Ist Mephisto Goethes Sprachrohr?

Johannes Anderegg über Himmlisches und Teuflisches in Goethes Faust

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht Faust wie üblich, wenn es in Abhandlungen um Johann Wolfgang von Goethes gleichnamige Tragödie geht, sondern Mephisto steht im Zentrum des Buches, das der Schweizer Germanist und Literaturwissenschaftler Johannes Anderegg, Jahrgang 1938, unter dem Titel „Transformationen“ über „Himmlisches und Teuflisches in Goethes Faust“ verfasst hat.

Die sogenannte Gretchen-Tragödie kommt daher nur am Rande vor. In der Tat tritt Mephisto bei Goethe so häufig in Erscheinung, wie Anderegg festgestellt hat, dass man den Eindruck gewinnt, er sei die Hauptperson in diesem Stück. Der Teufel erweist sich als gewiefter Kommentator und verfügt über ein breit gefächertes Wissen. Immerhin kennt er sich sowohl in der antiken Mythologie als auch in den Naturwissenschaften gut aus. Zudem ist sein Wissen „gepaart mit der Fähigkeit zu ironischer Kritik“. Mit seiner Schalkhaftigkeit bringt er die Zuschauer oft zum Lachen. Ist er am Ende, fragt sich der Autor, gar „das Sprachrohr Goethes?“ Vor allem aber ist seiner Macht alles zuzuschreiben, was Faust erreicht. Er eröffnet ihm den Weg zu Gretchen, lässt ihn im Duell siegen und vieles andere mehr. Seiner Wirkkraft ist im Grunde alles zuzuschreiben, was man gemeinhin Fortschritt nennt.

Goethes Konzeption von Mephistos Macht und Magie ist mithin völlig verschieden von allen bisherigen traditionellen Teufelslehren und scheint, so Anderegg, vorwegzunehmen, was Michel Foucault im 20. Jahrhundert über die geschichtsbestimmende Macht sagen wird. Diese herrscht nicht nur als neinsagende Gewalt, sondern produziert Dinge, verursacht Lust, bringt Wissen hervor und produziert Diskurse. Man müsse sie daher als eine produktive Instanz auffassen und nicht so sehr als eine negative, deren Funktion die Unterdrückung sei. Gleichwohl sei Mephisto, legt der Schweizer Germanist dar, ein armer Teufel, da ihn der Herr für seine Zwecke einsetzt und mit ihm ein Spiel treibt, dass er nicht durchschaut. Nur solange Faust lebt, werde er vom Teufel geführt und dominiert, aber nicht im Jenseits. Hier habe der Teufel seine Macht verloren.

In den Transformationen, die beide Figuren, Faust und Mephisto, im Verlauf des Dramas erfahren, manifestiere sich, wie auch im intertextuellen und intermedialen Spiel, Goethes vehement antiklassische Konzeption. Andereggs Untersuchung macht inszenierte Vernetzungen mit biblischen Texten und religiösen Narrativen sichtbar und geht ausführlich auf zitathafte Einbindungen von Motiven aus der religiösen Kunst ein, die durch eingefügte Bilder am Schluss des Buches anschaulich belegt werden.

Anderegg hebt außerdem hervor, dass in erster Linie das alttestamentliche Hiob-Buch bei Goethes Tragödie Pate gestanden habe. Beide erreichen vor ihrem Ende großen Wohlstand, Hiob wird allerdings vom Herrn beschenkt, der rücksichtslos gewalttätige Faust dagegen, der den Glauben an ein Drüben nachdrücklich verwirft, verdankt seine Macht und seinen Wohlstand Mephisto.

Im Grunde habe der Weimarer Dichter ein provozierendes Spiel mit der biblischen Überlieferung getrieben und Altes und Neues, Gegenwärtiges und Künftiges aufeinanderprallen lassen, insbesondere in der grotesken Schlussszene, da sie, wie viele der Gemälde, die sie aufruft, Reales und Imaginäres, Irdisches und Überirdisches zu einem Bild zusammenfügt. Auch sei das Drama Dokument einer Zeit, die Goethe schon um 1800 als „eine Zeit der Zerstreuung und des Verlustes“ charakterisiert hat und die ähnlich wie unsere „durch befreiende und schmerzliche Erfahrungen des Nicht-mehr bestimmt ist“.

Bereits der „Prolog im Himmel“ weicht von der damaligen Fausttradition ab, in der die Auffassung vorherrschte, wer sich mit dem Teufel einlässt, wird zur Hölle fahren. Goethe hingegen entwirft ein ganz anderes Modell vom Einfluss des Teufels und vom Bund mit dem Teufel. Sein Faust sei keineswegs ein „wohlpropotioniertes Gefüge“, seine Struktur entspreche der Forderung nach Kohärenz im traditionellen Sinn in keiner Weise. Gleichwohl bestünden zwischen einzelnen Teilen durchaus Zusammenhänge.

Auch von einer Erlösung oder Errettung der Menschheit sei hier nicht die Rede. Goethe rufe zwar in der Szene „Bergschluchten“ die allgemeine Sehnsucht und den Glauben an Auferstehung auf und bediene sich der gängigen Metaphorik und der zu seiner Zeit üblichen Vorstellungen und Wunschbilder, doch dienten diese ihm nur zur theatralischen Darstellung. Er selbst meinte ein Fortleben in anderer Form, wie Anderegg an verschiedenen Texte von Goethe belegt. Ihm sei es nicht um eine christlich verstandene Endzeit gegangen, sondern um die Frage nach einer den Tod überdauernden Kontinuität der Person, nach einem individuellen Leben nach dem Tod. In der Schlussszene von Faust II sei nämlich keine endzeitliche Szene gezeichnet, sondern das Modell eines individuellen Weiterlebens, einer individuellen Himmelfahrt. Da Goethe, wie er in einem Brief an Carl Friedrich Zelter bekennt, nicht zum tragischen Dichter geboren sei, vielmehr sei seine Natur konziliant, lässt er, laut Anderegg, die Himmelfahrt von Faust nicht tragisch, sondern versöhnlich ausklingen.

Erlöst wird im Gegensatz zum biblischen Hiob nicht ein rechtschaffener, frommer Dulder, sondern der rücksichtslose, besitzgierige, dezidiert ungläubige Täter, der sich in der Szene „Bergschluchten“ gegen unreflektierte religiöse Vereinnahmung wehrt und dem nach dem Tod ein Fortleben in anderer Form gewährt wird. Denn die Lesart „ohne Unterlass strebend“ entspreche auch Goethes persönlicher Überzeugung. Glaubte der Dichter doch, dass die Natur verpflichtet sei, „mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag“. Die Zugehörigkeit zur Geisteswelt gewährt, so meinte Goethe, Unsterblichkeit. Doch weder von Vergebung noch von Freispruch oder Begnadigung ist bei ihm die Rede, ebenso wenig vom Plan eines Jüngsten Gerichts.

In Fausts Himmelfahrt sieht Anderegg eine theatralische Hoffnung auf Kontinuität, die den Tod überdauert. Aber letztlich sei Fausts Unsterbliches wie das Jenseits unbeschreiblich und nur durch das bestimmt, was es nicht ist. Für das Erhoffte gibt es „weder Wort noch Bild: da ist nichts mehr, was sich zeigen, und nichts mehr, was sich sagen ließe“.

Andereggs gut und verständlich geschriebenes Buch bereichert zweifellos die bisherige, ohnehin schon umfangreiche Faust-Literatur um wichtige Aspekte und sei daher allen Goethe-Liebhabern und Faust-Kennern als anregende Lektüre empfohlen.

Titelbild

Johannes Anderegg: Transformationen. Über Himmlisches und Teuflisches in Goethes "Faust".
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010.
290 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895288203

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