Prädestinierte Verfehlung

Georges-Arthur Goldschmidts ,unmöglicher Kommentar‘ zu Kafka

Von Martin EndresRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Endres

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat stets etwas gefährlich Ideologisches, wenn sich eine Instanz dazu befleißigt, jemandem eine singuläre Deutungshoheit zu attestieren – noch dazu, wenn dies von Seiten der Instanz erfolgt, unter deren Flagge der so Gepriesene segelt. Entsprechend misstrauisch muss man werden, wenn der Klappentext eines neuen Kafka-Buches mit folgenden Worten einsetzt: „Wer, wenn nicht Georges-Arthur Goldschmidt, weiß, uns Franz Kafka zu erklären.“

Und tatsächlich enthält diese Verkündigung eines neuen philologischen Messias der Kafka-Forschung, die der S. Fischer Verlag damit begründet, dass Goldschmidt als „sein Übersetzer […] in Kafkas Werk jedes Wort und dessen Bedeutung“ kenne, eine Crux, die den gesamten Charakter des Buches vorwegnimmt: Es gehe dem Autor darum, ,Kafka‘ zu erklären – nicht seine Texte – und es gehe ihm darum, ,Klarheit‘ zu schaffen – nicht die Widerständigkeit von Kafkas Werk zu exponieren. Dies ist mehr als metonymische Alltagssprache, da sie programmatisch die Disposition Goldschmidts gegenüber dem Werk Kafkas vorzeichnet.

In dieser Weise kann Goldschmidt in seinem deutenden Tun tatsächlich (leider im schlechten Wortsinn) als ,prädestiniert‘ gelten: Das Ziel der Lektüre steht und stand bereits fest, bevor sie einsetzt(e) – eine philologische Haltung, die mit Kafkas poetischem Vorgehen und der Verfasstheit seiner Texte nicht deutlicher im Widerstreit stehen könnte. Vor allem dann, wenn sich die Lektüre ironischerweise größtenteils mit Kafkas „Der Process“ beschäftigt. So muss man Goldschmidts Gedanken zu Beginn des vierten Kapitels seines Buches (für ihn selbst) ernst nehmen, wenn er schreibt, dass „das empfundene Wissen bei der [i.e. seiner] Kafkalektüre“ das folgende sei: Es kann – das lege Kafkas Text nahe – nichts entdeckt werden, „was nicht schon ist. […] Das Wirkliche ist nur der aktuelle Zustand des Möglichen, aber es ist das einzig Wirkliche in der Unendlichkeit des Möglichen.“

Diese ,Prädestinierung‘ wird aber auch schon auf den ersten Seiten des Buches manifest, wenn Goldschmidt neben der persönlich-privaten Motivation zu seiner Beschäftigung mit Kafka davon schreibt, dass „durch neue Ausgaben, durch Erforschung und Entzifferung der Manuskripte Varianten und Abweichungen sichtbar [werden], die aber im Grunde nichts ändern“. Auch wenn man jeden literaturwissenschaftlichen Anspruch an Goldschmidts Überlegungen zu Kafka fahren lässt, und auch wenn der Autor zahlreich und expressis verbis die ästhetische Lust an der Verunsicherung und dem Unvorhergesehenen bekundet: Stärker kann man die Verweigerung gegen jegliche Irritation von Seiten eines literarischen Textes kaum formulieren. Da hilft es auch nicht, wenn der Verlag diese Fixierung aufs Fixierte damit zu relativieren versucht, dass er den Haupttitel des Bands „Meistens wohnt der den man sucht nebenan“ auf der Umschlagseite als Faksimile von Kafkas Handschrift reproduziert. Was bei Kafka geschrieben steht, verkommt so zum Ornament eines dem Text äußerlichen Gedankens.

Im Verlauf der hauptsächlich paraphrasierenden Kafka-Lektüre, die sich leider recht wenig innovativ (weil textfern) mit Fragen nach dem Initial des Schreibens, der Darstellbarkeit des Undarstellbaren, der literarischen Wahrheit oder dem Verhältnis von Sprache und Handeln auseinandersetzt, sind es die allgemein-resümierenden Passagen, die die problematische Grundhaltung von Goldschmidt entlarven: „Es gibt keine mögliche Wahrheit der Interpretation, alles darüber Gesagte trifft und trifft es nicht. Keiner ist kompetent und alle sind es. Niemand kann behaupten, dem, was Kafka sagt, gerecht zu werden, außer ihm selbst, Kafka. […] Jede Lesart Kafkas ist legitim und selbst begründet.“

Diese scheinbar kritische Haltung gegenüber der eigenen Souveränität, mit der gerade Goldschmidt selbst mit Kafkas Texten ,verfährt‘, kippt in ein rhetorisch-aufgeblähtes anything goes – jene selbst gezüchtete Krankheit, mit der sich die Philologie seit Jahr und Tag immer wieder neu um ihren eigenen Anspruch betrügt und sich (was noch schlimmer ist) ihrer Wissenschaftlichkeit beraubt. Der Entmündigung des Lesers damit entgegenzuwirken, dass man ihm von vornherein einen unverbindlich-grenzenlosen Verstehens- und Deutungs-Kredit einräumt, führt letztlich allein dazu, den literarischen Gegenstand zugunsten eines hemmungslosen Subjektivismus zu entwerten.

Einer solch freihändig-privaten Lektürepraxis, wie sie Goldschmidt nicht nur abstrakt vorschlägt, sondern größtenteils an den aus dem Kontext gelösten Textstellen demonstriert, kann nur die neuerliche Besinnung auf das phänomenologische Schlagwort des vergangenen Jahrhunderts entgegenstehen: ,Zu den Sachen selbst‘. Nur eine radikale, rückhaltlose und sozusagen un-prädestinierte Aussetzung an den Text und seine Verfasstheit nimmt ihn „beim Wort“ und ermöglicht eine Erfahrung, die zeigt, dass für Kafka „die Sprache kein Instrument zum Weltgebrauch“ ist. Dies hat Goldschmidt leider nicht geleistet, was dazu führt, dass ihn die Enttäuschung über das eigene Vorgehen eine resignative Zurückweisung aller Interpretationsansprüche formulieren lässt: „[D]er Kommentar, die Deutung, die am exaktesten das trifft, was man über Kafka sagen wollte, bestünde darin, sie Wort für Wort abzuschreiben.“ Man fragt sich zurecht, ob diese Suspendierung jeder hermeneutischen Unternehmung wirklich zeigen kann, „wie wir Kafka noch lesen können“ – um sogleich hinzuzufügen: es wäre tragisch, wenn dies zuträfe.

So ist man nach der Lektüre von Goldschmidts „sprachphilosophische[m] Essay“ genötigt, dessen Wert mit den Worten zu bemessen, mit denen der Autor selbst über eine Passage aus Kafkas „Process“ räsoniert: „Jeder ist das, was er verfehlt, alles besteht aus dem Ungeschehenen: Aus der verpaßten Gelegenheit erwächst die individuelle Existenz.“

Titelbild

Georges-Arthur Goldschmidt: Meistens wohnt der den man sucht nebenan. Kafka lesen.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
140 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783100278241

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