Bedürftig, fremd und ausgeschlossen

Herbert Uerlings, Nina Trauth und Lukas Clemens geben den Begleitband zur Trierer Ausstellung über „Armut“ heraus

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als er sieht, wie Antinoos den als Bettler verkleideten Heimkehrer Odysseus verhöhnt und mit einem Schemel bewirft, rügt das einer der anderen Penelope-Freier als Verstoß gegen das Sittengesetz:

„Übel, Antinoos, tatst du, den armen Fremdling zu werfen!
Unglückseliger! wenn er nun gar ein Himmlischer wäre!
Denn oft tragen die Götter entfernter Fremdlinge Bildung;
Unter jeder Gestalt durchwandeln sie Länder und Städte,
Daß sie den Frevel der Menschen und ihre Frömmigkeit schauen.“

Klingt dieser Passus aus dem 7. Buch der „Odyssee“ (in der Voß’schen Übersetzung) nicht wie eine Präfiguration der Gerichtsankündigung beim Evangelisten Matthäus (25,31ff.)?: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Sicherlich, die neutestamentlich postulierten „Werke der Barmherzigkeit“ (Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen) sind in ihrer eschatologischen Prägnanz christliches Eigengut. Trotzdem ist es wohl – allein im Hinblick auf die obige Homer-Stelle – kaum statthaft, den Menschen des heidnischen Altertums den Sinn für barmherzige Humanität komplett abzusprechen, wie es der Begleitband zur Trierer „Armut“-Ausstellung tendenziell unternimmt, wenn es dort heißt, „dass geistig-moralische Grundlagen im Sinne einer christlichen Karitas, also Vorstellungen von einer moralischen Pflicht des Teilens und der Barmherzigkeit, sowohl Griechen wie Römern völlig fremd waren“.

Zum Beleg für die Herzlosigkeit der Antike wird im Begleitband etwa eine hellenistische Bronzestatuette aus Alexandria vorgeführt, die einen ausgemergelten, buckligen Alten darstellt und in der man einen Bettler zu erkennen meint. Der Kommentar zu diesem Exponat bemüht unter anderem Cicero („De oratore“), der geschrieben habe: „Missgestalt und körperliche Gebrechen bieten einen guten Stoff für Scherze.“ Desgleichen führt man die dritte Satire Juvenals an, um den Beweis zu führen, dass die vorchristlichen Gesellschaften für bedauernswerte Mitgeschöpfe nichts als Hohn und Spott übrig gehabt hätten.

Die Trierer Autoren übersehen dabei aber, dass erstens Cicero seinen „Redner“ anhielt, über Körperbehinderte keine „abgeschmackten“ Witze zu machen, und dass zweitens Juvenal sich höchst indigniert zeigte, wenn die blasierte urbane Geld-Elite Roms arme Leute mit Missachtung überzog.

Es dürfte daher unstatthaft sein, aus der Beobachtung, dass in der heidnischen Antike der Vermögende mit seinem Vermögen und seinen Privilegien geizte, den Schluss zu ziehen, das gesamte Abendland sei vor seiner Christianisierung von lauter mitleidslosen Egoisten bevölkert gewesen. Seneca hielt es für eine pure Selbstverständlichkeit, sein Brot mit dem Hungrigen zu teilen und schrieb: „Die Natur schuf uns als Blutsverwandte, da sie uns aus demselben Stoff und zu demselben Zweck hervorgebracht hat. Sie senkte wechselseitige Liebe in unsere Brust und machte uns zu sozialen Wesen.“

Im allgemeinen jedoch scheint sich antike Wohltätigkeit in Gestalt des „Euergetismus“ vollzogen zu haben, was bedeutet: Hauptadressaten der Zuwendungstätigkeit waren politische, soziale und kulturelle Institutionen, nicht die jeweils bedürftigen Individuen.

Das Christentum verband die Nächstenliebe mit der Gottesliebe und sah im Almosengeben einen Weg der Christusnachfolge. Urbild des Ideals der Hinwendung des Einzelnen zum Einzelnen war und blieb der barmherzige Samariter. Allerdings formalisierte sich das Wohltätigkeitswesen zunehmend mit der Herausbildung hierarchischer Kirchenstrukturen und erst recht nach der Übernahme der Staatsgewalt. Trotzdem wurden mildtätige Einzelpersonen, die ihr Herz und ihre Truhen den Armen öffneten, zur Ehre der Altäre erhoben: Martin von Tours, Franz von Assisi oder Elisabeth von Thüringen.

Bernhard Schneider („Armut und Armenfürsorge in der Geschichte des Christentums“) rekonstruiert diese Verhältnisse in gedrängter Form von den Anfängen bis hin zur Soziallehre des Jesuiten Oswald von Nell-Breuning und dem heutigen karitativen/diakonischen Engagement der Kirchen. Nach 2.000 Jahren „Christentum und Armenhilfe“ zieht er „eine gemischte Bilanz“.

Wie Nell-Breuning war Karl Marx ein Sohn der Ausstellungsstadt Trier. Er hegte für das „Lumpenproletariat“ wenig Sympathie; und auch die Arbeiterbewegung übernahm die uralte, ebenso einleuchtende wie problematische Unterscheidung zwischen „ehrlicher“ und „unehrlicher“ Armut. So gesehen, befand sich Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering 2006 nicht gänzlich im Abseits der SPD-Tradition, als er unter Rekurs auf ein Pauluswort dekretierte: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Es ging dem Schröder-Mitstreiter eben um Propaganda für die Durchsetzung der „Hartz IV-Reform“, mit der, so Herbert Uerlings in seinem Einführungsessay, die „partielle Rücknahme des Sozialstaats erfolgt[e]“. Das besagt im harten Kern: „Die Kopplung von Sozialleistungen an den Staatsbürgerstatus wird […] seit ein, zwei Jahrzehnten wieder gelöst und zum Teil ersetzt durch das (alte) Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Der Staatsbürgerstatus reicht nicht mehr aus. Man muss darüber hinaus bestimmte Leistungen erbringen, eine Politik, die in Deutschland in der Formel vom ‚Fördern und Fordern‘ ihren Ausdruck fand“.

Die Ikone der bundesrepublikanischen Revision von Sozialstaatlichkeit offeriert der Katalogteil des Ausstellungsbandes unter Nr. 146: „Peter Hartz überreicht Gerhard Schröder das Reformkonzept für den Arbeitsmarkt“. Hinter der sinistren Strahlkraft dieses Foto-Dokuments des lächelnden Herrenzynismus wollen die anderen Ausstellungs-„Highlights“ schier verblassen; seien es Pieter Brueghels d.J. „Sieben Werke der Barmherzigkeit“, seien es Rembrandt van Rijns „Bettelmusikanten“ oder sei es „Das karge Mahl“ von Pablo Picasso.

Lassen wir eine konzeptionelle Kaprice der Schau undiskutiert: Nach fünf „Perspektiven“ („Dokumentation“, „Appell“, „Ideal“, „Stigma“ und „Reform“) haben die Verantwortlichen die Exponate im Hauptteil der Ausstellung (Simeonstift) angeordnet. Antike Objekte sind zusätzlich im Landesmuseum zu sehen. Museumsbesucher wie auch Leser des – ausgezeichnet lektorierten – Begleitbuchs sind indes gut beraten, wenn sie sich über Sinn und Zweck dieses eigenwilligen Organisationsprinzips nicht unnötig den Kopf zerbrechen.

Wohl aber hat man Anlass, über die angeblichen methodologischen Vorzüge der strukturgebenden und präsentationsleitenden Differenz „Inklusion/Exklusion“ zu reflektieren, die seit einigen Jahren sozial- und kulturwissenschaftlich en vogue ist: „In der Armutsforschung hat das Konzept der ‚sozialen Exklusion‘ den alten Armutsbegriff weitgehend verdrängt, weil es neue Erkenntnismöglichkeiten bietet und bereits Bekanntes in neuem Licht erscheinen lässt.“ So wieder Uerlings, der weiter erklärt: „Das Begriffspaar Inklusion/Exklusion liegt zudem quer zur alten Unterscheidung von ‚oben‘ und ‚unten‘. Es trägt damit u.a. der Tatsache Rechnung, dass in modernen Gesellschaften das Verarmungsrisiko auch für jene, die ‚drin‘ sind, hoch ist.“

Solchen denkbaren Gewinnen des neuen Paradigmas aber steht womöglich ein Verlust gegenüber: Mit der begrifflichen Integration in andere Mechanismen der Ausschließung droht der „Armut“ ein Verlust an Singularität und existentieller Würde. Ist die Marginalisierung ethnischer, religiöser und anderer Minderheiten wirklich mit demselben Instrumentarium adäquat zu erfassen wie die Produktion von Armut, die Millionen Hungers sterben lässt? Und es ist wohl erst recht nach der Legitimität des „nicht-normativen Konzepts Inklusion/Exklusion“ (Uerlings) zu fragen, wenn rassisch beziehungsweise völkisch motivierter Massenmord als bloßes Exemplum von „Exklusion“ figuriert.

Ein Faltprospekt zur Ausstellung enthält auch „Planungstipps für Gruppen“. Interessierte können vor oder nach dem Besuch von „Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft“ etwa eine Schiffstour auf der Mosel genießen, sich im Erlebniszentrum Villeroy & Boch, Mettlach umtun oder es sich in der Stadt Luxemburg gutgehen lassen, die „viele Einkaufsmöglichkeiten und eine wunderbare Küche“ zu bieten hat.

Titelbild

Herbert Uerlings / Nina Trauth / Lukas Clemens (Hg.): Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft.
Primus Verlag, Darmstadt 2011.
448 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783896788597

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