die „Fülle und Vielfalt derjenigen autobiographischen Texte von Frauen zu beschreiben, die zu ihren Lebzeiten und auch noch danach an die Öffentlichkeit gelangten“, und zwar ganz unabhängig von einer „wie immer definierten Bedeutung der Autobiographin“, der „literarischen Qualität“ und des Umfangs ihres autobiogragfischen Textes. Hingegen war Wedel insbesondere daran gelegen, „bislang unbekannte Autobiographinnen aufzunehmen“. Zudem galt dem „Spektrum der autobiographischen Kleinform“ ihre „besondere Aufmerksamkeit“. Unter der Rubrik „Weitere Selbstzeugnisse“ nennt das Lexikon zudem „publizierte […] Briefe, Tagebücher und Reisebeschreibungen der Autobiographinnen“. Außerdem werden etwa 100 „Werke“ genannt, die „einen autobiographischen Bezug vermuten lassen oder suggerieren“. Hinzu treten schließlich etwa 700 Veröffentlichungen von „Personen im Umfeld“ der jeweiligen Autobiografin.

Im Aufbau sind die Einträge sinnvollerweise vereinheitlicht und beginnen (1.) mit der Namensnennung beziehungsweise den Namensformen der jeweiligen Autobiografin. Ihnen folgen (2.) jeweils Kurzbiografien mit je nach Quellenlage verschiedenen Unterpunkten, wie etwa einen „Nachlaß“ betitelten, der „Hinweise auf Standorte“ von autobiografischen Manuskripten enthält. In einem weiteren, „Lex.“ betitelten Unterpunkt werden „ausgewählte Nachschlagewerke, die weiterführende biographische Informationen, insbesondere Werkverzeichnisse, enthalten“, genannt. Solche Lexika, versichert die Autorin, würden nur „dann aufgeführt, wenn es wenige oder nur ältere Sekundärliteratur zur Autobiographin gibt“.

Hier ist nun eine erste, dafür aber umso lautere Kritik vorzubringen. Wiederholt verweist die Autorin auf die ebenso unzuverlässige wie proteische Internetseite Wikipedia, die bekanntlich keinerlei wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, noch diese überhaupt auch nur erhebt. Erinnert sei an den entsetzten Ausruf des Wikipedia-Mitbegründers Jimmy Wales, der nach einem Vortrag vor Studierenden der University of Pennsylvania auf die Klage, Wikipedia sei unzuverlässig, entgeistert erwiderte: „Um Himmels willen! Ihr seid doch auf dem College. Wie könnt ihr da diese Enzyklopädie für eure Studien nutzen!“ Wedel aber fordert ein ums andere Mal dazu auf, Wikipedia zu konsultieren, entgegen ihrer Versicherung in den „Hinweisen zur Benutzung“ sogar auch dann, wenn zahlreiche und aktuelle Veröffentlichungen zu den Frauen und ihren Autobiografien vorliegen, wie etwa im Falle Lou Andreas-Salomés, Franziska zu Reventlows oder Hedwig Dohms. Eine andere, weit verlässlichere biografische Internet-Datenbank nennt die Autorin hingegen unverständlicherweise überhaupt nicht: Luise F. Puschs umfangreiche Datensammlung zur Frauen-Biographieforschung: „FemBio“.

Den Angaben zu den Biografinnen (mit den Hinweisen auf Nachlässe und Lexika) folgt der dritte und zentrale Teil der jeweiligen Einträge. Er trägt den Titel „Autobiographische Publikationen“.

Und hier ist nun die zweite, noch schwerwiegendere Kritik notwendig. Denn Wedel subsumiert darunter auch fiktive Texte wie Romane und Erzählungen. Beispielhaft angeführt seien wiederum die Einträge zu Franziska zu Reventlow und Hedwig Dohm genannt. Von Reventlow werden unter anderem die Romane „Ellen Olestjerne“ und sogar „Herrn Dames Aufzeichnungen aus einem merkwürdigen Stadtteil“ unter dieser Rubrik geführt, von Dohm „Sibilla Dalmar“ und „Schicksale einer Seele“. Wie trügerisch die autobiografische Lektüre gerade der literarischen Texte Dohms ist, hat Isabel Rohner unlängst in ihrer Studie „In litteris veritas“ herausgearbeitet.

In dem „Autobiographische Publikationen“ betitelten Teil der Einträge nennt Wedel des Weiteren Paratexte und Vorstufen der aufgeführten Publikationen. Zudem gibt sie auch Veröffentlichungen an, die nur Auszüge bieten.

Unter Punkt 4 folgen „weitere publizierte Selbstzeugnisse“ wie Tagebücher, Briefe und Reisebeschreibungen. Punkt 5 fasst unter dem Titel „Werke“ Publikationen, deren Titel fälschlicherweise vermuten lassen kann, es handele sich um autobiografische Schriften. Das ist sinnvoll, allerdings ist der Rubriktitel irreführend. Denn bei allen Schriften, auch den Autobiografien handelt es sich um Werke der Autobiografin. Als Punkte 6. und 7. folgen „Selbstzeugnisse aus dem Umfeld“ der Autobiografin und „Sekundärliteratur“.

Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Mammut-Aufgabe von einer einzelnen Person kaum zu bewältigen ist, und sei es in noch so langer Recherche-Arbeit. So weist das Lexikon denn neben den bereits genannten noch weitere Unzulänglichkeiten und Fehler auf. Es sei nur noch einmal auf den Eintrag zu Reventlow verwiesen. Geradezu unverzeihlich ist etwa, dass ausgerechnet die einzig verlässliche Edition von Reventlows Tagebüchern ungenannt bleibt. Auch verschweigt Wedel, mit wem Reventlow den unter dem Titel „Wir üben uns jetzt wie Esel schreien…“ edierten Briefwechsel führt. Es ist Bohdan von Suchocki.

Bei aller Kritik bleibt jedoch festzuhalten: Gudrun Wedel hat eine beachtliche Arbeit geleistet und ein trotz diverser Mängel sehr hilfreiches Buch vorgelegt, insbesondere, was Recherchen zu weniger bekannten Frauen betrifft. Zwar dürfte sein Preis das Budget der meisten potentiellen KäuferInnen sprengen, etwas anders sieht es trotz der Misere öffentlicher Haushalte immerhin bei den Bibliotheken aus. Auch wenn sie deren Etat für Neuerwerbungen arg strapazieren mag, sei ihnen diese Anschaffung ausdrücklich empfohlen.

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Gudrun Wedel: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon.
Böhlau Verlag, Köln 2010.
1286 Seiten, 179,00 EUR.
ISBN-13: 9783412205850

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