„Bürgergesellschaft“ oder „Bürgerliche Gesellschaft“

Probt das Ländle die Volksdemokratie? Mit einem Nachtrag zum Tod des Filmkritikers Michael Althen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Kennen Sie das? Wenn man sich gedanklich länger mit einem bestimmten Thema auseinandersetzt, entwickelt sich eine eigenartige Tunnelung der Wahrnehmung: Man sieht und hört und liest überall nur Dinge, die mit diesem Thema zusammenhängen. Der Eindruck verfestigt sich, dass „alle Welt“ sich genau damit beschäftigt, davon spricht und sich darum dafür interessiert. Psychologen können einem das sicher gut erklären; selbst eine mögliche Pathologisierung wäre mir egal, es hilft jedenfalls der geschärften Wahrnehmung.

Dreimal habe ich mich an dieser Stelle bereits mit dem Phänomen „Bürger“ und „bürgerlich“ auseinandergesetzt: zuerst im Oktober 2009, als ich den zaghaften Versuch unternahm, diesen ganz offensichtlich allgegenwärtigen Begriff ein wenig zu problematisieren, dann im November 2010, als ich der Frage nachgehen wollte, wer wohl hinter diesen herbeigeschriebenen „Wutbürgern“ steckt und zuletzt bei meinem Erinnern an den Freund und Bürger Heinz Steinert, der kein Bourgeois sein wollte. Es war also kein Wunder, dass mir ganz besonders auffiel, wie oft der frisch gekürte Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann (Die Grünen), das Wort von der „Bürgergesellschaft“ in den Mund nahm, als ihn die Journalisten Peter Frey und Bettina Schausten am 12. Mai 2011 in der famosen ZDF-Sendung, „Was nun…?“ befragten.

Noch am gleichen Abend seiner so fulminant verlaufenen Wahl im Landtag, auf die Frage, was er nun mit der gewonnenen Macht machen wolle, sagte Kretschmann: „Es ist gerade eine meiner großen Aufgaben, mit dem Schritt in die Bürgergesellschaft, die Menschen wieder an die Politik heranzuführen.“ Und noch zweimal kam das Wort von der „Bürgergesellschaft“: einmal als es darum ging, dass nur der „zivilisierte Streit“ ein Schritt in diese „Bürgergesellschaft“ sei, und dass, sobald man Demagogen ermögliche, das „Projekt Bürgergesellschaft“ scheitern werde.

Viele Zeitungs-Porträts dieses Spitzenpolitikers der Grünen und am ausführlichsten die gerade rechtzeitig erschienene Biografie der Journalisten Peter Henkel und Johanna Henkel-Waidhofer machten deutlich, dass dieser Oberschwabe mit ostpreußischem Migrationshintergrund nicht nur engagiert katholisch ist, sondern auch eine radikal kommunistische – wenn auch kurze – Vergangenheit hinter sich hat. Seine „kommunistische Verirrung“ habe pragmatisch geendet, seine Frau Gerlinde sei schwanger geworden, da habe der „Studentenulk“ ein Ende gefunden. Seitdem jedoch sei er allergisch gegen Demokratieverachtung, und sein Beharren auf „Transparenz“ und Bürgerbeteiligung rühre daher.

Man kann nachlesen, was es mit dem „Kommunistischen Bund Westdeutschlands“ (KBW) in den Jahren 1973 bis 1985 auf sich hatte. Auch wenn das für manche Heutige alles „nur“ Geschichte sein mag, sei wenigstens daran erinnert, dass der KBW bei seiner Auflösung sein erhebliches Vermögen in einen eingetragenen Verein mit dem schönen Namen „Assoziation“ einbrachte, der sich vorgenommen hatte, die grün-alternative Bewegung zu unterstützen. Zahlreiche ehemalige Mitglieder des KBW trafen sich wieder im sogenannten „Realo-Flügel“ der Grünen, zu dem sich dann auch das ehemalige Mitglied der linksradikalen Sponti-Bewegung „Revolutionärer Kampf“, Joschka Fischer, gesellte.

Das alles ist nicht völlig unerheblich, um zu verstehen, wieso mich die Beschwörung der „Bürgergesellschaft“ aus dem Mund des neuen grünen Ministerpräsidenten beschäftigt. Was, so lautet meine Frage, bedeutet das? Hat nun die „bürgerliche Gesellschaft“ doch ihre Attraktivität für ihre ehemaligen Widersacher und Verleumder gewonnen? Oder haben diese einen Weg gefunden, eine noch nicht klar definierte Gegenvorstellung von „Bürgergesellschaft“ gegen die „Bürgerliche Gesellschaft“ zu positionieren?

Was ist eine „Bürgergesellschaft“?

Um das zu klären, ist es möglicherweise sinnvoll, eher bei Daniel Dettling anzusetzen als bei Kretschmann. Dettling, Gründer der Berliner „Denkfabrik re:publik – Institut für Zukunftspolitik“ hat zahlreiche Publikationen zu Themen des gesellschaftlichen Wandels, der Zukunft des Sozialstaats, der Bildung und der Parteiendemokratie veröffentlicht. Sein Name wird häufig genannt als einer der maßgeblichen Denker hinter dem „Projekt Bürgergesellschaft“. Seine Gastkommentare erscheinen regelmäßig in überregionalen Tageszeitungen. Er versteht unter „Bürgergesellschaft“ eine demokratische Gesellschaftsform, die durch die aktive Teilnahme der Gesellschaftsmitglieder am öffentlichen Leben gestaltet wird. Es geht Dettling vor allem um das freiwillige Engagement von Menschen, wobei er eher von „Akteuren“ als von „Bürgern“ spricht. Liest man seine Arbeiten zum Thema „Bürgergesellschaft“, so drängt sich der Eindruck auf, dass es sich dabei eher um eine deutsche Bezeichnung für das anglo-amerikanische Konzept der „Civil Society“ handelt, für das sich die deutsche Bezeichnung „Zivilgesellschaft“ schon deswegen nicht so richtig durchgesetzt zu haben scheint, weil sie so nah an „Zivilschutz“, „Zivilrecht“ und „Zivilehe“ steht. Wie schon die Duisburger Sozialwissenschaftlerin Jeanette Schade detailliert analysierte, handelt es sich bei dem deutschen Gebrauch des Wortes „Zivilgesellschaft“ um eine überaus „vielschichtige Debatte“.

Es drängt sich bei mir der Eindruck auf, dass es heute in Deutschland opportun geworden ist, von „Bürgergesellschaft“ zu sprechen. Stellt sich jedoch die Frage: Meint dieser Begriff etwas ganz anderes als „Bürgerliche Gesellschaft“?

Was ist eine „Bürgerliche Gesellschaft“?

Mit „Bürgerlicher Gesellschaft“ wurde eine Gesellschaftsform bezeichnet, die durch das Bürgertum geprägt war, beziehungsweise von diesem geprägt sein sollte. Die 1848er-Revolution in Deutschland kämpfte für eine solche Gesellschaft. In der Rechtsphilosophie des bürgerlichen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel bedeutete die „bürgerliche Gesellschaft“ jenes „System der individuellen Bedürfnisse“, das von denen des Staates abgegrenzt war. Für Karl Marx und die sich an ihm orientierenden Denker und Politiker war „bürgerliche Gesellschaft“ synonym für kapitalistische Gesellschaft. Zwar sei die „bürgerliche Gesellschaft“ in Relation zum Feudalismus ein emanzipatorischer Fortschritt, aber auf dem Weg zum Sozialismus und schließlich Kommunismus ein zu überwindendes historisches Übergangsstadium. Max Weber beklagte sein ganzes politisches Denken und Handeln hindurch, dass es in Deutschland zu keiner wirklichen bürgerlichen Gesellschaft kommen könne, solange ein politisch reifes Bürgertum sich selbst nicht dazu bekennen wolle.

„Bürgergesellschaft“ oder/versus „Bürgerliche Gesellschaft“?

Der Begriff der „Bürgergesellschaft“ scheint, wie angedeutet, sehr viel näher an jenen Vorstellungen orientiert zu sein, die im anglo-amerikanischen Kontext mit „Civil Society“ zusammenhängen und die ursprünglich vom schottischen Philosophen Adam Ferguson Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt wurden. Dort, wo von der grundsätzlichen Allzuständigkeit des Staates ausgegangen wird, wird heute meist der Begriff der „Zivilgesellschaft“ benutzt. Damit soll angedeutet werden, dass mit der Übernahme bestimmter Aufgaben durch nicht-staatliche Akteure, wie beispielsweise Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), der Staat nicht aus seiner Verantwortlichkeit entlassen werden soll. Viele Nichtregierungsorganisationen bevorzugen den Begriff der „Zivilgesellschaft“ und fordern damit einhergehend zumindest eine aktive staatliche Unterstützung für ihre „zivilgesellschaftliche“ Aufgabenerfüllung, wenn nicht gleich eine staatliche Übernahme der von ihnen bisher erfüllten Aufgaben.

Gerade in Bereichen, in denen eine nichtstaatliche Ordnung langfristig etabliert ist oder zumindest als wünschenswert angesehen wird, wird bevorzugt der Begriff der „Bürgergesellschaft“ verwendet. Mit diesem Begriff wird sehr viel prononcierter zum Ausdruck gebracht, dass der Gesellschaft, das heißt den Menschen selbst, grundsätzlich eine Organisationskraft zugetraut wird, so dass der Staat nicht oder jedenfalls nur bei erkennbaren Defiziten der Selbstorganisation eingreifen soll. Regelmäßig wird zur Definition der „Bürgergesellschaft“, wie etwa bei Dettling, auf eine Dreiteilung des Gemeinwesens zurückgegriffen („Trilektik“). Neben den Sphären des Staates und der Wirtschaft wird als dritte Sphäre diejenige der „Zivilgesellschaft“ ausgemacht. Innerhalb dieser dritten Sphäre schließen sich Bürger zusammen, um ihre überindividuellen Interessen gemeinsam wahrzunehmen. Gelegentlich wird diesen drei Sphären eine vierte hinzugefügt, welche Privatheit und Familie umfasst. Unter „Bürgergesellschaft“ wird entweder allein die dritte Sphäre verstanden, welche oft auch als „Dritter Sektor“ bezeichnet wird, oder ein gesamtgesellschaftliches Modell, das zwar maßgeblich von der dritten Sphäre aus gestaltet wird, das aber Staat und die Wirtschaft mit umfasst.

Die „Bürgergesellschaft“ ist somit eine politische Ordnung, in welcher Demokratie ausgehend von der Eigeninitiative der Bürger wahrgenommen wird. Dieser Ansatz soll demokratische Beteiligung gerade auch über die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen hinaus ermöglichen. Anders als bei der „Zivilgesellschaft“ stehen in der „Bürgergesellschaft“ solche Gruppierungen im Vordergrund, die sich nicht auf aktuelle karitative und wohltätige Aufgaben beschränken, sondern darüber hinaus den Anspruch erheben, auf die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt gestalterisch Einfluss zu nehmen. Es wird deutlich, warum „Stuttgart 21“ eine so hervorgehobene Bedeutung für diese Ideen bekommt, und erst Recht, wieso ein Grüner als Ministerpräsident vom politischen Ziel einer „Bürgergesellschaft“ spricht.

Für einen Ministerpräsidenten ist das nicht ohne Delikatesse. In diesem Amt repräsentiert er den Staat und muss für diesen handeln. Welche Rolle der Staat jedoch in einer „Bürgergesellschaft“ einnimmt, ist in den bisherigen Diskussionen keineswegs eindeutig geklärt. Unter den Stichworten „motivierender Staat“, „moderierender Staat“ und „aktivierender Staat“ wird dem Staat einerseits die Rolle zugedacht, bürgergesellschaftliches Engagement zu fördern und gegebenenfalls auch lenkend zu beeinflussen. Andererseits wird die „Bürgergesellschaft“ jedoch auch als Modell angesehen, welches den Nationalstaat als grundlegende politische Ordnung abzulösen und dessen Schwächen zu überwinden in der Lage ist. Insbesondere wird der „Bürgergesellschaft“ zugetraut, konstruktive Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung, einer sich rasant beschleunigenden Wissensgesellschaft und sich verändernder Arbeitswirklichkeiten zu finden und aus sich selbst heraus zukunftstaugliche Lösungen umzusetzen.

Fasst man die bisherigen, zumeist eher theoretisch geführten Erörterungen zum „Projekt Bürgergesellschaft“ zusammen, so wird deutlich, dass es sich dabei nicht so sehr um die Beschreibung bereits bestehender gesellschaftlicher Realität handelt, sondern sehr viel mehr um eine normative Zielperspektive zur Fortentwicklung politisch-gesellschaftlicher Ordnungen. „Bürgergesellschaft“ beschreibt somit keinen Zustand, sondern einen Prozess hin zu einer umfassenderen demokratischen Teilhabe auf der Basis von Eigeninitiative und Selbstorganisation außerhalb von unmittelbaren staatlichen und wirtschaftlichen Einflussnahmen. Das könnte sicherlich zuerst im rein nationalstaatlichen Rahmen geschehen, eine Ausweitung auf die europäische Ebene wäre jedoch, in den Augen der Aktivisten für eine „Bürgergesellschaft“, sicherlich wünschenswert.

Führt die „Bürgergesellschaft“ zur Volksdemokratie?

Das Ideal einer „Bürgergesellschaft“ ist sowohl in theoretischer als auch aus praktischer Sicht kritisiert worden. Theoretisch wird die Tragfähigkeit der „Bürgergesellschaft“ angezweifelt, insbesondere die Frage gestellt, ob eine derartige Gesellschaftsform jene Bindungskraft und die damit verbundene hohe Leistungsfähigkeit des Nationalstaates aufbringen kann. In einer disproportional großen Einflussnahme einzelner Gruppierungen auf die politische Ordnung insgesamt kann man eine Gefährdung demokratischer Grundprinzipien erkennen, wonach die Gleichheit aller Bürger gerade durch das gleiche Wahlrecht innerhalb staatlicher Strukturen sichergestellt werden soll. Diese Gleichheit könnte durch eine „Bürgergesellschaft“ in Frage gestellt werden, wie sich durchaus in den Geschehnissen um „Stuttgart 21“ gezeigt hat, bei denen jenen Projektgegnern, die um den Werterhalt ihrer Immobilien und die Folgen der Beeinträchtigung der Stuttgarter Mineralwasservorkommen bangten, ein ungleich größeres Gewicht in den Diskussionen zuteil wurde, als jenen Stuttgarter Bürgern, denen an der Verbesserung der Verkehrsanbindung gelegen war. Wer nie mit der Bahn fährt, sondern ausschließlich mit seinem gewienerten „Daimler“, hat kein Interesse an einem modernisierten Bahnhof.

Gerade dieses Beispiel machte deutlich, dass dort, wo bürgergesellschaftliches Engagement am dringendsten nötig wäre, solches am wenigsten vorzufinden ist. Während in bevorzugten Wohngebieten regelmäßig auch das gesellschaftliche Leben und die Vereinstätigkeit sehr stark ausgeprägt sind, verbleibt in sozial benachteiligten Wohngebieten sowohl die karitativ-gemeinnützige Aufgabenerfüllung als auch die Einbindung der Bevölkerung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge primär eine staatliche Aufgabe oder findet nur unzureichend statt. Damit stellt sich sowohl für Befürworter als auch für Gegner eines weiten „Bürgergesellschafts“-Konzeptes die Frage, welches die Voraussetzungen einer solchen Ordnung sind und ob beziehungsweise wie diese Voraussetzungen auch außerhalb bereits bestehender bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen umfassend verwirklicht werden können.

Was ist eine „Volksdemokratie“?

Gesellschaftsordnungen zu etablieren, die jenseits „bürgerlicher“ Gesellschaftsstrukturen anzusiedeln sind, war auch das erklärte Anliegen des Konzepts „Volksdemokratie“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Begriff geprägt in der Absicht der Abgrenzung der politischen Systeme unter dem Einfluss der Sowjetunion gegenüber den bürgerlichen Demokratien des Westens. Damit sollten Gesellschaftssysteme benannt werden, die sich abweichend von marxistisch-revolutionären Konzepten und der „Diktatur des Proletariats“ vom Kapitalismus zum Sozialismus entwickelten. Auf diese Weise sollten in den betroffenen Staaten weiterhin Elemente der „bürgerlichen“ Demokratie erhalten bleiben, während sie gleichzeitig trotzdem in das Einflussgebiet der Sowjetunion und ihre Bündnissysteme integriert werden konnten.

Unterschieden wurden dabei „Volksrepubliken“ im engeren Sinne, was zur verfassungsrechtlichen Selbstbezeichnung vieler Staaten führte, wie etwa die Volksrepubliken Benin, Bulgarien, Angola, Ungarn, Mosambik, Polen, China oder Kongo, manchmal auch ohne tatsächliche Zugehörigkeit zum sozialistischen Lager, wie zum Beispiel Bangladesch und Algerien. Als „Volksdemokratie“ bezeichnete sich von 1949 bis 1968 auch die DDR, danach nannte sie sich schlicht „sozialistischer Staat“. Im weiteren Sinne wurden als „Volksrepublik“ Rumänien, Jugoslawien und Albanien bezeichnet, auch wenn diese selbst sich nicht so nannten. Gegenwärtig tragen nur noch China, Nordkorea, Libyen, Algerien, Bangladesch und Laos die amtliche Bezeichnung „Volksrepublik“.

Indem man das marxistische Etikett der „Diktatur des Proletariats“ vermeiden wollte, schon weil es diese Entwicklungsphase nie gegeben hatte, glaubte man mit dem Begriff „Volksdemokratie“ ohne diesen Schritt auszukommen. Beide Begriffe bezeichnen allerdings ein Stadium, das gleichermaßen den Übergang vom bürgerlichen Kapitalismus zum Sozialismus beschreiben sollte, in jedem Fall sollte der Klassenkampf nicht aufgehoben sein. Betrachtet man die bisherige Geschichte der real existierenden „Volksdemokratien“ insgesamt, so kommt man nicht umhin, zu erkennen, dass der Begriff lediglich als Euphemismus für Diktaturen mit zumeist sozialistischer oder kommunistischer Ideologie herhalten musste.

Aus allen diesen Überlegungen heraus empfiehlt es sich, die weiteren Entwicklungen im „Musterländle“ – für die Kretschmann nach seiner Wahl eine „stille Revolution“ angekündigt hat – aufmerksam zu beobachten. Der Koalitionsvertrag zwischen den Grünen mit der SPD zeigt die Richtung an mit Gemeinschaftsschule, Ethikunterricht, Arbeitsmarktprogramm, ökologischem Umbau und Ausbau der direkten Demokratie: Die „bürgerliche Gesellschaft“, wie sie die CDU 58 Jahre in Baden-Württemberg vor Augen hatte, soll umgebaut werden. Daran ist gewiss nichts schlecht. Aus demokratietheoretischen Gründen gilt es jedenfalls, die weiteren Schritte bei der Umsetzung dieser politischen Absichten wachsam zu begleiten, denen die Ergebnisse der Bürgerschaftswahlen im Bundesland Bremen, bei denen die Grünen mit 23 Prozent der Stimmen abschnitten, sicher eher noch zusätzlichen Auftrieb verleihen werden.

Ein trauriger Nachtrag: In meiner Glosse vom März diesen Jahres über meine Wahrnehmungen des zuweilen verwirrenden Lesens der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb ich, dass ich von deren Redakteuren gerne auch jenen bei Gelegenheit persönlich kennenlernen würde, der mit dem Kürzel „malt“ seine regelmäßigen Beiträge signierte. Nun wird es zu solcher Gelegenheit nicht mehr kommen können: Michael Althen ist am 12. Mai 2011 im Alter von nur 48 Jahren in Berlin gestorben. Schon in meiner ersten Glosse hatte ich ihn und seine lobende Rezension des Films von Kevin Macdonald „State of Play“ erwähnt, den ich mir daraufhin selbstverständlich angesehen habe. Seine sachkundigen Kritiken zuerst in der „Süddeutschen Zeitung“ (bis 2001) und dann in „dieser Zeitung“ haben mich über viele Jahre und unzählige Male ins Kino geführt und mich vor so manchem Bild-Müll bewahrt. Seine bildliche Liebeserklärung – zusammen mit Dominik Graf – an unsere gemeinsame Heimatstadt, „München – Geheimnisse einer Stadt“ von 2000 hat mich mit meiner eigenen Zu-Neigung zu diesem hass-geliebten Biotop versöhnt. Als ich die zweiseitige Hommage an ihn von Claudius Seidl las, musste ich (ein wenig) schlucken: Althens behutsame Führung in den dunklen Kinosaal wird auch mir fehlen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.