Joseph Roth neu ediert

Helmuth Nürnberger hat in seiner Joseph-Roth-Ausgabe „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“ ausgewählte Essays, Reportagen und Feuilletons des Schriftstellers publiziert

Von Malte Wehr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorgeschichte

Gesamtausgaben und die Sorgfalt ihrer Redaktion sind stets das Indiz für die Beschäftigung der Forschung und Öffentlichkeit mit einem Autor. Joseph Roths Werk – so gewinnt man den Eindruck – scheint hier immer ein Schattendasein geführt zu haben und die Werkausgaben oder besser gesagt ‚der Prozess Werkausgabe‘ ist ein überschaubares Kapitel. Über erste Gehversuche aus den Jahren 1956 und 1975/76 unter der Federführung Hermann Kestens und mit Gewichtung auf den Romancier Roth fand das journalistische Werk dann in der sechs-bändigen, von Klaus Westermann und Fritz Hackert herausgegebenen Kiepenheuer & Witsch-Ausgabe, seinen Einzug. Seit 1991 ist diese auch die Referenz geblieben, allerdings nicht aufgrund von überdurchschnittlicher Qualität, sondern aus Mangel an Alternativen.

Der Mangel dieser aktuellsten, 20 Jahre alten Ausgabe ist offenkundig: Das Nachwort Westermanns und Hackerts mutet eher wie eine essayistische Auswertung, denn wie ein präziser Kommentar an – und es fehlt in ihr schlicht und ergreifend der Niederschlag zweier Dekaden Roth-Forschung.

Doch so groß der Wunsch nach einer neuen Werkausgabe auch ist, so sehr hat man sich als Roth-Leser angewöhnt, den kleinsten Regungen des Buchmarkts sein Augenmerk zu schenken. So gab es kürzlich eines dieser raren Erlebnisse: Helmuth Nürnberger nahm sich einer Auswahl von Essays, Reportagen und Feuilletons an und schon die erste Seite der schönen Wallstein-Ausgabe im roten Leinengewand und stilechtem Schutzumschlag lässt Hoffnung aufkommen: „Herausgegeben und kommentiert von Helmuth Nürnberger“. Vorhang auf zu einem neuen editorischen Roth-Kapitel?

Vorsichtige Annäherung

Das ‚kleine‘, der Textauswahl vorangestellte Inhaltsverzeichnis beleuchtet sogleich die Zusammenstellung und ihre Sortierung: Den „Feuilletons, Glossen, Reportagen (1916-1925)“ folgen zwei der wichtigsten und meistrezipierten Roth-Werke, „Die weißen Städte (1925)“ und „Juden auf Wanderschaft (1927)“, gefolgt von „Feuilletons, Reportagen, Rezensionen (1925-1932)“ und abgeschlossen durch „Texte aus den Jahren des Exils (1933-1939)“. Unter dem Reiter Anhang stechen neben dem üblichen Einmaleins aus Editorischer Notiz, Abkürzungen und Siglen, Nachwort, Dank und dem Ausführlichen Inhaltsverzeichnis nun sogleich die knapp 100 Seiten starken Anmerkungen hervor. Losgelöst vom Nachwort scheinen sie nicht den gleichen Weg wie die Auswertung Westermanns und Hackerts zu gehen und nach einem Blick über das Erscheinungsbild der Texte blättert man auch sogleich zum Anhang.

Der Blick dahinter

Auf genau einer Seite gibt uns Nürnberger das an die Hand, was für die Lesart der vorausgehenden Auswahl an Roth-Texten elementar ist: Welchen Handschriften und Typoskripten folgen die hier abgedruckten Texte und wie wurden Abweichungen kenntlich gemacht? Dann, nach einem schnellen Überblättern der exakt vier Seiten Abkürzungen und Siglen, betritt man das editorische Neuland zu jenen Ausschnitten aus dem journalistischen Werk Roths: die Anmerkungen.

Nürnberger führt nun den jeweiligen Bereich wie zum Beispiel „Feuilletons, Glossen, Reportagen (1915-1925)“ ein, indem er biografische Daten Roths als Begründung seiner zeitlichen Rahmung und Textauswahl anführt – abgerundet mit typografisch sich angenehm absetzenden Literaturangaben, die jene Anmerkungen aus dem einleitenden Text in Roths eigenen Schriften beziehungsweise ausgewählter Fachliteratur (zum Beispiel Grundlagenforschung à la Ingeborg Sültemeyer) versichern.

Nun legt sich der Fokus auf die einzelnen Texte. Nachdem die Quelle des Erstdrucks angegeben wird, folgt der Kommentar von Nürnberger. Dieser kann sich je nach Text über einige Seiten erstrecken, oder aber auch wenige Zeilen ausmachen. Wenn in Roths Schriften Namen auftauchen, die dem heutigen Leser nicht bekannt oder zumindest in der von Roth verwendeten Abkürzung nicht geläufig sind, werden diese optisch nochmals von den restlichen Ausführungen abgesetzt und ihre Bedeutung im Kommentar verankert – abgerundet wieder durch die Literaturangaben am Ende.

Mitunter ist der Kommentar derart umfangreich und bis auf einzelne Worte strukturiert, dass man schon den Eindruck eines Stellenkommentars bekommt. Nürnberger verlässt hier jedoch nie das Gleichgewicht, den Fokus nur dort vom Textgesamten auf einzelne Namen und Begriffe zu lenken, wo es wirklich sinnvoll ist und sich dann wieder ‚Stellen‘ zu sparen, wo sie lediglich reine Materialmasse produzieren würden. So findet man bei einem Text wie „Im Land des ewigen Sommers“ neben der Angabe des Erstdrucks nur den Kommentar: „Der Artikel wird hier erstmals seit seiner Veröffentlichung im ,Illustrierten Blatt‘ im Jahre 1925 wieder gedruckt.“ Aber man erfährt damit natürlich auch, dass dieser Text bei den protagonistischen Bemühungen Westermanns und Hackerts durch die Maschen einer Werkausgabe fiel.

Bei dem Text „Juden auf Wanderschaft“ sind es acht kleinbedruckte Seiten Kommentar, die ausführlich sowohl in die Ambivalenz des Textes einführen, als auch historische Hintergründe über Roths Geburtsort Brody an die Hand geben. Die oben bereits beschriebene Verdichtung zum akribischen Stellenkommentar reißt dann unter anderem den Zionismusdiskurs der Roth’schen Zeit an – Arthur Schnitzler Lesehinweis inklusive. Auch erfährt man zum Beispiel, dass der Artikel Roths über „Das XIII. Berliner Sechstagerennen“ zum ersten Mal am 20. Januar 1925 in der „Frankfurter Zeitung“ erschien, Roth 1922 allerdings schon einmal über dieses sportliche Ereignis berichtete und dieser Artikel „wenige Tage nach dem Erscheinen im ,Berliner Börsen-Courier‘ im ,Prager Tagblatt‘ und dann noch dreimal 1923 in anderen Zeitungen nachgedruckt“ wurde.

Nürnberger gelingt es an solchen Stellen, dem Leser trotz der immer vorhandenen Reduziertheit einer Textauswahl eine tour d’ horizon durch Roths Werk zu bieten; der Kommentar erläutert den Kontext der ausgewählten Texte und erlaubt selbst Roth-unerfahrenen Leser einen guten Einblick in die Zerrüttetheit dieses scharfsinnigen Journalisten. Dank der nüchternen Natur des Kommentars werden Zeitkritik und Identitätssuche Roths plastisch, die weder zu einer biografischen Emphase verklärt werden, noch die Spekulation als integralen Bestandteil einer Roth-Innenansicht zulassen.

Nachwort und Nachklang

Nürnbergers Nachwort ist zwar nicht zur Gänze obsolet, allerdings hätte er diesen Platz auch noch einem weiteren Roth-Text einräumen können; wie fast jeder Wissenschaftler, der über Roth schreibt, scheint dessen ambivalenter und unruhiger Charakter auch Nürnberger zu einem kleinen Porträt bewegt zu haben. Vielleicht muss man an dieser Stelle sogar bemerken, dass die Kontrastfunktion von Kommentar und Nachwort zumindest für den Roth-Kenner die sinnvolle Funktion hat, die Wichtigkeit des Ersteren zu unterstreichen.

Zur Textauswahl sagt Nürnberger leider nichts; wo man sich mit Werken wie „Die weißen Städte“ und „Juden auf Wanderschaft“ aufgrund deren wichtiger Rolle in Roths Identitäts- und Selbstsuche über diesen Umstand hinwegtrösten kann und auch bei den biografisch rahmenden Texten wie zum Beispiel dem letzten Artikel Roths „Die Eiche Goethes in Buchenwald“ nicht viel Erklärung verlangt, wäre für die restliche Auswahl eine Begründung doch angebracht gewesen – hier fallen die jeweiligen Kommentar-Einleitungen in die einzelnen Buchabschnitte zu knapp aus, als dass sie einen jeden von Nürnberger ausgewählten Text erklärend im vorliegenden Band verankern könnten. Auch das Nachwort leistet diese (ein-) ordnende Funktion nicht in genügendem Maße.

Die Ausgabe Nürnbergers hat nun zwei wichtige Funktionen: Zum einen führt sie endlich das in die Forschungslandschaft ein, wonach sich Germanistikseminare schon lange gesehnt haben – nämlich den Autor Roth und sein Werk mit dem Kommentar und den Quellenangaben eine präzise und schnell abrufbare ,Tiefenschärfe‘ zu geben und zum anderen die optisch wie inhaltlich gelungene Konzeption eines Bandes, welcher jenen, lediglich mit Roth als Romancier vertrauten Leserschaft eine wunderbare Einsicht in den rhetorisch und polemisch begnadeten Federstrich des ‚ständig Reisenden‘ gibt.

Bleibt noch die Hoffnung, dass Nürnberger einen Samen gesät hat, welcher in der Germanistik auf fruchtbaren Boden fällt und die doch überschaubaren Kräfte der Rothforschung zusammenrafft – wenn der Kiepenheuer & Witsch Verlag kein Interesse an einer neuen Werkausgabe haben sollte, weiß man ja nun, dass Wallstein das Potential dazu hat.

Titelbild

Joseph Roth: "Ich zeichne das Gesicht der Zeit". Essays, Reportagen, Feuilletons.
Herausgegeben von Helmuth Nürnberger.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
500 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305854

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