Nachhilfe für Casanova

Ippolito Nievos Roman „Engel an Güte“ hält dem Venedig des Ottocento den Spiegel vor

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bei Weibern weiß man niemals, wo der Engel aufhört und der Teufel anfängt“ wusste Heinrich Heine zu sagen, dieser große Ironiker der deutschen Romantik, mit dem sein Zeitgenosse Ippolito Nievo einiges gemein hat. Mag Nievo auch nicht die entbehrungsreichen Exiljahre Heines in der Pariser „Matratzengruft“ hinter sich haben – dafür war sein Leben viel zu kurz: geboren am 30. November 1848 in Padua, wo er, begleitet von frühem Schreiben, nach einer Zwischenstation in Pavia auch Jura studierte, verstarb er jung, gerade mal 29 Jahre alt, bei einem Schiffsunglück – in der Entlarvung gesellschaftlicher Missstände stand er ihm in nichts nach.

Sind davon noch einige Züge in den „Bekenntnissen eines Italieners“ („Confessioni di un italiano“, 1857/58), dem Werk, das Nievo einen bleibenden Rang in der italienischen Literatur eingebracht hat, spürbar, so durchzieht im Romanerstling eine sezierende Ironie alle Ebenen der Darstellung. Dabei mutet der zwischen Sittenbild, politischem Intrigenspiel und Liebesgeschichte changierende „Engel an Güte“ („Angelo di bontá“) zunächst wie eine ganz klassisch-historische Fabel aus der nationalen Vergangenheit an. 1856 erschienen, schweift der Blick zurück in das vergangene Jahrhundert und zeichnet ein illustres Gemälde der venezianischen Gesellschaft. Die Handlung beginnt „am ersten Sonntag im Mai des Jahres 1749“, Schauplatz ist das Kloster der Seraphinerinnen, genauer: der Konventsaal. Dort treffen wir auf die kaum volljährige Halbweise Morosina, titelgebende Protagonistin des Romans, die im Begriff ist, den Ort ihrer Erziehung zu verlassen und in die bunte Welt der Gesellschaft einzutreten. Wie eine Fleisch gewordene Botin Cherubims mutet diese bereits physiognomisch an: Morosina ist ein „hübsches blondes Mädchen“ von zartem Wuchs, das sich mit „wahrhaft venezianischer Geschmeidigkeit“ bewegt. Bei der kleinsten Störung der Ordnung vergießt sie echte Tränen und ist stets um das Wahre, Gute und Schöne besorgt.

Damit steht Morosina innerhalb der Literaturgeschichte keinesfalls isoliert da. In ihrer sittlichen Vollkommenheit besitzt sie eine Reihe an Vorgängerinnen. Der deutsche Leser mag sich zuweilen an Christian Fürchtegott Gellerts „zärtliche Schwestern“ oder Gotthold Ephraim Lessings Bürgertöchter erinnert fühlen. Diese schöne Seele so richtig zu würdigen, weiß bei Nievo allerdings nur einer, der alte Senator und geheime Inquisitor Formiani. Obschon ein Relikt aus einer anderen, blühenderen Zeit scheint er der Einzige zu sein, der die Gegenwart realistisch betrachtet und weiß, dass die politischen Pfähle, auf denen die Lagunenstadt thront, reichlich morsch sind. Denn die ,Goldenen Zeiten‘ der Republik, in denen die Serenissima nahezu uneingeschränkt ihre Herrschaft zu Land und zu Meere ausübte, sind längst passé.

Bereits 1718 musste Venedig im Frieden von Passarowitz den Großteil seiner auswärtigen Besitzungen abgeben, 1797 folgt der Untergang der Republik – ein Szenario, das 80 Jahre später im Zeitalter des Risorgimento nicht weniger virulent ist. Formiani weiß um die instabile Lage seiner Stadt im Ringen der europäischen Mächte. Als letzter Spross seines Geschlechts ist ihm daran gelegen, dieses durch einen Erben zu erhalten, wobei er es mit der genealogischen Legitimation nicht allzu genau nimmt: Der greise Patrizier, in dessen Zeichnung die Züge des ,genialen Sonderlings‘ diejenigen des ,skurrilen Alten‘ überlagern, hat seine Wahl mit Sorgfalt getroffen. In der tugendhaften Morosina und dem Cavaliere Celio Terni, einem jungen Mann, dem Morosina seit Kindertagen in Liebe zugetan ist, glaubt er, das ideale Paar gefunden zu haben. Der Senator hat seinen Plan jedoch ohne die „Güte“ Morosinas gemacht. Zwar willigt das Mädchen in die Ehe mit dem 50 Jahre älteren Formiani ein, um mit ihm „in aller Freundschaft“ zusammenzuleben, jedoch geschieht etwas in diesen Zeiten gänzlich Unverhofftes: Morosina hält ihrem Gatten die Treue. Und das, obschon sich Celio in der Rolle des beleidigten Cicisbeo ernstlich bemüht, eine der vielen Reminiszenzen an Goldoni und die commedia dell’arte, so dass Formiani sich innerlich fragen muss: „Teufel, sollte ich da an eine gar zu fromme Heilige geraten sein?“

Allerdings wäre die Geschichte von Santa Morosina, die moralische Rettung des durch das Leben in Venezias Oberschicht latent verkommenen Cavalieres, allein nicht tragfähig für einen Roman von 500 Seiten, würde sie der Verfasser nicht ein wenig garnieren. Die wesentliche Zutat in dieser Melange aus Dichtung und Wahrheit, wie sie den historischen Roman traditionell kennzeichnet, ist dabei weniger die Qualität des frei Erfundenen (und an fiktiven Beigaben ist die Geschichte reich) als diejenige rhetorischer Ironie.

Rhetorisch insofern, als sich der Doppelsinn in Nievos Roman primär an den einzelnen Figuren, konkreter in ihrer Darstellung nach innen und außen realisiert. Die semantische Fallhöhe entsteht immer dann, wenn Selbstbild und Fremdwahrnehmung drastisch differieren und das Fehlverhalten beziehungsweise die Fehleinschätzung einer Figur motivieren, was schließlich, ganz in der Tradition des Lustspiels, zu komischen Szenen in Form des Missverstehens oder der zeitweiligen Bloßstellung führt. Betroffen sind davon nahezu alle Figuren des Romans, die edle Heldin nicht ausgenommen. In ganz besonderem Maße jedoch gerät der Cavalerie Terni zum Beispiel Nievo’scher Charakterisierungskünste. Celio, jung, attraktiv, ein wenig blasiert und in den landesüblichen Verstellungskünsten geübt, doch ernstlich in Morosina verliebt, verliert, angesichts der Unerschütterlichkeit all ihrer Vorsätze, zunehmend die Contenance. Da er jedoch im Grunde eine gutmütige Natur ist, also der moralischen Rekonvaleszenz wert, lässt der Erzähler ihn nicht fallen, sondern statuiert sein Exempel: Celio muss leiden und entbehren, bevor er Morosinas Zuneigung ernstlich verdient. Und solange dieser nicht hören will, wird er vorgeführt – etwa wenn der in seiner Eitelkeit gekränkte, verhinderte Casanova weiter an seinen amourösen Schlachtplänen laboriert: „Da bedauerte er, nicht früher erkannt zu haben, was für eine engelsgleiche Seele sie war […]. Nach diesen Überlegungen veränderte er seine Strategie grundlegend: er spielte den Leidenden, den Melancholischen, den Kranken. Formiani mied er, und Morosina sah er mit verstörtem, flackerndem Blick an; schließlich kam die Nachricht, Cavalier Terni liege mit einem rätselhaften Fieber darnieder, und einen Monat lang erschien er nicht mehr in den Zirkeln der venezianischen Gesellschaft.“ Freilich bleibt dieser Strategie der gewünschte Erfolg versagt.

Die Ironie erschöpft sich jedoch nicht allein in der Diskrepanz von Handeln und Denken, sondern manifestiert sich auch auf der Ebene der Redegestaltung. Zwar wäre es übertrieben, den Roman als ,panoramatisches Gesellschaftsportrait‘ zu bezeichnen – Vertreter der niederen sozialen Schichten kommen selten zu Wort –, jedoch ist das Spektrum der Dialekte und der verschiedenen Sprachmilieus bemerkenswert. Und davon lebt der Roman mehr als von der parabolischen Handlung. In weiten Teilen mutet er eher wie ein groß angelegtes Konversationsstück an, das auch ohne allwissenden Erzähler auskommt: Die Figuren sprechen unaufhörlich, inszenieren und demaskieren sich durch ihre Rede – ohne Einschränkung. Seien es die hohen Herren des Rates oder die zänkischen Hausangestellten: Dass die differenzierte Zeichnung der Figurensprache auch in der Übersetzung ins Deutsche erhalten bleibt, lässt sich kaum hoch genug schätzen, ist sie doch für die Psychologisierung der Agierenden unerlässlich. Jede Figur ist durch sprachliche Charakterisierung individualisiert und besitzt ihre eigene Färbung. Mag der mitunter von Archaismen und venezianischen Idiomen durchzogene Roman dem zeitgenössischen Leser überkommen anmuten, sorgt dies zugleich für das seltene Vergnügen, einen nicht-zeitgenössischen Text zu lesen.

Zu dieser behutsamen, ganz den Duktus des Settecento einfangenden Übertragung ist Barbara Kleiner, die schon Nievos Hauptwerk, die „Bekenntnisse eines Italieners“, für den Manesse Verlag übersetzte (2005), aufrichtig zu gratulieren. Hier ist das Gespür einer behutsamen Transformation und nicht zuletzt die reiche Erfahrung zu spüren, die Kleiner als Übersetzerin von Italo Svevo, Primo Levi und Elio Vittorini über die Jahre gesammelt hat. Dass sie jüngst mit dem deutsch-italienischen Übersetzerpreis für den „Engel an Güte“ ausgezeichnet wurde, ist nicht zuletzt kulturpolitisch eine erfreuliche Geste. Zeigt sie doch, wie notwendig Stipendien und Förderungsinstitutionen wie das Literarische Colloquium Berlin und der Deutsche Übersetzerfond sind, die das Erscheinen des Romans im Deutschen mit ermöglicht haben. Dass der Manesse Verlag sich darüber hinaus redlich bemüht hat, Nievo auch einem weniger literaturhistorisch versierten Publikum zugänglich zu machen, bezeugen der umfassende Appendix sowie das informative Nachwort Lothar Müllers, das Einführung in Werk und Zeit mit eleganter Kritik verbindet.

Und auch dem weder an Histörchen noch an romantischer Fabulierkunst Interessierten sei das Buch in ganz pragmatischer Hinsicht empfohlen, eignet es sich doch bestens als Baedeker-Korrelat in der Reihe literarischer Hommagen an Venedig. Und dass nicht zuletzt das 19. Jahrhundert mit Talent die Mythenmaschinerie bediente, wissen wir spätestens seit Heinrich Heine: So mag man schließlich auch Morosina als moderne Wiedergängerin jenes Engels begreifen, der dem heiligen Markus, als er schiffbrüchig in der Lagune strandete, erschien. Dieser prophezeite dem Evangelisten, dass dies der Ort sei, an welchem einst seine Gebeine die ewige Ruhe fänden und dass die Stadt, die hier gegründet werde, zu Großem bestimmt sei.

Titelbild

Ippolito Nievo: Ein Engel an Güte. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Manesse Verlag, Zürich 2010.
557 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783717521747

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