Die Unnatur des Menschen

Eine Neuauflage von Thomas Bernhards „Der Kulterer“ wartet mit Illustrationen Peter Herzogs und einem Nachwort von Raimund Fellinger

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ heißt es über den frisch freigelassenen Sträfling Franz Biberkopf: „Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt.“

Döblin sieht den Kernpunkt der Gefängnisstrafe in der Resozialisierung. Ähnlich ergeht es dem Häftling Kulterer, dem Protagonisten in Thomas Bernhards Text, welcher die Freiheit nicht in der Entlassung sieht, sondern in der Formulierung von Gedanken, welche er nachts niederschreibt: „Der Gedanke, der ihn plötzlich über Nacht zum Begriff, zur einzigen Existenz und wahren Freiheit geworden war, ermöglichte ihm, mit sich fertig zu werden nach dem großen Unglück, das über ihn gekommen war im Zuge eines Verbrechens, das er wie in radikaler selbstmörderischer Bewußtlosigkeit begangen hatte.“

In Haft ist der Kulterer sozial mit anderen verbunden und hat eine gewisse Stellung. Die Umgebung ist ihm vertraut und er kann seine Gedanken nachts ordnen und notieren. Außerhalb des Gefängnisses schnürten die gesellschaftlichen Strukturen seine Freiheit ein, sodass er gezwungen war diese zu übertreten und so musste er ein Verbrechen begehen. Was der Inhalt seiner Straftat war, darüber kann der Leser nur spekulieren. Als Häftling erfährt der Kulterer die Befreiung, welche außerhalb der Gefängnismauern nicht möglich war. Innerhalb der Strafanstalt wird er sogar zu jemandem, der Konfliktpotential erkennen kann und in der Lage ist, Menschen zusammen zu führen: „Ohne daß er selbst wußte, wie das möglich gewesen ist, war er oft derjenige, welcher große Spannungen zwischen den Häftlingen und der Aufsicht, ja selbst offen zwischen den beiden Machtgruppen auftretende Feindseligkeiten schlichten konnte.“

Interessant ist dabei, dass der Kulterer dann seine Freiheit erlangen kann, wenn alle anderen schlafen. In der Dunkelheit kann er sich entfalten und seine Geschichten verfassen. Die Mithäftlinge bekunden tagsüber immer mehr Interesse an den Geschichten, obwohl man nicht gern durch das nächtliche Schreiben beim Schlafen gestört werden will. Vielleicht konnten sie deshalb auch nicht ahnen, welche Qual die Freilassung dem Kulterer bereitet. „Die Häftlinge waren der Meinung, dieser Tag wäre für ihn ein Freudentag; sie konnten nicht wissen und nicht begreifen, daß gerade dieser Tag der furchtbarste im Leben des Kulterer war.“

Als 1963 die Erzählung erschien, sollte sie den Schriftsteller Bernhard einer größeren Leserschaft bekannt machen. Zwar war er als Lyriker nicht unbekannt, er hatte schon drei Gedichtbände publizieren können, jedoch wollte man einen neuen Leserkreis ansprechen, welcher ihn schon einmal als Erzähler und Romanautor wahrnehmen sollte. Denn sein erster Roman „Frost“ war in Verlagsvorbereitung. Darin beschreibt Bernhard dann auch, was in „Der Kulterer“ am Ende anklingt: „Er entfernte sich, so rasch er konnte, von der Strafanstalt in die Landschaft hinein, die, hügelig, braun und grau, vor Hoffnungslosigkeit dampfte.“ Es ist jene gefühllose Natur, welche auch in „Frost“ über den Menschen hereinbricht und ihn schließlich wahnsinnig macht. Vielleicht trägt die Neuveröffentlichung von „Der Kulterer“ ja dazu bei, dass auch Bernhards frühere kurze Erzählungen mehr Aufmerksamkeit erlangen.

Titelbild

Thomas Bernhard: Der Kulterer.
Mit 12 Tuschfederzeichnungen von Peter Herzog und einem Nachwort von Raimund Fellinger.
Insel Verlag, Berlin 2011.
70 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783458193395

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