Die besten Köpfe Europas

Philipp Bloms Buch „Böse Philosophen“ handelt von einem Salon in Paris und dem „vergessenen Erbe der Aufklärung“

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Buch „Böse Philosophen“ erinnert der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom an die aus dem historischen Gedächtnis verschwundene radikale Variante der europäischen Aufklärung, an deren Spitze nicht, wie oft behauptet wird, Voltaire und Jean-Jacques Rousseau stehen, sondern, wie Blom schreibt, Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723-1789) und Denis Diderot (1713-1784). Ihre Ideen hätten eine so große Sprengkraft besessen, dass schon Robespierre und seine Gefährten sie bekämpft haben. Beide, der heute fast vergessene Baron Thiry d’Holbach und sein Mitstreiter Diderot, traten für eine Gesellschaft ein, die frei, gerecht und nicht auf Lügen und Unterdrückung basieren sollte, und plädierten für ein Leben ohne Angst.

In Holbachs Salon, in dem sich regelmäßig die besten Köpfe Europas wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution trafen, wurden diese Ideen eifrig diskutiert, subversive Bücher verfasst und die Fundamente des abendländischen Denkens in Frage gestellt. Mit intellektuellem Wagemut rang man um eine zeitgemäße Philosophie, die die Religion hinter sich lässt und die nicht nur auf die Kraft des Verstandes setzt, sondern auch den Leidenschaften einen angemessenen Platz einräumt.

Holbach und Diderot lehrten ferner, dass die Welt aus zahlreichen Atomen zusammengesetzt ist, die durch komplexe Beziehungen miteinander verbunden sind. Darüber hinaus gibt es, ihrer Meinung nach, keinen kohärenten Sinn und keinen höheren Zweck des Lebens als das Überleben selbst. Während rationalistische und gemäßigte Aufklärer wie Voltaire glaubten, dass es einen Gott geben müsse, einen großen Uhrmacher, der den Mechanismus der Welt in Gang gesetzt habe, war man in Holbachs Salon davon überzeugt, dass sich die Welt durch Zufall und natürliche Auswahl entwickelt habe, ohne die lenkende Hand einer höheren Intelligenz oder Schöpfers, der seinen Kreaturen in der Bibel seinen Willen verkündet hat. Damit mussten nun auch die Kategorien wie gut und böse neu überdacht werden, ebenso die Lehren von Sünde und unsterblicher Seele, von Belohnung und Strafe nach dem Tode – was blieb, war die Suche nach Genuss und die Furcht vor Schmerz.

Während die Philosophie, führt Blom weiter aus, den Menschen lange als Vernunftwesen und die Vernunft als dem Göttlichen verwandt betrachtet hatte, argumentierten die radikalen Aufklärer, dass das menschliche Wesen anderen Prinzipien gehorcht und dass kein transzendentaler Maßstab für das Gute und Schöne existiert. Ohnehin sei den meisten Menschen klar, was ihnen gut täte und was ihnen schade. Das allein reiche als moralisches Prinzip aus. Diese Idee hat natürlich revolutionäre Folgen. Wenn nämlich jeder Mensch das Recht hat, sein Glück zu schaffen, dann ist niemand berechtigt, Macht über andere auszuüben. Einzig das Prinzip Solidarität, glaubte man in Holbachs Salon, führe zu einem konstruktiven Zusammenleben und zu einer Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt getragen sei, ohne Meister und Sklaven, ohne Unterdrücker und Unterdrückte. Ferner lehnten die radikalen Aufklärer die religiöse Liebe zum Leiden ab.

Holbach und Diderot formulierten eine Ethik des Begehrens, die sie als echte Alternative zu religiösen Moralvorstellungen verstanden, als den absoluten Gegensatz zu einer Kirche, die auf Selbsthass aufgebaut sei. Doch nicht in den radikalen Aufklärern, sondern in Voltaire und Rousseau sahen und sehen noch immer viele, bedauert der Autor, die eigentlichen Verfechter der Menschenrechte und die Verkörperung des Kampfes zwischen Vernunft und Glauben, obwohl im Grunde Voltaires Gedanken aus nicht viel mehr als gesundem Menschenverstand bestünden „mit viel Witz und Hochglanz poliert“, während Rousseaus Philosophie den Weg für die Unterdrückung des Menschen im Namen des „Guten“ geebnet und damit viele totalitäre Regime des 20. Jahrhundert wie etwa Vladimir Lenin und Pol Pot ermöglicht habe.

Blom geht mit den gemäßigten Aufklärern hart ins Gericht, sogar mit Immanuel Kant. Immerhin habe der Königsberger Philosoph mit seiner großen metaphysischen Untersuchung ein Türchen offen gelassen, durch das Gott wieder zurück in die Philosophie kommen konnte. Auch eigne sich diese, zusammen mit Voltaires Philosophie, hervorragend als Überbau für die Werte eines kapitalistischen Bürgertums. Der Autor fordert daher eine stärkere Beachtung der sogenannten radikalen Aufklärer, deren Denken und Visionen seiner Ansicht nach nichts an Aktualität und Relevanz eingebüßt haben. Durch sie könnte unsere postchristliche Welt humaner werden. Wir müssten uns nur darum bemühen, wie es schon Epikur gefordert hat, unsere Leidenschaften zu verfeinern und zu lenken, statt zu verleugnen.

Leider folgten wir noch immer religiösen Denkmustern, dächten lieber in Bildern wie Erlösung und Verdammnis, fürchteten, wenn wir in die Zukunft blicken, die Apokalypse und erwarteten immer noch das Ende der Geschichte im Paradies oder in ewiger Verdammnis. Selbst in unserem erotischen Verlangen folgen wir mitunter noch dem christlichen Ekel vor dem eigenen Körper. Der Wert des eigenen Lebens werde auf diese Weise unterminiert. Stattdessen sollten wir uns an Holbach und Diderot halten, die die Perversion christlicher Argumente eindrucksvoll analysiert und sich eine Welt ohne Gott gedacht haben. Sie bewiesen intellektuelle Klarheit und moralischen Mut.

Blom erinnert in diesem Zusammenhang an das alte Griechenland, in dem man dem Leiden keinerlei moralischer Wert beigemessen hat und mitnichten wie im Christentum der Meinung war, dass ein hartes Schicksal uns zu besseren Menschen machte. Blom konfrontiert den Leser seines Buches mit brisanten Fragen: Wie kann ein Individuum in unserer heutigen Welt mit dem Bedürfnis nach Sinn umgehen? Ist unser Verlangen nach Werten und nach einer Wahrheit vergeblich? Brauchen wir überhaupt Gott? Welche Haltung zur Religion benötigt eine integrative, offene Gesellschaft? Was hat Diderot uns anzubieten? Und was Rousseau?
Ein intellektuell bewusstes Leben ohne offenbarte Wahrheit und ethische Letztbegründung – das weiß auch der Autor – ist schwierig und kann unsere Sehnsucht nach Sinn nicht befriedigen, doch nicht jede Sehnsucht könne befriedigt werden. Schließlich sei es nicht nur die Aufgabe der Philosophie, die richtigen Fragen zu stellen, sondern die Resultate einer guten einleuchtenden Argumentation zu akzeptieren, auch wenn sie uns nicht angenehm sind. Ein Denken, das nicht mehr implizit theologisch ist, könne ein Schlüssel sein bei dem Bemühen, eine Gesellschaft zu schaffen, deren Regeln und philosophische Prämissen nicht gegen den großartigen Primaten Mensch denken, sondern mit ihm und für ihn. Der Streit zwischen Diderot und Rousseau sei daher heute aktueller denn je. Aber systematisch werde verdrängt, dass wir unsere Werte nicht der Religion verdanken, sondern der Aufklärung – und zwar nicht der eines Rousseaus, sondern der des radikaleren Diderot.

Gewiss lohnt es sich, die Ansichten der radikalen Aufklärer intensiv zu durchdenken. Bloms gut lesbares und anekdotenreiches Buch, durch das viele berühmte Namen aus der abendländischen Ideengeschichte schwirren – Baruch Spinoza, René Descartes, Kant, Isaac Newton, David Hume und etliche andere –, regt an, ihre Ethik der Empathie und Solidarität genauer in Augenschein zu nehmen. Doch sollen und wollen wir wirklich ihretwegen, wie Blom nahelegt, Kants poetischen Satz, „der gestirnte Himmel über mir, das moralische Gesetz in mir“ über Bord werfen und mit ihm lieb gewordene religiöse Vorstellungen? Sollen wir uns nur an das Konkrete und Anschauliche halten und nicht auch mit Kant das „Ding an sich“ zu denken wagen? Der Leser möge selbst entscheiden.

Titelbild

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
400 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236486

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