Eine „Weltsprache der Poesie“?

Transnationale Austauschprozesse in der Lyrik seit 1960

Von Anna Fenner, Claudia Hillebrandt und Stefanie PreußRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Fenner, Claudia Hillebrandt und Stefanie Preuß

Mit seinem mittlerweile selbst historisch gewordenen „Museum der modernen Poesie“ wollte Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1960 zeigen, wie sich eine „allgemeine Weltsprache der Poesie“ über Länder- und Sprachgrenzen hinweg entwickeln kann. Das „Museum“ versammelt deshalb Autoren, die zu dieser „Weltsprache“ entscheidend beigetragen haben, indem sie, wie Enzensberger in seinem Vorwort schreibt, unter sich ein Einverständnis erreichten, das „wie nie zuvor die nationalen Grenzen der Dichtung aufgehoben und dem Begriff der Weltliteratur zu einer Leuchtkraft verholfen hat, an die in anderen Zeiten nicht zu denken war.“ Wie genau dieses Einverständnis aussah und anhand welcher Kriterien es ermittelt werden könne, darüber hat er sich jedoch nur unbestimmt geäußert.

Dennoch kann das „Museum der modernen Poesie“, mit dem Enzensberger den Weltsprachenbegriff prägte, als eine der bedeutendsten und nachhaltig einflussreichsten Anthologien im deutschen Sprachraum bezeichnet werden. Dabei verstand Enzensberger seine Sammlung selbst gar nicht als Anthologie, sondern als Chrestomathie, als Schreibanregung für seine deutschen Kollegen. Mit dieser thematisch geordneten Zusammenstellung von Texten der klassischen lyrischen Moderne knüpfte er an die internationale Lyrikproduktion der Zeit zwischen 1910 und 1945 an: Mittels einer didaktischen Textsammlung wollte er diese für die deutschsprachige Lyrikproduktion verwendbar machen, und zwar in einer Zeit, als „die deutsche Kultur noch einen ziemlich abgebrannten Eindruck“ machte.

Kritik am Weltsprachenbegriff hat Enzensberger in späteren Ausgaben des „Museums“ gleich selbst formuliert und diese mit einer Bemerkung zur gegenwärtigen Situation der internationalen Lyrik verbunden: „So triftig die Prognose, die Avantgarde würde an ihren eigenen Aporien zuschanden werden, so vollmundig und irreführend war die Rede von der, Weltsprache der modernen Poesie‘, mit der das Museum von 1960 angetreten ist. […] Wie die Poesie, die es ausstellt, war auch ihr Museum von einem ahnungslosen Eurozentrismus geprägt, der einzig und allein die Standards der Metropolen gelten ließ. Deshalb fehlen in diesem Buch die Chinesen, die Araber, die Inder, die Japaner, von Dutzenden anderer Zonen der Poesie zu schweigen. Die Idee der Weltliteratur hat dadurch eine Verkürzung erlitten, die heute, in einem postkolonialen Zeitalter, ziemlich merkwürdig anmutet. Wenn es je so etwas wie eine Weltsprache der modernen Poesie gegeben hat, so ist sie unterdessen in zahllose Dialekte zerfallen.“

Dieser Diagnose haben sich nachfolgende Anthologisten wie Harald Hartung und Joachim Sartorius angeschlossen. Sie haben sich daher bemüht, internationale lyrische Wechselwirkungsprozesse umfassender oder zumindest mit anderen Schwerpunktsetzungen abzubilden. In seiner 1991 erschienenen Anthologie „Luftfracht“ hält Hartung zwar noch terminologisch an der Idee einer spezifisch modernen „Weltsprache der Poesie“ fest, bemerkt aber auch: „Der Prozeß der modernen Poesie ist in den inzwischen abgelaufenen drei Jahrzehnten weitergegangen; die Impulse sind nicht erlahmt, sondern haben sich erweitert, wohl auch verstreut: neue Autoren, neue Literaturen sind in den poetischen Diskurs eingetreten; und natürlich fragt es sich, wie er zu resümieren und bilanzieren wäre.“

Sartorius schließlich erklärt Enzensbergers „Weltsprache“ 1996 im „Atlas der neuen Poesie“ zur bloßen Fiktion und lässt statt thematisch (Enzensberger) oder historisch-poetologisch bedingten Gemeinsamkeiten (Hartung) nur noch geografische Gesichtspunkte gelten, anhand derer er die internationale Lyrikproduktion kartografiert: „Aus der Fiktion der ,Weltsprache moderner Poesie‘ haben sich unterdessen viele vereinzelte Fiktionen geschält. Es zählen nicht so sehr ästhetische Doktrinen, ,Strömungen‘, Schulen, sondern die subjektiven Erfahrungen des einzelnen, jeweils eingebettet in besondere historische Erfahrungen, die sich nicht mehr auf einen Nenner bringen lassen.“

Sowohl Sartorius als auch Hartung teilen also Enzensbergers Feststellung von der Diversifizierung der internationalen Lyrik seit 1945, bemühen sich aber weiterhin um eine nicht bloß idiosynkratische Zusammenstellung von Texten. Anthologisierende Praxis und die damit einhergehende Annahme eines sich ausdifferenzierenden Feldes geraten in Spannung zueinander.

Vor diesem Hintergrund wäre auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu fragen, ob und nach welchen Kriterien sich für die vergangenen fünf Jahrzehnte Austauschprozesse mit und durch Gedichte über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg beschreiben lassen.

Die Erstveröffentlichung von Enzensbergers „Museum der modernen Poesie“ vor 50 Jahren bildete somit den Anlass, mit der 1. Göttinger komparatistischen Graduiertentagung „Eine ‚Weltsprache der Poesie‘?“ im Herbst 2010 danach zu fragen, wie die Entwicklung der internationalen Lyrik in den vergangenen 60 Jahren zu resümieren wäre. Die im Themenschwerpunkt versammelten Beiträge basieren auf den Vorträgen der Tagung, die sich dieser Herausforderung aus verschiedenen Perspektiven stellten.

Einleitend geben wir anhand der unterschiedlichen methodologischen Herangehensweisen an den Weltsprachenbegriff, die sich grob auf vier Ebenen verorten lassen, einen knappen Überblick über die einzelnen Beiträge der Konferenz. Im Einzelnen sind dies die Ebene der:

Textfaktoren, wie gemeinsame Themen und/oder Motive, Gedichtformen, Metaphorik, intertextuelle Verweise, rhetorische Figuren etc., die textzentrierte Methoden erfordern;

Produktionsbedingungen, die mit autorphilologischen und/oder kultursoziologischen Methoden analysiert werden können;

Distributionswege, die mit medientheoretischen, mediensoziologischen oder übersetzungswissenschaftlichen Methoden zu untersuchen wären;

Rezeption, die ein literaturpsychologisches, empirisches, rezeptionsästhetisches oder übersetzungswissenschaftliches Vorgehen erforderlich macht.

Alle Beiträge der in dieser Ausgabe von literaturkritik.de in Auszügen dokumentierten Graduiertentagung haben sich dem Thema der „Weltsprache“ in Hinblick auf eine oder mehrere dieser Ebenen genähert:

a. Der Frage nach gemeinsamen Textmerkmalen sind die Vorträge von Nils Bernstein und Florian Strob aus intertextueller und poetologischer Perspektive nachgegangen.

Nils Bernstein konzipierte Nicanor Parras Konzept der Antipoesie, das sich auch in seinem Gedichtband „Poemas y antipoemas“ ausdrücke, als eines des Konventionsbruchs, der Schockwirkung und der Durchbrechung von Erwartungshaltungen. Relevant war für ihn die Frage, ob nicht der stete Verstoß gegen Traditionen und lyrische Konventionen und somit gerade die Einbindung antipoetischer Konzepte Teil einer neuen „Weltsprache der Poesie“ sein könnte.

Florian Strob wies auf die zentrale Rolle des engagierten Schweigens im Dichtungsverständnis von Nelly Sachs, Ilse Aichinger, Simone Weil, Emily Dickinson und Sujata Bhatt hin, das als eminent körperliches aufzufassen sei. Er schlug vor, Enzensbergers „Museum“ diese Poetik des Schweigens als ein weiteres Kapitel hinzuzufügen, um mit der Konstruktion einer Linie des Schweigens, einer bestimmten Art des Sprechens oder eben Nicht-Sprechens, auch die zeitliche Einschränkung der Anthologie auf die Moderne aus einer Genderperspektive zu überschreiten.

b. Mit der Frage, ob und inwiefern sich die durch Globalisierung beziehungsweise internationale Austauschprozesse beeinflussten Produktionsbedingungen von Lyrik in einer spezifischen Textästhetik niederschlagen, haben sich Markus Kessel und Shuangzhi Li auseinandergesetzt.

Markus Kessel widersprach in seinem Vortrag am Beispiel von Wole Soyinka der These, dass Globalisierungsprozesse stets zu einer Homogenisierung literarischer Themen und Formen führen. Dafür bezog er sich auch auf neuere Überlegungen zum Konzept der Weltliteratur aus postkolonialer Perspektive. Er fragte, wie sich (literarische) Globalisierungsprozesse in lyrischen Texten ausdrücken, die in einer solchen transnationalen Sphäre entstehen. Diese umfassten laut Kessel komplexe Formen von Welthaltigkeit: Statt einer Vereinheitlichung ergäben sich neue Relationen von Lokalität und Globalität.

Shuangzhi Li rekonstruierte, wie sich in der chinesischen Lyrik nach der Kulturrevolution neue Formen der Bezugnahme auf den europäischen Kanon herausbildeten. Am Beispiel der Dichter Bei Dao, Hai Zi und Zhang Zao verdeutlichte er deren produktive Rezeption beispielsweise von Friedrich Hölderlin, Arthur Rimbaud und Paul Celan. Die Imagination eines weltumspannenden Humanismus diene dabei der Konstruktion einer poetischen Welt über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg.

c. Stefanie Orphals Vortrag wandte sich einer neuen Form der internationalen Distribution von Lyrik im audiovisuellen Medium zu: Am Beispiel des Poetryfilms illustrierte sie die durch technische Neuerungen ermöglichte internationale Kommunikation zwischen Lyrikern, die möglicherweise am ehesten dem Goethe’schen Verständnis von Weltliteratur nahe kommt.

d. Übersetzungswissenschaftliche Problemstellungen bewegen sich im Spannungsfeld aller vier genannten Dimensionen, indem sie sich mit dem Zusammenspiel von Textfaktoren, Produktions- und Distributionsbedingungen aus einer in erster Linie rezeptionsorientierten Perspektive befassen.

Wendy Anne Kopisch argumentierte in ihrem Vortrag dafür, dass, entgegen der Sapir-Whorf-Hypothese linguistischer Determiniertheit, die die Übersetzung von Lyrik als nahezu unmöglich erscheinen lasse, eine poetische Weltsprache über Sprachgrenzen hinweg möglich sei, wenn im Übersetzungsprozess der Fokus auf die primäre Wahrnehmung beziehungsweise die Elemente der Perzeption und die Musikalität der Lyrik gelegt wird.

Chiara Conterno betonte demgegenüber die Prozesshaftigkeit des Übersetzens. Sie zeigte auf, wie die italienischen Übersetzungen der Lyrik von Nelly Sachs durch Ida Porena im Laufe der Zeit freier werden, die in den Originaltexten ausgedrückten Erfahrungen von Gewalt und Angst dabei, gemessen an der Vorlage, aber gleichzeitig genauer wiedergeben.

Mit Blick auf Erich Arendt und Enzensberger zeichnete Claus Telge die unterschiedlichen poetologischen Positionierungen beider Autoren anhand ihrer Neruda-Übersetzungen nach: Arendts und Enzensbergers grundsätzlich differente Haltung zum dichterischen Engagement konstituiere, wie Telge hervorhob, in Auseinandersetzung mit dem Werk des chilenischen Dichters eine je unterschiedliche translatorische Praxis.

e. Aus allgemein rezeptionsorientierter Sicht untersuchte Simone Winko in ihrem Keynotevortrag die verschiedenen Formen der Figurenkonstitution in Gedichten. Sie stellte heraus, dass die Figurenkonstitution im Gedicht entgegen etablierter lyriktheoretischer Positionen stark schemagebunden abläuft: Gerade die gattungsspezifische Tendenz zur Verdichtung erfordere eine stärker an kulturgebundenes Schemawissen der Rezipienten anschließende Form der Figurendarstellung. Dies stelle, wie Winko ausführte, gerade für Verstehensprozesse in einer transkulturellen Sphäre eine enorme Herausforderung dar.

Angesichts dieser heterogenen methodischen Herangehensweisen stellt sich damit abschließend die Frage, die Dieter Lamping in seinem Keynotevortrag aufwarf: nämlich ob es prinzipiell sinnvoll ist, internationale lyrische Austauschprozesse mit dem Begriff der „Weltsprache“ zu belegen. Sein Einführungsvortrag plädierte daher auch dafür, Enzensbergers Vorstellung einer „poetischen Weltsprache“ im Sinne von Goethes Idee der Weltliteratur zu reformulieren, und zwar als Netzwerk internationaler Kommunikation zwischen Lyrikern. Wie die einzelnen Tagungsbeiträge deutlich machten, lohnt sich ein genauerer Blick auf diese internationale Kommunikation mit lyrischen Texten auch für die Zeit nach Enzensbergers „Museum der modernen Poesie“.

Ein Großteil der Tagungsbeiträge wird im vorliegenden Themenschwerpunkt veröffentlicht. Neben erhellenden Einzeldarstellungen weltliterarischer Austauschprozesse können sie auch als erste Ansätze zu deren systematisch genauerer Beschreibung gelesen werden. Solche weitreichenden internationalen Transferprozesse lassen sich, wie aus den Beiträgen deutlich wird, letztlich umfassend nur aus komparatistischer Sicht darstellen.

Weiterführende Literaturhinweise:

Die Tagungsbeiträge von Simone Winko und Dieter Lamping basierten auf:

Lamping, Dieter: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010.

Winko, Simone: „On the Constitution of Characters in Poetry“. In: Jens Eder, Fotis Jannidis u. Ralf Schneider (Hg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media. Berlin, New York 2010, S. 208–231.

Anmerkung der Redaktion:

Einen Tagungsbericht finden Sie auf der Website bei Litlog.