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Über Uwe Kolbes Essaysammlung „Vinetas Archive“

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Heimliche Feste“ noch hatte der 2008 erschienene Gedichtband von Uwe Kolbe geheißen, der der nun vorliegenden Sammlung von Essays und Prosastücken unter dem Titel „Vinetas Archive“ voranging. Den Titel der Gedichtesammlung wörtlich genommen, lässt sich der aktuelle Band (auch) als eine Art Ergänzung dazu auffassen. Denn so sehr vielleicht die Vokabel ‚heimlich‘ etwas Verborgenes suggeriert – das die in jenem Buch versammelte Lyrik mitnichten ist – und zugleich an heimisches Aufgehobensein denken lässt, so sehr erinnern auch „Vinetas Archive“ an unentdeckte Fundstücke.

Mit solchen ist der Band gut ausgestattet und präsentiert sich zudem mit einer Diversität von Themen und Diktionen. Zusammengetragen hat Kolbe hier „Annäherungen an Gründe“, so der Untertitel, die zwar nicht explizit für diesen Band geschrieben wurden, auf deren weitreichende Bearbeitung für die vorliegende Sammlung jedoch hingewiesen wird. „Vinetas Archive“ ist somit zugleich wörtlich gemeint und bezeichnet nicht allein den fantastischen Ort jener versunkenen Stadt. Dennoch bleibt der Zusammenhang mit Untergegangenem oder Verschwundenem gültig, an das der mythische Name Vineta erinnert.

Im Archiv als Ort der Sammlung bieten sich hier bei Kolbe eine Menge Einblicke in Erlebnisse des Autors oder Begegnungen mit Dichterkollegen oder seine Auseinandersetzung mit Literatur und Texten. Dies meint sowohl persönliche Zusammentreffen als auch solche, die sich an Texten vollziehen. Angesichts des thematischen Spektrums, das auch aus Kolbes Lyrik und sicher ebenso von dem Band „Renegatentermine“ (1998) bekannt ist, verwundert vielleicht das eröffnende Bekenntnis auch diesmal sei die Initiative nicht von ihm, Kolbe, ausgegangen. Eigentlich bezieht sich dies dort auf die Beantragung eines Ausreisevisums. Doch die Aussage mag im Kontext der Eingangsnotiz, dieser Band sei nach der „strikten Aufforderung“ eines Freundes entstanden, auch anders aufgefasst werden.

Zweifelsfrei und fast schon erwartbar ist gleich zu Anfang (und dann noch mehrmals) das Auftauchen von Franz Fühmann, der Kolbe von den 1970er-Jahren an sehr unterstützt hatte. Kolbe blieb dem deutlich älteren Freund eng verbunden, hielt auf Fühmanns Wunsch hin gar die Rede an seinem Grab. Die väterliche Unterstützung Fühmanns etwa zeigt Kolbe ausführlich und offen, als er über seinen ersten Besuch in Westberlin berichtet, die Grenzüberquerung am Bahnhof Friedrichstraße und die beinahe überbordende und doch traumähnliche Euphorie, die ihn als jungen Dichter bei den ersten Schritten jenseits der Mauer offenbar überkam („Tabu“ und „Marginalien, bereitgestellt zur erzählerischen Rekonstruktion einer verblassenden Identität“). Dies ergänzen die von Detaileindrücken angefüllten (manchmal berichtartigen) Texte zur Wende, zum Alltag des aufwachsenden ‚Hineingeborenen‘ oder die literarisierte Darstellung des jungen Autors sowie die pointierte Generationsschau, die das Unverständnis zwischen der letzten DDR-Generation und der ihr vorhergehenden kritisch illustriert. Diese offenen Darlegungen der Erfahrungskontexte bieten als ernsthafte Innenansichten eine anziehende Lektüre.

Andernorts taucht Johann Christian Friedrich Hölderlin als Hauptfigur in dem wohl poetischsten, gar leicht lyrischen Text des Bandes auf („Hölderlins Gewissen“). Zudem ist in der als Abschluss gesetzten Antwort an Schüler aus Eberswalde zu erfahren, Hölderlin sei Kolbe ein permanenter Begleiter. Zu dessen filigraner Wortkunst führt er sogleich ein Beispiel an, Hölderlins bedachte Verwendung des ‚aber‘. Dazwischen stehen gewissermaßen Fundstücke, fast Fingerübungen zu nennen, in denen sich Kolbe als Stones-Kenner und aufmerksamer Hörer und Leser von deren Texten erweist oder gar ein (Koch-)Rezept. Kolbe hat auch das Nachwort zum ersten Band der Werke Wolfgang Hilbigs („Die Gedichte“) geliefert. Er bringt hier wiederum diese emfehlenswerte ‚Annäherung‘, und zwar ergänzt durch einen Nachruf auf den Dichter, der zugleich Arbeiter war und umgekehrt.

Die Bandbreite an Themen und auch Stilen in Kolbes neuestem Buch macht Lust auf das Hin- und Herwechseln darin, spornt den Entdeckergeist an. Allerdings sind die Essays ästhetisch schwächer, wo sie sich mit vermeintlicher Leichtigkeit im politisch-historischen Statement versuchen oder wo Skizzen von Zeitgenossen in Stereotypie abgleiten. Kolbes Essayistik ist für sich am wirkungs- und eindrucksvollsten, am stärksten, wo sie eigene Lektüreerlebnisse darstellend vermittelt und wo sie angefüllt ist mit einem Gestus, der dazu auffordert, es dem Essayisten in der Intensität seiner Lektüren zum Beispiel von Wolfgang Hilbigs Lyrik oder der Texte von Robert Walser gleichzutun. Wenn Kolbe Künstler wie Hans Scheib oder Christiane Latendorf vorstellt oder sich „Dietmar Riemanns Fotografie der Totenmaske Franz Fühmanns“ ansieht, überzeugt sie, diese Essayistik.

Titelbild

Uwe Kolbe: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308824

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