Kein Weltuntergangsroman

Peter Handkes Dystopie „Der Große Fall“ erzählt vom Ende der Geschichte

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es war eine Endzeit. Aber man hatte sich an sie gewöhnt. Sie würde nie enden.“ Dieser Satz aus der Mitte des neuen Romans von Peter Handke liefert eine apokalyptische Zustandsbeschreibung, wie sie kaum treffender für die (nur scheinbar) nicht-apokalyptische Gegenwart des Lesers sein könnte. Nach den großen Utopien, den epochalen Umbrüchen und den weltbewegenden Katastrophen sind wir vor etwa 20 Jahren in einer Zeit angekommen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass in ihr alle Epochen und Utopien an ein Ende gelangt sind und die Kulturen in einem Zustand der „post histoire“ zurück gelassen haben, wie Francis Fukujama dies einmal treffend definiert hat. Der Telos und das Eschaton sind einer Zustands- und Gegenwartsbeschreibung gewichen, einem totalen Jetzt, das bei Handke in fataler Weise mit einem totalen Hier verbrüdert ist.

Sein Roman erzählt wie die vielen vor ihm von einer Bewegung, die um ihrer selbst willen zu geschehen scheint, weil sie zwar ein scheinbares Ziel hat, doch nie an ein Ende gelangt. Der Ich-Erzähler ist Schauspieler. Er erwacht zu Beginn seiner Erzählung in einem fremden Haus in einem fremden Land; die Nacht hatte er zusammen mit einer Frau verbracht, die ihn seit Jahren liebt – er sie hingegen nicht; eine Liebesgeschichte ist also nicht zu erwarten. Beide sind miteinander verabredet: Er soll sie abends in der Stadt treffen, von wo aus beide zu einer Ehrung des Schauspielers gehen wollen. Am darauffolgenden Tag sollen die Dreharbeiten für seinen neuen Film beginnen, in dem er einen Amokläufer spielt. Dazu wird es allerdings nie kommen, denn der Roman endet vorher, und die Erzählung erzählt überdies in eine ganz andere Richtung als es die Pläne für den Schauspieler vorsehen: kein Ziel also, kein Telos, kein (Happy) End. Sein Gang aus dem Haus durch die Natur in die Vororte und schließlich in das Stadtzentrum wird zu einem Vorlaufen in die Endzeit.

Die erzählte Zeit des Romans ist in der Zukunft angesiedelt, genau genommen zwischen Juli und September 2011 (so ist der Text an seinem Ende unterschrieben). In dieser Zukunft herrscht Krieg in dem Land, in dem sich der Schauspieler als Fremder aufhält. Genau genommen bricht dieser Krieg gerade aus, als der Schauspieler das Stadtzentrum erreicht. Schon zuvor hatte er erkannt: „Die Zeit der Geschichte vom Großen Fall war die der großen und kleinen Kriege.“

Doch der Krieg ist lediglich von den Medien konstatiert; ob er wirklich stattfindet, bleibt unklar. Was allerdings durch die Medien erreicht wird, ist eine Art „Kriegszustand“: Nachbarschaftskriege, oft blutig und tödlich, und kleinere bürgerkriegsähnliche Scharmützel entzweien die Individuen und werfen sie auf sich selbst zurück. Jederzeit ist ein Angriff möglich; der durch die Stadt wandernde Schauspieler weicht daher vor jedem Entgegenkommenden aus und entkommt Attacken auf sich mehrfach mit knapper Not. Der Krieg ist zu einem Seinsmodus geworden, niemand entzieht sich ihm, auch der Schauspieler nicht, der in seinen Gedanken mit der Welt, der Kultur und den Menschen abrechnet. Wer nicht gegen andere kämpft, kämpft gegen sich selbst: „Allein heute haben sich bis zur Stunde im Großraum einundzwanzig Menschen vor die Züge und Untergrundbahnen geworfen, oder sind gestoßen worden“, referiert ein Polizist, der den Schauspieler erst für einen Attentäter, dann für einen Suizidanten hält.

„Der große Fall“ ist trotz dieses global katastrophalen Themas und trotzdem Handke damit qua Datierung erstmals das Genre der Science-Fiction und dessen Abart der Dystopie thematisiert, kein Einzel- oder gar Sonderfall im Werk des Österreichers. Seine stets bewegten, zeitweise (wie in „Der Chinese des Schmerzes“ oder „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“) flüchtenden, häufiger jedoch (wie in „In einer dunklen Nacht verließ ich mein stilles Haus“, „Die Lehre von der St. Victoire“, „Mein Jahr in der Niemandsbucht“, „Die Abwesenheit“) wandernden Figuren haben sich immer schon auf „Abwegen“ befunden. Seien sie Mörder (wie die Flüchtenden) oder Suchende, immer war ihre Bewegung eine Abkehr von der Gesellschaft und ihrer Gegenwart, realisiert durch eine Bewegung durch den Raum. Der Schauspieler in „Der große Fall“ macht mit seiner Wanderung daher nur explizit, was den früheren Figuren oft unbenannt innewohnte.

Das posthistorische Wesen der ewigen Gegenwart ist von der postmodernen Literatur nicht selten beobachtet und im Modus des Zitierens überwunden worden: Geschichte und Geschichtsbewusstsein wurde dort wieder möglich, wo man in den Fundus der großen und kleinen Erzählungen griff, um so die Gegenwart mit Erzählbarem zu füllen. Handke, der nicht selten zu den postmodernen Schriftstellern gerechnet wird, entzieht sich dieser Methode jedoch. Seine Mittel, die Sinnleere zu kennzeichnen und gleichzeitig zu füllen, entlehnt er einem spezifischen Realismus, der den Raum – etwa als Wanderweg beschreibend – als eine ständige Gegenwart produziert, die sogleich von der nächsten Beobachtung wieder suspendiert wird. Auf diese Weise entsteht in jedem seiner Romane beziehungsweise in jedem Erzähler ein stream of consciousness, der wie eine Sprecherstimme wirkt oder wie ein innerer Monolog, ein Selbstgespräch.

Passagen aus „Der große Fall“ ähneln daher in ihrer Alltäglichkeit den so ungeheuer lyrisch wirkenden Sentenzen aus dem Drehbuch zu Wim Wenders’  „Himmel über Berlin“: Wenn der Schauspieler etwa über seine gespielten Sterbeszenen sinniert und dabei eine Kaskade von Haupwörtern, Zeitwörtern und schließlich bloßen assoziativen Wortreihen produziert, dann kommt einem unwillkürlich der sterbende Fahrradfahrer aus Wenders’ Film in den Sinn, dessen „Lebenslauf“ sich durch ebensolche Aufzählungen sprachlich aufsummiert.

In „Der große Fall“ ist also das Sterben konkret und imaginär; der Schauspieler, indem er seine Umwelt als tot, sterbend oder lebensgefährlich sieht, ohne selbst daran zu partizipieren, bereitet sich damit in gewisser Weise auch auf seine nächste Filmrolle vor: Ein Amokläufer ist jemand, der sich nicht einfach gegen die Gesellschaft stellt und damit in ihrer Dialektik befangen bliebe, er stellt sich außerhalb dieser Dialektik auf, weil sein Tun – anders etwa als das des Terroristen – gegen jeden Sinn und gegen alle Normalität spricht. Doch so konkret wird Handke nie, um die mögliche Metaphorik, ja, Parabelhaftigkeit seiner Figur und ihrer Bewegung nicht zu gefährden. Selbst die eingangs zitierte Bewertung der Endzeit wird kurz vor Schluss noch einmal in Frage gestellt: „‚Endzeit?‘ Schon die Trampelpfade, noch und noch, vorher auch mitten in der Kapitale, hätten das Lügen gestraft.“ Es ist eben kein Weltuntergang, wie ihn sich die Apokalyptiker in vergangenen Zeiten und auch manchmal heute noch vorstellen. Es gibt keinen „großen Knall“, sondern lediglich ein langsames, entropisches „fade to grey“, in dem selbst die Kriege keine „große Rolle“ mehr spielten (eine Hoffnung, die nach Ernst Jünger endlich zu Grabe getragen werden konnte), sondern nur noch Symptome sind. Handkes „Der große Fall“ ist deshalb als „großer Zerfall“ auch kein Weltuntergangsroman, sondern eher ein Zeituntergangsroman, einer, in dem der „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ (Alexander Kluge) – wie in den vorherigen Erzählungen Handkes – endlich erfolgreich gewesen ist.

Titelbild

Peter Handke: Der Große Fall.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
279 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422182

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