Verbrechen und Strafe in den Sechzigern

In seinem Debütroman „Wir sind die Könige von Colorado“ öffnet David E. Hilton Räume der toten Erinnerung

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Debüt! Der 1974 geborene und heute in der Nähe von Austin in Texas lebende David Hilton hat einen Roman vorgelegt, dessen Ich-Erzähler man so schnell nicht vergisst. Die Lebensgeschichte von William Shepard, die hier erzählt wird, bleibt noch lange nach der letzten Seite im Bewusstsein des Lesers präsent. Das liegt nicht zuletzt an der bei aller beschriebenen Brutalität poetischen, ja rührenden und anrührenden Sprache, mit der sich hier ein einfacher Mann, ein ehemaliger Versicherungskaufmann, Rechenschaft über sein Leben, genauer gesagt, über seine Jugendjahre geben will.

Ausgehend von der fulminanten Selbsteinführung des Ich-Erzählers im ersten Satz werden ältere Schichten seines Lebens sichtbar und ans Tageslicht des Gegenwartsbewusstseins befördert, die eine Ahnung davon aufkommen lassen, aus welchen Erfahrungen, Erlebnissen, Verletzungen und Sehnsüchten sich schließlich eine Katastrophe und ein ganzes Leben zusammensetzt: „Im Sommer 1963, als ich dreizehn war, stieß ich meinem Vater ein Davy-Crockett-Taschenmesser in die Brust. Das ist über fünfzig Jahre her.“

In den folgenden ersten beiden kurzen Kapiteln berichtet der Ich-Erzähler William Sheppard von der Leere nach der Tat, von einer merkwürdigen Empfindungslosigkeit und davon, dass ein Mann manchmal „die wichtigsten Dinge in seiner Vergangenheit wegschließt, nur um zu vergessen, dass sie eine Zeit lang alles waren, was zählte“. In diese Erzählgegenwart des alten William der Rahmenerzählung bricht unvermittelt die Vergangenheit durch die zufällige Konfrontation mit einem sterbenden Pferd nach einem Unfall wieder ein und macht das Vergessen davon, „was sich überhaupt hinter dieser verschlossenen Tür, in diesem Raum aus toten Erinnerungen, verbirgt“, unmöglich.

Gleichzeitig ist dieses Erlebnis Auslöser und Anlass für Williams Rückblick auf seine Jugendjahre, von denen die Binnenerzählung berichtet, die den allergrößten Teil des Textes ausmacht. Das Berührende an diesem an Brutalitäten und Beschreibungen erniedrigender und menschenverachtender Handlungen und Übergriffe nicht geraden armen Roman liegt vor allem in der Aufrichtigkeit seines Ich-Erzählers begründet, der hier ohne Beschönigung ein Bekenntnis und Rechenschaft zugleich ablegt. Gleichzeitig wird der gesamte Text als privates Dokument inszeniert, indem William zu Beginn beteuert, es sei ihm egal, wer diese Seiten lesen werde, da er sie für sich selber schreibe, was dazu führt, dass der Leser zwei Mal seinen ersten Satz liest. Erst am Ende des zweiten Kapitels leitet der Erzähler dann zum eigentlichen Anfang des Textes über: „Als ich dreizehn war, stieß ich meinem Vater ein Messer in die Brust. Da werde ich anfangen.“

Der Lebensabschnitt, der für William mit der Einweisung im September 1963 auf die Swope-Ranch in den Bergen von Colorado – einer staatlich sanktionierten Besserungsanstalt für jugendliche männliche Gewalttäter, wo die Jugendlichen zusammen mit den Aufsehern an der Pflege und Abrichtung von Wildpferden arbeiten – beginnt, dauert nur zwei Jahre. Zwei Jahre aber, die den Protagonisten für immer verändern werden und die beim Leser nach der Lektüre tiefe Verunsicherung darüber zurücklassen, nach welchen Maßstäben eine Gesellschaft Gut und Böse beurteilt, in welchem Verhältnis Verbrechen und Strafe stehen. Dabei, das sei noch einmal deutlich gesagt, unterliegt die Erzählung des Ich-Erzählers nie dem Gestus einer Apologie. Auch wenn man freilich erfährt, dass der Junge nur zum Messer gegriffen hat, um seine Mutter vor dem brutalen und im Alkoholsuff auch gewalttätig werdenden Vater zu schützen. Auch wenn sich herausstellt, dass die meisten der in der als Gefängnisersatz fungierenden Erziehungsanstalt einsitzenden Jungen sich Verbrechen schuldig gemacht haben, zu denen sie gewissermaßen getrieben wurden. Zumindest von Benny, Coop und Mickey, mit denen sich William nach einiger Zeit anfreundet, erfährt der Leser, dass ihre Gewalttaten im Grunde nur das Resultat von Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit gegenüber fortwährenden Verletzungen und Angriffen im häuslichen und privaten Rahmen der Familie oder des sozialen Umfeldes ausgesetzt sind. Tatsächlich wird hier am Beispiel der vier Jungen gezeigt, wie gute oder auch nur gut gemeinte Taten Unglück nach sich ziehen.

Dieses Unglück erleben William und seine Leidensgenossen täglich, indem sie sich konfrontiert sehen mit einem Anstalts-Mikrokosmos, der seinen ganz eigenen Gesetzen folgt. Abgelegen vom Rest der Zivilisation sollen die Jungen hier mehr bestraft, als gebessert werden, sie sollen ihre Schuld körperlich empfinden, wozu die hierarchische Struktur auch unter den Gefangenen nicht wenig beiträgt – als symbolisches Spiegelbild hierzu sind freilich die Zähmungen der Wildpferde zu verstehen. Einige nämlich, wie Silas Green, sind ‚wirklich böse‘ und nutzen ihre körperliche Überlegenheit und moralische Skrupellosigkeit, um die Neuen und Schwächeren zu unterdrücken, zu verletzen und auch zu töten.

Die bisweilen nach Erscheinen des Romans von amerikanischen Literaturkritikern angestrengten Vergleiche mit William Goldings „Herr der Fliegen“ ist nur insofern berechtigt, als auch bei Golding gezeigt wird, wie eine Gruppe von Jungen durch die räumliche Trennung von jeglicher Zivilisation und katalysatorisch wirkender Gesellschaft ihre eigenen Regeln und Hierarchien entwickelt und einmal befreit von Zwängen, sich Grausamkeit und Brutalität immer mehr steigern. Doch ist das Hauptmerkmal und Ausgangspunkt von Goldings Text eine Science-Fiction-Konstellation, die die Jungen überhaupt erst auf die entlegene Insel verschlägt. Daher erscheinen Goldings Erzählung und die darin beschriebenen Gewaltakte und Entwicklungen auch stärker als literarisches Experiment, in dem Menschen und ihre Verhalten unter Extrembedingungen gezeigt werden sollen. Genau das Gegenteil ist aber bei Hiltons Debütroman der Fall. Schon von der Erzählkonzeption und auch Motivation der Handlungen her ist sein Text zunächst einmal einer realistischen Schreibhaltung verpflichtet. Gezeigt wird zwar dennoch eine entfesselte Gemeinschaft junger Männer, die sich in der Isolation ihren Gewaltphantasien hingibt, die noch durch das unverantwortliche Verhalten der Wärter und Anstaltsleitung gefördert werden, doch reflektiert und rezipiert der Text viele Vorstellungen von Erziehung, Verbrechen und Bestrafung, wie sie in den 1960er-Jahren gängig gewesen sind.

Entlarvt wird dabei freilich eine Erziehungsidee, die das Individuum seiner Individualität und Würde beraubt, die unerbittliche Strenge und eine harte Hand einer Analyse der ja immerhin jugendlichen Gewalttäter vorziehen und nach der Besserungsanstalten konzipiert sind, in denen Aggressionen, die eigentlich bekämpft und verhindert werden sollten, erst richtig gepflegt und kultiviert werden. Trotzdem ist dieser Roman, ist sein Ich-Erzähler kein Ankläger dieses Erziehungssystems. William Sheppard ist ein eher resignierter und leicht melancholischer Protagonist. Seine jugendlichen Erfahrungen in der Besserungsanstalt haben ihn weniger verbittert gemacht als vielmehr ratlos im Umgang mit Schuld und Buße.

Im Unterschied zu den aus amerikanischen Romanen der letzten 50 Jahre bekannten mittleren Helden kommt Hiltons Protagonist nicht aus der Mittelschicht, sondern arbeitet sich nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen seiner schlechten Herkunft und schrecklichen Erfahrungen in die Mitte der Gesellschaft vor – und ist vielleicht darum auch in seinem Mittelmaß noch authentischer und für den Leser faszinierender als John Updikes Harry (Rabbit) Armstrong oder die Helden von Richard Yates. Wie selbstverständlich hier auch mit Gattungsmustern des Adoleszenz- und Zeitromans, des Erinnerungsbuches, des Abenteuerromans und Westerns gespielt wird, unterstreicht noch einmal, was vom Debütanten Hilton in Zukunft noch erwartet werden darf.

Am Ende, wieder in der erzählten Gegenwart des alten William Sheppard angekommen, macht der Ich-Erzähler eine alltägliche Beobachtung, die symptomatisch ist für die Frage danach, was eigentlich der Wert jener Erinnerungen für ihn ist, was am Ende von seinem Leben bleibt: „Und dann schaute ich eines Morgens beim Pinkeln in den Badezimmerspiegel und sah einen Mann in den mittleren Jahren. Ich nehme an, so geht es den meisten Menschen irgendwann in ihrem Leben. Ich war einundfünfzig.“

Titelbild

David E. Hilton: Wir sind die Könige von Colorado. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell.
Arche Verlag, Zürich 2011.
392 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783716026472

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