Literatur (nicht nur) aus Ungarn

Gudrun Brzoskas Lexikon „Schriftstellerinnen mit ungarischen Wurzeln“ stellt bekannte und weniger bekannte Autorinnen und Bücher aus dem 20. und 21. Jahrhundert vor

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungarn und Deutsche blicken auf eine jahrhundertelange Geschichte literarischer und kultureller Kontakte zurück. Und doch scheint das Wissen um den Anderen im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt wegen der Trennung durch den Eisernen Vorhang, merklich geschrumpft. Daran hat auch die vermehrte Übersetzungstätigkeit anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1999, als Ungarn Gastland war, wenig geändert. Man las vielleicht schon einmal einen Roman von einem der drei Großen der bürgerlichen ungarischen Literatur, Antal Szerb, Sándor Márai oder Ernö Szép, verfolgte die Diskussionen um Péter Esterházys „Harmonia caelestis“ und die vom kommunistischen Regime korrumpierte Vergangenheit des im Roman gewürdigten Vaters, kennt den Nobelpreisträger Imre Kertész. Weiß man aber, ob es vergleichbar populäre und kongeniale Dichterinnen und Schriftstellerinnen gibt? Wohl nicht.

Hier will das Lexikon „Schriftstellerinnen mit ungarischen Wurzeln“ Abhilfe schaffen. Erklärtes Ziel der Verfasserin Gudrun Brzoska ist es, „mit dem Mut zur unvermeidbaren Lücke Porträts [zu] versammeln“, um den in Deutschland wenig bekannten ungarischen Schriftstellerinnen ein begeistertes Lesepublikum zu finden. Ein begrüßenswertes, aber anspruchsvolles Unternehmen. Hervorgegangen ist die Publikation aus der Sammelleidenschaft der gelernten Buchhändlerin. Ihre inzwischen über 900 Bücher zählende Privatbibliothek ist seit Januar 2009 als „Ehinger Bibliothek. Ungarische Literatur in deutscher Sprache – Ehingeni Könyvtár. Magyar irodalom német nyelven“ e. V. auch der Öffentlichkeit zugänglich.

Von den im Lexikon porträtierten 53 Autorinnen stammen die meisten aus Ungarn (bis auf Margit Kaffka und Anna Lesznai sind alle im 20. Jahrhundert geboren), einige wenige aus Rumänien (Zsófia Balla, Ágnes Rózsa, Zsuzsanna Ferencz und andere) und Serbien (Ildikó Lovas), wo sie der ungarischen Minderheit angehören. Viele von ihnen sind jüdischer Herkunft, manche haben nicht auf Ungarisch, sondern auf Hebräisch (Rivka Keren) geschrieben. Einzelne Werke liegen in deutscher Übersetzung vor, was ein wichtiges Kriterium der Auswahl war und auch das Fehlen von ungarischsprachigen Autorinnen aus der Slowakei erklärt, deren Werke noch der Übersetzung harren. Das Lexikon enthält außerdem Autorenartikel zu einigen ungarndeutschen Schriftstellerinnen (zum Beispiel Erika Áts), die zumeist zweisprachig veröffentlichten.

Bei einer derartigen Vielfalt kultureller Einflüsse stellt sich auch für die ungarische (National-)Literatur eine der dringendsten Fragen des globalen Zeitalters, nämlich die nach der Definition dessen, was „ungarisch“ – und das nicht erst im 21. Jahrhundert – eigentlich bedeutet. Durch die Aufnahme von in den deutschsprachigen Ländern lebenden und sich des Deutschen als Literatursprache bedienenden Schriftstellerinnen Johanna Adorján, Zsuzsa Bánk, Léda Forgó, Zsuzsanna Gahse, Terézia Mora, Susanne Orosz, Susann Pásztor und Krisztina Virágh ist das Unzeitgemäße des Konzepts der Nationalliteraturen besonders augenfällig. Etwas simplifizierend klingt folglich, auch wenn Brzoska das Selbstverständnis der Autorinnen im Vorwort problematisiert, die Behauptung im Klappentext, man hätte seit 1985 acht „ungarische Autoren“ mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, der bekanntlich Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit fremder Mutter- und deutscher Literatursprache würdigt. Im Falle etwa Ágota Kristófs ist die Schriftsprache das Französische, die in den USA lebende Kati Marton wiederum schreibt auf Englisch.

Welche Bedeutung die Autorinnen der eigenen Herkunft beimessen, unterscheidet sich im einzelnen stark voneinander, und spielt bei der einen oder anderen – wie Ildikó von Kürthy, mit der im Lexikon auch die Populärliteratur vertreten ist –, eine eher untergeordnete Rolle. Die Komplexität der Situation lässt zwar die sehr heterogenen Lebenswege erahnen, doch eine stärkere Fokussierung von schriftstellerischem Selbstverständnis der Autorinnen und ihrer zentralen Fragestellungen, hätte dieses anspruchsvolle Projekt wesentlich bereichert.

Der Aufbau der einzelnen Einträge, deren Umfang sich zwischen zwei und 26 Druckseiten bewegt, ist mehr oder minder einheitlich und entspricht der gängigen Praxis: Auf die kurze biografische Notiz folgen Bibliografie und Ehrungen (falls vorhanden) sowie Inhaltsangaben der Werke. Um eine Einbettung in die ungarische Literatur- und Kulturgeschichte beziehungsweise in die aktuellen gesellschaftlichen Kontexte bemüht man sich selbstredend vor allem bei etablierten Autorinnen und dort, wo deutschsprachige Quellen vorhanden sind. Das Lexikon verzichtet auf den üblichen Anhang: ohne Verweise gibt es auch kein Personenregister.

Das Lexikon „Schriftstellerinnen mit ungarischen Wurzeln“ spricht eine Einladung an den deutschsprachigen Leser aus, auf „fremden“ Literaturweiden (weniger im Sinne der klassischen Grenzziehungen) neue Entdeckungen zu machen. Es ist in dieser Hinsicht vor allem sein Informationswert zu würdigen. Auch wenn sich über die in Einzelfällen getroffene Akzentuierung streiten lässt, handelt es sich in der Regel um gelungene Darstellungen. Eine sinnvolle Beigabe wäre vielleicht eine Liste von Nachschlagewerken zu ungarischer Literatur- und Kulturgeschichte gewesen.

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Gudrun Brzoska: Schriftstellerinnen mit ungarischen Wurzeln. Ein Lexikon.
Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2010.
382 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783933337788

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