Welche Werke wirk(t)en wirklich?

Dirk van Laar gibt mit „Literatur, die Geschichte schrieb“ einen Sammelband zur historischen Wirkung von Literatur heraus

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel verheißt Spannendes und Interessantes und ist Wasser auf die Mühlen all jener, die schon immer die Bedeutung von Literatur für die Gesellschaft gesehen haben. Dass Literatur diese Bedeutung hat, ist unbestritten – Literatur ist, als Abbild der Welt, in der sie entsteht, gleichzeitig auch Spiegel derselben, und damit Projektions- und Reflektionsfläche für jeden, der in diesen Spiegel blickt. Doch inwieweit lässt sich der Einfluss von Literatur konkretisieren und quantifizieren? Bis zu welchem Punkt lassen sich gesellschaftliche und historische Phänomene auf Geschriebenes, und nur darauf, zurückführen? Genau diese ebenso spannende wie komplexe Frage versucht der vorliegende Band zu beantworten. Insgesamt 17 Beiträge sind hier versammelt, die ihren Ursprung in einer Vortragsreihe der Universität Gießen haben und Grundlage einer einjährigen Diskussion waren, die zum Ziel hatte, die konkrete historische Wirkung literarischer Werke zu hinterfragen. Dass dies per se nicht in den klaren Grenzen naturwissenschaftlicher Studien gelingen kann, ist auch dem Herausgeber bewusst; das besprochene Textkorpus nennt er deshalb am Ende seiner Einleitung „nicht frei von Zufällen, diskutierbar und jederzeit erweiterbar“, gleichzeitig aber auch „repräsentativ für ein breites Spektrum an historischen Wirkungsmöglichkeiten von Literatur“ – man darf also gespannt sein.

Die vorgestellten Werke reichen zeitlich von Lord Byron bis Salman Rushdie und thematisch von der amerikanischen Sklaverei über die Anfänge der europäischen Friedensbewegung und den Problemen des Kolonialismus in Afrika und Asien bis hin zu Zukunftsvisionen. Trotz dieser auf den ersten Blick breiten Fächerung findet sich bei genauerem Hinsehen ein thematischer Schwerpunkt zum einen auf Mitteleuropa und zum anderen auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was bis zu einem gewissen Punkt den historischen Ereignissen und der damit einhergehenden Quantität der literarischen Produktion geschuldet ist. Doch genau hier erreicht man auch den Kern der Frage: Was war zuerst? Das gesellschaftliche Phänomen oder die dieses Phänomen beschreibende und beeinflussende Literatur?

Gehen wir dieser Kernfrage am Beispiel von Bertha von Suttners „Die Waffen nieder“ nach. Der 1889 erschienene Roman der charismatischen „Friedensbertha“ fällt zeitlich zusammen mit der Entstehung der Friedensbewegung im Deutschen Kaiserreich, als deren „Fanfare“ das Werk im Titel des entsprechenden Beitrags vorgestellt wird. Zweifellos fand das Buch eine breite Zustimmung, die maßgeblich an Entstehung und Wachstum der Friedensbewegung beteiligt war und bis – Ironie der Geschichte – zum Ausbruch des ersten Weltkrieges angehalten hat. Doch diese Wirkung ist schwerlich allein auf das Buch beschränkbar, wenn man bedenkt, dass sich die Autorin selbst seit der Veröffentlichung bis zu ihrem Tod 1915, also 25 Jahre lang, ausschließlich für die Konsolidierung und den Ausbau der Friedensbewegung eingesetzt hat. Gewirkt hat hier also in erster Linie die Autorin durch ihr Engagement, für das ihr Buch den ideologischen Hintergrund liefert. Dieses persönliche Engagement, gepaart mit ihrer Freundschaft zu Alfred Nobel, hat dann wohl auch zur Stiftung des Friedensnobelpreises beigetragen, der 1901 erstmals verliehen wurde – nicht aber an Bertha von Suttner, die ihn erst 1905 zuerkannt bekam.

Fast genau 100 Jahre nach Suttners Roman erscheinen Salman Rushdies „Satanische Verse“, ein Werk, das zunächst einmal die Ende der 1980er-Jahre bereits spürbaren globalgesellschaftlichen Verschiebungen illustriert, die sich derzeit in massiven Protest- und Umsturzbewegungen in verschiedenen Ländern der arabischen Welt äußern. Die seinerzeit sehr heftigen Reaktionen auf diese Publikation – Zensur und Verbote wegen vermeintlich blasphemischer Inhalte – sind an sich in der Literaturgeschichte nicht neu, steht doch die Publikation literarisch in der Tradition der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts, die damals die katholische Kirche angegriffen und karikiert hat; die (oft anonymen) Autoren wurden mit teilweise inquisitorischen Mitteln identifiziert und verfolgt, die Bücher erschienen, fein säuberlich aufgelistet, auf den verschiedenen Indices librorum prohibitorum.

Neu an Rushdies Buch ist allerdings das Thema, denn es ist ein Pioniertext zum literarisch-kritisch-satirischen Umgang mit dem Islam. Dies hat im Zeitalter der Globalisierung zu einem internationalen Phänomen geführt: der staatlich verordneten Verfolgung eines im Ausland ansässigen Moslems in Form des von dem in den „Satanischen Versen“ ebenfalls karikierten Ayatollah Khomeini verhängten Todesurteils gegen den Autor.

Zwischen diesen beiden Werken liegen die beiden europäischen Weltkriege – ein nicht nur in der Literatur bis heute heikles Thema, was sich auch in dem vorliegenden Band anhand der Beiträge zu Walter Flex’ „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ eindrucksvoll widerspiegelt: Während Flex im Dritten Reich positiv rezipiert wurde und deshalb heute mit kritischer Distanz bedacht wird, ist Remarques Werk, im Dritten Reich als ‚zersetzend‘ abgelehnt, heute noch eines der Anti-Kriegsbücher schlechthin. Diese Bewertung ist allerdings in vielerlei Hinsicht zu einfach – hier wäre deutlich mehr Differenzierung und ein genaueres Textstudium vonnöten, beispielsweise im Kontext der Kontroverse um das einleitende Gedicht bei Flex, das heute als ‚no go‘ verpönt ist, weil Robert Götz es zu einem Marschlied vertont hat, das seither nicht nur von Pfadfindern begeistert gesungen wurde (und noch wird). Der eigentliche Text aber wird in den seit fast 100 Jahren aufgehäuften Konnotationen erstickt, anstatt ihn in seinem historischen und literarischen Kontext leben zu lassen. Würde man diese voreilig aufgehäuften Staub- und Schmutzschichten dieses Textes (und zahlreicher anderer) abtragen, würde man zweifellos viele dieser Werke weiterhin ablehnen, dann aber mit fundierten Gründen und nicht nur aus zur Schau gestellter politischer Korrektheit. Andere aber würde man sich neu erschließen können und müssen, weil man verstanden hat, dass sie (oft auch nur auszugsweise) benutzt und missbraucht worden sind – diese Differenzierungsarbeit ist im Sinne eines seriösen wissenschaftlichen Arbeitens unbedingt zu leisten.

Wieder anders verhält es sich mit Artur Dinters heute tabuisiertem „Die Sünde wider das Blut“ – ein von Rassismus und Antisemitismus geprägter Bestseller der 1920er-Jahre, der allerdings erst in der dritten Auflage zum Erfolg wurde. Hier zeigt sich ein ähnliches Phänomen wie bei Richard Wagners Aufsatz „Das Judentum in der Musik“: Als dieser 1850 erscheint, findet er kaum Beachtung. Als er aber fast zwanzig Jahre später erneut veröffentlicht wird, sind die Reaktionen heftig – ein Indiz dafür, dass Literatur auch zum richtigen Zeitpunkt erscheinen muss, um Wirkung zu zeigen und zu erzeugen.

Genau diese Wirkung von Literatur zu beschreiben, war das Ziel aller Beiträge. Der vorliegende Band zeigt, dass dies auch in Grenzen und in Maßen möglich ist. Einfach ist es dagegen nicht, denn Literatur ist alles andere als ein singuläres und isoliertes Phänomen, dem genau eine Ursache und eine Wirkung zugeschrieben werden kann. Vielmehr ist Literatur ein Teil des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, den sie zumeist reflektiert, gelegentlich auch vorwegnimmt, ohne dabei aber je selbst außerhalb der Wechselwirkungen solcher Prozesse zu stehen.

Titelbild

Dirk van Laak (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb.
Mit 10 Abbildungen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011.
282 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783525300152

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