Haltung ist alles

Javier Cercas’ Roman „Anatomie des Augenblicks“ zeichnet den misslungenen Staatsstreich in Spanien von 1981 in einer brillanten politische Erzählung nach

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist der 23. Februar 1981, 18.23 Uhr. Im spanischen Parlament findet die Wahl zum neuen Ministerpräsidenten statt. Leopoldo Calvo Sotelo soll dem fünfundzwanzig Tage zuvor zurück getretenen Adolfo Suárez nachfolgen. Suárez, eine jüngere Figur des Franquismo, regierte knapp fünf Jahre als Ministerpräsident. In seine Amtszeit fällt Spaniens Schritt aus der Diktatur, das Land ist dabei, eine parlamentarische Demokratie unter königlichem Vorsitz aufzubauen. Doch dem Übergang wohnt längst kein Zauber mehr inne: Krisen, Missgunst im Ringen um Macht, Regierungstölpeleien und die ETA haben die Wirtschaft ausgelaugt und die Gesellschaft irritiert.

Suárez sitzt als geschäftsführender Ministerpräsident auf der Regierungsbank, am Ende eines pompösen, rotsamtenen Halbrundes, das auf das Präsidium zuläuft. Er ist längst ein Ritter von trauriger Gestalt: glücklos, eitel, lethargisch. Seinen Rücktritt – wenngleich die genauen Ursachen nie abschließend geklärt werden konnten – hatten politische, wirtschaftliche, militärische und klerikale Kreise von Herzen befördert. Wo auch immer möglich prügelte die Presse auf ihn ein. Die Rufe nach einem „Herumreißen des Ruders“, oder einem „Zurechtstutzen der Demokratie“ waren als Heilsversprechungen durch das Land gegeistert und hatten das alte Lied der Einheitsregierung unter Vorsitz einer starken Persönlichkeit im Unterton wieder aufleben lassen. Spanien, das recht widerstandslos den Franquismus hingenommen hatte, um sich dann euphorisch auf die Demokratie zu stürzen, war Anfang der 1980er-Jahre des demokratischen Prozederes bereits wieder überdrüssig geworden.

In den Jahren vor dem Putschversuch galt vor allem Suárez als Sündenbock für alle möglichen Schwierigkeiten: Die politische Rechte, die Linke und alles was in der schmalen Mitte zu finden war, sahen in ihm das Zerrbild dessen, was sie sich erhofft hatten. Der Eindruck vom heillosen Chaos im politischen System wurde vielfach verstärkt. Vom Ministerpräsidenten blieb eine Karikatur und die Idee Suárez zu stürzen vereinte politisch disparate Stimmen und Kreise – und schien mit allen Mitteln gerechtfertigt.

Als der Parlamentssekretär in der bereits zweiten Abstimmung über den Ministerpräsidenten Abgeordnete mit Nachnahmen, die mit N beginnen zur Wahl bittet, entsteht Unruhe im Parlament: Laute Geräusche und ein Schrei sind zu hören, dann ein Schuss und noch etliche mehr. Die Guardia Civil stürmt das Parlament, Polizisten schreien herum, schießen in die Decke. Ein Militärputsch gegen die Demokratie hat begonnen.

Javier Cercas zieht konzentrische Kreise um diesen Moment und die siebzehneinhalb folgenden Stunden, in denen die Parlamentarier als Geisel genommen wurden. Er robbt sich auf Millimeterpapier durch die Motive der handelnden Personen, ihre Milieus und Institutionen und bleibt doch stets subjektiver Erzähler und nachdenklicher Fragesteller. Die Hypothese, dass erst durch das Scheitern des Putsches der Bürgerkrieg endgültig beendet wurde, ist eher für den spanischen Hausgebrauch interessant. Allerdings führt Cercas den Leser hinab in die Kellergewölbe des aus heutiger Sicht für selbstverständlich angenommenen demokratischen Gebäudes – er verweist auf Fundamente, Psychologien und Statiken, erkundet Psychosen, Traditionen und Beharrungskräfte, kurz: die Begleiterscheinungen der Geburt. Damit geht die „Anatomie des Augenblicks“ weit über die spanische Geschichte hinaus. Wer möchte, kann die Übergangsphänomene mit beinahe jeder nationalen Historie vergleichen, kann feststellen, dass sich die Geburtswehen in die Mechanismen eingeschrieben haben: Die Schausteller der Macht erhalten ihr Rollenprofil, die traditionsgebundene Moderne und ihre düsteren faschistischen Randphänomene ihren Platz – die bloße Aufstiegsgier schmieriger Provinz-Casanovas ist längst keine spanische Spezialität. Trotz der totalitären Milieus, die im Spanien von 1981 ein letztes Mal aus den Kulissen traten, taugen Cercas Skizzen auch zur Interpretation gegenwärtiger Manöver der politischen Soziotope: Cercas pointierte Darstellung des gescheiterten Putsches von 1981 ist eine Reflexion über Mittel und Motive im Spiel der Macht.

Mittelpunkt von Cercas mitreißendem und trotz des Sachbuchcharakters in Spanien mit Erzählpreisen prämierten Buches stehen Gesten, die er mit José Luis Borges entziffert – während nämlich in den vollbesetzten Reihen die Abgeordneten in Deckung gehen, verhalten sich drei Personen entgegen der Imperative des Selbstschutzes und vielmehr nach politischen Instinkten: Suárez bleibt mit durchgedrücktem Rücken sitzen, der sozialistische Parteiführer Santiago Carillo verharrt auf halbem Wege und der Vizepräsident General Gutiérrez Mellado versucht den Aufständischen mit hilflosen militärischen Gesten Einhalt zu gebieten. Borges hatte vermutet, dass jedes Schicksal trotz aller Verschlingungen „in Wirklichkeit in einem einzigen Augenblick besteht, dem Augenblick, in dem der Mensch für immer weiß, wer er ist“.

Dieses Wissen hat eine Vorgeschichte: Den dreien gemein ist, dass sie ihre jeweiligen Institutionen verraten hatten – der General verhinderte Kontinuitätslinien des Franquismo in der Armee, der Sozialist machte seiner Partei den revolutionären Gestus abspenstig und führte sie ins Parlament. Suárez aber ist nach Cercas der Wichtigste der Verräter: Er hatte sich abgewendet von der Ideologie, die ihm seinen eigenen Aufstieg ermöglichte: „Den Franquisten versicherte er, es gelte auf gewisse Bestandteile des Franquismus zu verzichten, um den Fortbestand des Franquismus zu gewährleisten; der demokratischen Opposition erklärte er, es gelte auf gewisse Elemente des Bruchs mit dem Franquismus zu verzichten, um den Bruch mit dem Franquismus zu gewährleisten.“ Und die Armee versuchte er ebenfalls auf Kurs zu zwingen. Als dies überraschenderweise zum Ende der 1970er-Jahre gelingt, verlässt Suárez allerdings nicht die politische Bühne, sondern macht sich zum wachsenden Ärger derjenigen, die in ihm eine zu vernachlässigende Übergangsfigur, ein lässliches Übel gesehen hatten, auf, die Demokratie weiter gestalten zu wollen. Suárez ist Macht zum Selbstzweck geworden, und zwischen den Zeilen von Cercas stellt sich die Frage, ob dies nicht ein Mechanismus ist, den die Macht den Mächtigen selbst aufzwingt.

Cercas Bemerkung, dass es keine Ethik des Verrates gebe und somit das „Heldentum des Rückzuges“, das Hans Magnus Enzensberger in solchen Figuren wie Michail Gorbatschow, oder eben Suárez gesehen hatte, niemals die Hochschätzung des Vaterlandes gewinnen könne, bildet den theoretischen Ausgangspunkt der Auseinandersetzung. Eine Ethik des Verrates würde dem Mythos der moralischen Politik zuwiderlaufen.

Die Aufzeichnungen der unbemannt weiterlaufenden Fernsehkameras, die Cercas als Quelle dienen, zeigen im Moment des Überfalls einen Ministerpräsidenten, der sich im Angesicht des Putsches auf seinen Stuhl setzt, sich den Befehlen der Putschisten widersetzt und weitgehend stumm der Dinge harrt, die kommen mögen. Cercas erkennt darin ein hochgradig ambivalentes Verhalten, ein Ineinanderfallen aus politischem Instinkt, Hilflosigkeit, pathetischem Hochmut und dem Willen zur gravitätischen Haltung. In der erratisch wirkenden Position sieht er das Bild eines typischen Politikers.

Titelbild

Javier Cercas: Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.
570 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783100113696

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