Widerstand und Tradition

Das Schweigen der Dichterinnen und wie wir es lesen können

Von Florian StrobRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Strob

„Ich habe nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen. Fern und tot sind meine Geliebten, und ich vernehme durch keine Stimme von ihnen nichts mehr.“ Mit diesen Sätzen beginnt Friedrich Hölderlins Hyperion seinen zweiten Brief an Bellarmin. Man könnte Hyperion hier wie folgt lesen: Er kommt nicht aus dem Nichts. Ihm geht Vieles voraus, das ihn in seiner jetzigen Gestalt und seinem Wesen bedingt. Doch er erklärt dieses Viele, das ihm vorausging, ausdrücklich als für ihn verloren und nicht sein eigen.

Der Tradition wird hier, so könnte man meinen, durch ein Schweigen widerstanden. Schon immer bedingen sich Sagen und Schweigen gegenseitig. Und mindestens in der sogenannten Hölderlin-Linie der deutschen Literatur – also etwa bei Friedrich Hölderlin, Rainer Maria Rilke und Paul Celan – wird das Schweigen zur bewusst anwesenden anderen Seite der Poesie. Die allgemein sich verbreitende Sprachskepsis am Ende des 19. Jahrhunderts, in deren Folge etwa Ludwig Wittgenstein zu nennen wäre, die Neigung und die von manchem Sprachphilosophen oder Dichter erkannte Notwendigkeit zum Verstummen – all das will ich nur kurz ins Gedächtnis rufen.

Im Folgenden aber werde ich, wenn man so will, eine weibliche und komparatistische Hölderlin-Linie nachzeichnen. Der philosophische Kronzeuge und Stichwortgeber wird dabei nicht Wittgenstein, sondern Simone Weil sein. Zu entdecken in der Linie von Emily Dickinson, Simone Weil, Nelly Sachs, Ilse Aichinger und Sujata Bhatt ist ein engagiertes Schweigen, das dem literarischen Kanon nicht inhärent ist, sich ihm vielmehr zu widersetzen versucht. Wer sich aber schweigend dem Kanon zu widersetzen versucht, dem ist der eigentliche Erfolg literarischer Arbeit, das Aufnehmen in den Kanon, strenggenommen ein Scheitern. Wer etwas sagt, muss damit rechnen, dass das Gesagte vielleicht tradiert wird. Das Tradierte ist möglicherweise Teil des Kanons. Wer aber schweigt? Ziel des engagierten Schweigens ist die Nichtaufnahme in den Kanon, nicht aber unbedingt ein Vergessen des Schweigens. Im Gegenteil ist das sich widersetzende Schweigen umso mehr geeignet, in Erinnerung zu bleiben.

Der Kanon, der etymologisch als eine Regel oder eine Vorschrift, aber auch ein verbindliches Verzeichnis definiert werden kann, findet in der musikalischen Bedeutung seine denkwürdigste Definition: eine hierarchisch aufgebaute Führung sich streng imitierender Stimmen. Der Kanon der Literatur steht so in einem anderen, grelleren Licht. Die Kanones waren gerade in den Zeiten der klassischen Moderne, also in den ideologisch aufgeladenen, konfliktreichen und kriegerischen ersten fünfzig Jahren des 20. Jahrhunderts, immer Ausdruck politischer Macht. Mit dem jeweiligen Kanon ging eine teilweise radikale Zensur einher.

Zwar ist der literarische Kanon spätestens mit der Idee einer Weltliteratur und somit eines Kanons der Weltliteratur tendenziell offen und umstritten, und wie gesagt historisch fraglich geworden. Dennoch erfreuen sich Kanones seit Jahren und Jahrzehnten ungebrochener, wenn nicht gesteigerter Popularität. Auch Hans Magnus Enzensbergers „Museum der modernen Poesie“ ist in seinem Wesen und besonders in seiner Wirkung nichts anderes als ein Kanon, trotz abweichender Behauptungen und Absichten in Enzensbergers Vorwort zum „Museum“.

Als einen „Arbeitsplatz“ und „Ort unaufhörlicher Verwandlung“ will Enzensberger sein „Museum“ verstanden wissen. Er habe eine subjektive und keineswegs vollständige, dafür spielerische Textauswahl getroffen, die dem Leser die poetische Weltsprache der Moderne als eine lingua franca zwischen 1910 und 1945 vor Augen führen solle. Keine Anthologie sei sein Ziel gewesen, sondern eine Chresthomathie, eine didaktischen Ansprüchen folgende Textsammlung. Die Weltsprache der Poesie ist somit nach Enzensberger erlernbar. In seinem „Museum“ hat er die moderne Poesie, entgegen eigener Bekundungen im Vorwort, als erlernbaren Kanon „unschädlich“ gemacht. Denn was erlernbar ist, so lässt sich schlussfolgern, hat die ursprüngliche, dunkle Widerstandskraft aller Poesie verloren und ist zu einem Teil des Bestehenden geworden.

Zu Beginn seines Vorwortes ist Enzensbergers „Museum“ ein Ort der Kreativität für die Leser. Am Ende desselben Vorwortes steht ein kreatives Spiel des Kanonschreibers mit den Texten. Gegen diese Zuschreibung der Kreativität an die Leser oder den Kanonschreiber wendet sich Joachim Sartorius vierzig Jahre nach dem ersten Erscheinen von Enzensbergers „Museum der modernen Poesie“. Obwohl nicht explizit geäußert, liegt Sartorius offenbar viel am Widerständigsein und -bleiben der Poesie. Dieser Widerstand ist schon konzeptionell durch Enzensbergers Annahme einer „Weltsprache der modernen Poesie“ gefährdet.

Nur wenn man die widersprüchlichen Bemerkungen in Enzensbergers Vorwort ignoriert und das Vorwort insgesamt in seiner Tendenz zum Kanon liest, kann man eine so rigorose Kritik an Enzensbergers „Museum“ vornehmen wie Sartorius. Enzensberger spricht selbst von Reichtum und Verschiedenheit der modernen Poesie. Für Sartorius ist jedoch die Annahme einer Poesie der Moderne dermaßen unhaltbar, dass Enzensbergers gesamter Versuch eines Museums in Misskredit gerät. Sartorius betont einen bei Enzensberger weniger prominent vertretenden Aspekt – den des Dialoges zwischen den Dichtern, und definiert entsprechend: „Mit ‚Lyrik als Weltliteratur‘ ist etwas anderes angesprochen: die Bezüge, der Austausch, das Gespräch über Fremdheiten hinweg. Es gibt ein wunderbares, unfassbar großes Gespinst von realen und imaginären Begegnungen der Dichter.“

Mit Sartorius können wir dem Kanon den Dialog kritisch zur Seite stellen. Während bei Enzensberger Reichtum, Verschiedenheit und Dialog vom Kanon, der Weltsprache, überformt werden, liegt für Sartorius ein Kanon klassischer Texte dem modernen Dialog nur zu Grunde.

Wenn die Idee des immer politisch zu instrumentalisierenden Kanons historisch diskreditiert ist, kann vielleicht der Dialog ein angemessener Weg sein, Literaturgeschichte zu betreiben. Ein Weg, der die Betrachtung und Analyse von Literatur zeitlich und räumlich weniger begrenzt als entgrenzt, und uns dadurch erst einmal Probleme bereitet. Wie hat man sich überhaupt „dieses wunderbare, unfassbar große Gespinst von realen und imaginären Begegnungen der Dichter“ vorzustellen?

Es handelt sich um eine Art Metatext, um ein Gespinst, Gesponnenes oder Gewebe also. Dieses Gewebe besteht aus vielen Fäden, die sich überlagern und verknoten – Linien, Hölderlin-Linien mithin. Es sind Linien, die sich an den verschiedensten Punkten treffen. Wenn sich die Linien treffen, bedeutet das eine Begegnung der Dichter, etwa eine thematische, motivische und / oder formale Übereinstimmung in den Texten zweier Dichter. Diese Übereinstimmung kann gewollt als auch ungewollt, in derselben oder in unterschiedlichen Sprachen vorhanden sein.

Einerseits ist der professionelle Leser derjenige, der die Verbindungen der Linien nicht herstellt, sondern sieht und nachvollzieht, so auch Enzensberger. Andererseits hat Enzensberger eine Auswahl getroffen, bewusst einige Dichter und Sprachen aus seinem „Museum“ ausgeschlossen. Er fordert zudem auf, mit der Auswahl spielerisch umzugehen, bis die Texte einen Kontext ergeben. Auch wenn alle literarischen Gewebestrukturen und Beziehungsmöglichkeiten immer schon vorhanden sind, zieht zu einem gewissen Grad der Leser die Linien zwischen den Texten und Autoren, indem er die Linien durch seine Auswahl beeinflusst.

Ziehen und Nachvollziehen einer komparatistischen Linie sind dennoch potentiell geeignet, das sowohl von Enzensberger als auch von Sartorius angenommene widersprüchliche Wesen der Poesie vielleicht nicht aufrechtzuerhalten, aber eben auch nicht unschädlich zu machen. Eine Linie bleibt offen und angreifbar, lässt sich weder erlernen noch aneignen.

Die Zahl der möglichen Linien ist praktisch unendlich. Das Ziehen und Nachvollziehen einer Linie im literarischen Gewebe ist somit immer willkürlich und kontrovers. Oder anders gesagt: Die Arbeit des Lesers ist nicht selbstbegründend und selbstrechtfertigend. So wie in der von Enzensberger eingegrenzten Moderne die Literatur selbst in verstärktem Maß einer Ideologisierung ausgesetzt war, bedurfte und bedarf das Sprechen über Literatur eines spezifischen Engagements, welches wiederum in den meisten Fällen einer Ideologie, einem bestimmten Ismus oder einer Theorieschule entspricht.

Engagement, wie Avantgarde dem militärisch-politischem Vokabular entstammend, bezeichnet erst einmal den Einsatz für eine Sache. Damit verbunden ist aber oft ein zielgerichtetes Handeln aus einer festen Überzeugung, einer fixen Idee heraus. Das Engagement des Lesers beim Ziehen und Nachvollziehen einer Linie im literarischen Gewebe sind das Verfolgen und Überprüfen einer These. Was ist meine These?

Die Dichterinnen Emily Dickinson, Nelly Sachs, Ilse Aichinger und Sujata Bhatt versuchen durch engagiertes Schweigen, die Widerstandskraft von Poesie aufrechtzuerhalten, sie also weder durch Kanon noch Ideologie korrumpieren zu lassen. Das Engagement ihres oftmals radikalen Schweigens zielt auf die Möglichkeit, dass ihre Poesie dunkel, unverständlich, inkommensurabel, eben widerständig bleibt und das Bestehende nicht bejaht. Schweigen wird hier weniger als Metapher, sondern als Strategie, in seiner Funktion betrachtet.

Wie kann über dichterisches Schweigen gesprochen werden, ohne das Schweigen zu brechen? Wie wird man einer Dichtung gerecht, die sich derart widerständig gegenüber Kanon, Ideologie und jeglicher Festlegung zeigt? Die Linie scheint mir ein guter Ansatzpunkt zu sein, um die Dichtungen nicht erlernbar und damit unschädlich zu machen.

Beim Ziehen und Nachvollziehen einer komparatistischen Linie engagierten Schweigens gehe ich vom Werk Nelly Sachs’ aus, das als einziges der hier zu behandelnden Werke im „Museum“ Enzensbergers Erwähnung findet. Die Linie Dickinson, Sachs, Aichinger und Weil werde ich dabei nachvollziehen, während die Verlängerung dieser Linie zu Bhatt eher einem Ausblick gleichkommt, den ich vornehme und nicht nachvollziehe.

Am 21. November 1947 schrieb Nelly Sachs an den Religionsphilosophen Hugo Bergmann: „Alle menschlichen Einrichtungen, auch die religiösen, haben sich so leer gelaufen, wir können doch nur noch erleben, erleiden, im Dunkeln nehmen und weitergeben. Es reicht ja doch kein Wort zu nichts mehr hin, von gestern zu morgen ist eine Kluft wie eine Wunde, die noch nicht heilen darf.“ Es ist diese Kluft, der historische Bruch der Shoah. Leben, vernichtetes Leben und Flucht sind untrennbar mit dem eigenen Schreiben verbunden.

150 Jahre nach dem Erscheinen des ersten „Hyperion“-Bandes hat das Schweigen der Geliebten, von dem Hyperion in seinem zweiten Brief spricht, eine andere Dimension erhalten. Es ist kein identifiziertes, beschriebenes Schweigen, dem ein Trost der seligen Natur folgen kann. Nichts mehr, das man bannen könnte. Das Schweigen bei Sachs ist notwendig, ein identisches und währendes, ja unhintergehbares. So wie Sachs die Materie „durchschmerzt“, so bleibt auch für die Leser der Schmerz unausweichlich. Schreiben bedeutet für Sachs das Schweigen und mit ihm den Schmerz im Dunkeln weitergeben. Literatur ist anders gesagt eine existentielle, körperliche Übung im Schweigen. Ein so verstandenes Schreiben kann auf keinem festen Kanon ruhen. Zwar gab es Vieles vor dem Schweigen Sachs’, aber nach der Shoah ist an eine Tradition nicht mehr ohne weiteres anzuknüpfen. An die Stelle der literarischen Tradition und des Kanons ist Schweigen getreten. In einem Gedicht aus dem Herbst 1960 heißt es dazu: „Der Schatten Kalligraphie / als Nachlaß.“

In ihren „Briefen aus der Nacht“ stellt Sachs dar, wie ihr schreibendes Schweigen durch eine semantische Leere der Zeichen ermöglicht wird: „Alle meine Worte sind nur Schilder und Grabtafeln. Du nur weißt, was darunter verblutet ist.“ Das „Du“ befindet sich im Jenseits und mit ihm die Bedeutung der Wörter und Sätze. Den Lesern bleiben lediglich die Zeichenträger. Die Zeichenbedeutung aber entzieht sich ihnen.

Als Vollendung dieser Poetik und Methode literarischen Schweigens können die Gedichte des Zyklus’ „Glühende Rätsel“ angesehen werden. In ihrer Kürze, Dichte und nicht aufzulösenden Dunkelheit sind sie Meisterstücke Sachs’. Ihre abnehmende Länge und die sie beschließenden sowie gleichzeitig öffnenden Gedankenstriche sind weitere Indizien des Schweigens. Die Leere und Hinfälligkeit der literarischen Tradition hat Sachs besonders mit ihren späten Werken bewiesen. Doch was, so mag sie sich auch selbst am Ende ihres Lebens und Schaffens gefragt haben, bleibt von ihren eigenen schriftstellerischen Bemühungen? Schließlich schrieb sie selbst, „im Dunkeln nehmen und weitergeben“ zu wollen.

Nach Beendigung der „Glühenden Rätsel“ im Jahr 1966 verfasste Sachs das folgende, posthum veröffentlichte Gedicht: „Ihr meine Toten / Eure Träume sind Waisen geworden / Nacht hat die Bilder verdeckt / Fliegend in Chiffren eure Sprache singt // Die Flüchtlingsschar der Gedanken / eure wandernde Hinterlassenschaft / bettelt an meinem Strand // Unruhig bin ich / sehr erschrocken / den Schatz zu fassen mit kleinem Leben // Selbst Inhaber von Augenblicken / Herzklopfen Abschieden / Todeswunden / wo ist mein Erbe // Salz ist mein Erbe“.

Auf die Frage nach dem Ort des Erbes folgt die Angabe, was das Erbe sei. Eine Verortung des Erbes ist nicht möglich. Es kann überall sein, es ist nicht fest verankert, kein materieller Besitz. Erbe meint hier zudem sowohl dasjenige, das man bekommt, als auch jenes, das man weitergibt. Sachs sagt damit mehr oder weniger, was sie schon im Brief an Hugo Bergmann gesagt hat: Sie nimmt im Dunkeln und gibt es weiter. Sie durchschmerzt und schweigt. Sie fügt nichts hinzu. Wenn Salz das Erbe ist, lässt es sich über den Körper aufnehmen – Tränen sind salzig –, weniger mit dem Geist erfassen. Sachs’ Schweigen ist damit widerständig.

Nichts will Sachs ihren Dichtungen hinzugefügt haben, das sie nicht im Dunkeln genommen hat. Sie tritt damit hinter ihr Werk zurück. Diese Vorstellung steht im Zusammenhang mit der in Sachs’ Arbeiten der 1950er-Jahre auftretenden Universalisierung. Sprach sie in den 1940er-Jahren noch für die Toten der Shoah, für die verfolgten, geflohenen und ermordeten Juden Europas, sieht sie ab den 1950er-Jahren das Sprechen, oder eben Schweigen für alle leidenden Wesen als ihren dichterischen Auftrag an. Dementsprechend findet man in den frühen Arbeiten häufig das Personalpronomen ,wir‘, während in den späteren Arbeiten, so zum Beispiel in „Leben unter Bedrohung“, das Personalpronomen ,ich‘ beinah ganz und demonstrativ verschwindet.

Das sprachliche Phänomen des schwindenden oder gelöschten Personalpronomens ,ich‘ hat seine philosophische Begründung in Simone Weils Konzeption der dé-création, der Entschaffung des Ich. In einem Essay über die französische Philosophin, „Stille und Schmerz“ betitelt, versucht Sachs in den 1950er-Jahren ihre Faszination für Weil darzulegen und die Parallelen zur jüdischen Mystik im Denken und Leben Weils aufzuzeigen. In Bezug auf die dé-création hält Sachs fest: „Auch im Sohar, dem Buch der Strahlen, dem Hauptwerk der Kabbala, wird davon gesprochen, daß der einzige Besitz des Menschen, sein ‚Ich‘ zu Gott ausgelöscht werden muß.“

Weil ging davon aus, dass sich Gott bei der Erschaffung der Welt zurücknehmen und weichen musste. Damit Gott wieder anwesend sein könne, müsse das Ich sich seinerseits zurückziehen oder ,entschaffen‘. Die durch das Ich und sein subjektives Urteil wertbesetzte Welt ist für Weil nicht die wahre Welt oder Wirklichkeit. Die dé-création oder Entschaffung des Ich führt somit zur potentiellen Anwesenheit Gottes und zu einer wahren, ideologiefreien Erkenntnis.

In den Zeiten korrumpierter Wahrheit, der Ideologien und Kriege ist das Schweigen des Ich kein Zeichen mystischer Weltabgewandtheit, sondern eine elementare Vorraussetzung des Erkenntnisgewinns, ein Zuwenden zur Welt und zur Wahrheit. Für Sachs bedeutete die dé-création ein körperliches Überfallenwerden durch das Schreiben, eine Rettung vor dem Ersticken. Schreiben, ohne ich zu sagen, führt sowohl zu einer Form des literarischen Schweigens, wie bei Sachs gesehen, als auch zu einer größtmöglichen Ideologieferne. Als hätte sie Sachs’ Auffassung vom Schreiben vorweggenommen, notierte Weil in ihren „Cahiers“: „Nicht für ein Ziel handeln, sondern aus einer Notwendigkeit heraus. Ich kann nicht anders. Das ist kein Handeln, sondern eine Art von Passivität. Nichthandelndes Handeln.“ Das nicht-handelnde Handeln ließe sich auch als ein schreibendes oder redendes Schweigen auffassen.

Auf die Spur einer weiteren Form des literarischen Schweigens führt uns die Widmung Celans in einem Sonderdruck seiner Emily-Dickinson-Übertragungen: „Für Nelly Sachs / zum 10. XII. 1961 / diese Übertragungen der am 10. XII. 1830 / geborenen Emily Dickinson, / who dwelled in Possibility, / a fairer house than Prose. / More numerous of windows, / Superior of doors – / Mit den herzlichsten Wünschen / Paul Celan / 8. XII. 1961“.

In diesen Zeilen zu ihrem 70. Geburtstag spielt Paul Celan darauf an, dass Nelly Sachs und Emily Dickinson beide an einem 10. Dezember geboren wurden, die eine im Jahr 1830, die andere im Jahr 1891. Celan deutet mit seiner Widmung einen Meridian an, der zwischen Dickinson und Sachs verläuft. Tatsächlich liegt die Annahme eines Meridians in diesem Fall nicht fern, gibt es doch zahlreiche Parallelen biografischer und literarischer Natur zwischen Dickinson und Sachs. An Celan hatte Sachs im Oktober 1959 geschrieben: „Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes.“ Und im Fall Weils benannte Sachs den Meridian im Titel ihres Essays mit „Stille und Schmerz“. Auch bei Dickinson, wie schon bei Weil, ist es ein ganz bestimmtes Verhältnis zum Schweigen, das den Meridian begründet. Wie das Schweigen im Werk Dickinsons ausfällt, wird sofort ersichtlich, wenn man neben die von Celan zitierten ersten Zeilen des drei-strophigen Gedichts dieselben Zeilen aus der neueren Edition von Franklin stellt. Dort heißt es: „I dwell in Possibility – / A fairer House than Prose – / More numerous of windows – / Superior – for Doors –“.

Dickinson hatte nur knapp ein Dutzend Gedichte veröffentlicht, bevor sie im Jahr 1886 verstarb. Wie ihr gesamtes Werk nach ihrem Tod, so litten schon diese zu Lebzeiten publizierten Gedichte unter den Eingriffen von Korrektoren. Nicht nur, dass Dickinson abgesehen von diesen durch fremde Hand veränderten Gedichten schwieg und sich mehr und mehr zurückzog. Von ihren Gedichten hinterließ sie dermaßen viele Varianten, dass sich bis heute darüber streiten ließe, wie viele verschiedene oder selbstständige Gedichte es von Dickinson eigentlich gibt. Bis auf den Unterschied der ersten beiden Wörter – „I dwell“ und „who dwelled“ –, die Celan vornahm, um das Zitierte sowohl auf Dickinson selbst als auch auf Sachs beziehen zu können, beruhen die verschiedenen Großschreibungen und Interpunktionen auf den verschiedenen Ausgaben ihrer Werke. Und dies ist keineswegs das Gedicht mit den schwerwiegendsten oder meisten Unterschieden in verschiedenen Editionen. Es ist allerdings das Gedicht, das man bezüglich der Varianten als ein programmatisches lesen kann.

Nicht das hermetische Gedicht hält sich demnach dunkel und nicht erlernbar, sondern das radikal offene Gedicht ist weniger festzulegen als die Prosa. Das Ich haust im Gedicht in vielfältigsten Möglichkeiten und entzieht sich so der Festlegung. Die Ambiguität eines jeden und besonders des modernen Gedichtes hat Dickinson noch weiter gesteigert: durch ihre unkonventionellen Schreibweisen, durch ihre eigenwillige Interpunktion voller Gedankenstriche und nicht zuletzt durch die vielen Varianten ihrer Texte. Wer sich dermaßen öffnet, aussetzt und jeder Festlegung entzieht, schweigt auf eine äußerst raffinierte, beinah unmerkliche Weise.

Wie „die Bezüge, der Austausch, das Gespräch über Fremdheiten hinweg“ zwischen Sachs und einigen ihrer philosophischen und literarischen Vorgänger ausgesehen haben mag, habe ich bereits zu zeigen versucht. Wie aber traten Sachs’ Zeitgenossen und Nachfolger in das „wunderbare, unfassbar große Gespinst von realen und imaginären Begegnungen der Dichter“ ein? Hier soll ein Blick auf die 1921 geborene Ilse Aichinger genügen.

Aichinger, eine von Sachs’ zahlreichen Brieffreundschaften unter den deutschsprachigen Autoren, entwickelte von einer rigorosen Sprachkritik ausgehend ihre eigene, unerbittliche Poetik des Schweigens. Als Symptom dieser Poetik kann die zunehmende Verknappung ihrer Texte bis hin zu kürzesten Notizen und schließlich zum jahrelangen Verstummen gelten. In gewisser Weise führt Aichinger die körperlich existentielle Poetik und das Schweigen aus dem Werk Sachs’ weiter, radikalisiert beide gar.

1971, ein Jahr nach dem Tod Sachs’ erhielt Aichinger den Dortmunder Nelly Sachs Preis. In ihrer Dankrede erklärt Aichinger, wie sie das von Sachs aufgenommene Gespräch sieht. Nelly Sachs spreche zu den Wachen an den Rändern der Welt. „Sie ermutigt ihren genauen Leser immer wieder zu dem Versuch, seine Stummheit in Schweigen zu übersetzen, in das engagierte Schweigen, ohne das Sprache und Gespräch nicht möglich sind.“

Engagiertes Schweigen ist demnach ein bewusstes, ausdrücklich gewolltes und herbeigeführtes Schweigen, kein Schweigen aus Verlegenheit und Nichtwissen, sondern aus einem Wissen und aus einem Engagement heraus. Unter diesem Engagement hat man sich ein fundamentales Misstrauen gegen Bestehendes, einen Widerstand gegen alles Konforme und Festgelegte vorzustellen. Aichinger führt entsprechend in ihrer Dankrede weiter aus: „Im Namen von Nelly Sachs mit der Freude konfrontiert zu werden, heißt aber zugleich, mit einer Angst konfrontiert zu werden, die sich durchsteht, mit Finsternis, die sich nicht ausweicht, mit Trauer, die allem offenbleibt.“ Aichinger legt mit ihrer Dankrede eine überaus treffende Analyse und Interpretation des Schweigens bei Sachs vor.

Doch ist in Aichingers Ausführungen zu Sachs mindestens genauso sehr sie selbst als Dichterin angesprochen. Aichinger sieht sich offenbar als eine der „Wachen an den Rändern der Welt“, als eine von Sachs’ genauen Lesern. In der Tat hatte Aichinger schon 25 Jahre vor ihrer Dortmunder Dankrede zu einem fundamentalen Misstrauen und zu Widerstand aufgerufen. „Sich selbst müssen Sie mißtrauen!“ heißt es in ihrem „Aufruf zum Mißtrauen“. Anders als beim Misstrauen gegen das Ich bei Simone Weil steht das Ich bei Aichinger nicht in Frage, weil es gilt, die Anwesenheit Gottes zu ermöglichen, sondern das Vertrauen, das Gespräch, schließlich das Leben nach dem Krieg wieder möglich zu machen. Dieses frühe Misstrauen gegen das Ich und der generelle Widerstand gegen Bestehendes finden sich in allen Texten Aichingers und führen wie bei Sachs und Weil zu einem engagierten Schweigen.

Auch und gerade in ihren wenigen Gedichten intensiviert Aichinger diese Haltung des Misstrauens und Widerstands. Eines ihrer Gedichte, entstanden im März 1959, sei kurz angeführt. In „Ende des Ungeschriebenen“ heißt es: „So wird niemand wissen / von unseren Atemstößen / als wir über die Brücke liefen, / und was hinter uns liegt, / erfahren sie nicht: / Die schwachen Namenszüge, / die geköpften Sonnen. / Die Vorhallen der Spitäler / sind still.“

Was ist nun das Ende des Ungeschriebenen, von dem der Titel spricht? Ist es das Gedicht? Und wenn es so wäre, würde uns ausdrücklich das, was zeitlich vor dem Gedicht liegt, enthalten, verschwiegen. Und das, was nach dem Gedicht folgen könnte, wird nicht einmal angedeutet. Oder wird es als Schweigen prophezeit? Vor und nach den Zeilen des Gedichts gibt es nichts als Schweigen. Und auch die Gedichtzeilen selbst sind nichts als Schweigen. Sie sind nichts als das verbalisierte Verschweigen mehrerer Leben und Lebenswege. Das Gedicht ist im Grunde eine Vorahnung des Todes. Während Sachs mit ihrem Dichten noch auf der Schwelle vom Leben zum Tod agiert, wird in Aichingers Gedicht das Übertreten der Schwelle angedeutet.

Mit einem Aphorismus Aichingers aus dem Jahr 1985 ließen sich die zwei letzten Zeilen des Gedichts weiterschreiben: „Zum Kranklachen wäre alles, wenn es nicht zum Totlachen wäre.“ Aichingers radikale Poetik des Schweigens gipfelt schließlich konsequenterweise in folgender Interviewauskunft aus den letzten Jahren: „Gute Literatur ist mit dem Tod identisch. Das ist ein für mich erstrebtes Ziel, weil gute Literatur mit einer gewissen Art von Adel identisch ist. Und dieser Adel besteht in dem Willen zur Nicht-Existenz.“

Sind wir mit diesem letzten und anhaltenden Schweigen im Tod nicht an einem Endpunkt angelangt? Wie ließe sich an eine solche Poetik des Schweigens anknüpfen? Vielleicht ließe es sich weniger an sie anknüpfen, dafür aber mit ihr in einen Dialog treten. Als eine Art Ausblick möchte ich abschließend die bisher nachvollzogene komparatistische Linie engagierten Schweigens zu einem heutigen dichterischen Umgang mit Schweigen weiterziehen, nämlich zum interkulturell geprägten Werk Sujata Bhatts.

Sujata Bhatt wurde im Jahr 1956 in Ahmedabad in Indien geboren, zog mit ihrer Familie im Alter von zwölf Jahren an die Ostküste der USA, wo sie auch ihr Studium absolvierte. Seit 1987 lebt sie in Bremen. Dieses Leben zwischen oder in verschiedenen Ländern, Kulturen und Sprachen ist eines der Hauptthemen ihrer Werke, sowohl auf inhaltlicher, als auch auf formaler Ebene.

Einige Auszüge aus einem ihrer bekanntesten Gedichte, „Search for My Tongue“, verdeutlichen exemplarisch ein übersetzendes und wie schon bei Sachs körperlich existentielles Schweigen und Suchen: „Days my tongue slips away. / I can’t hold on to my tongue. / It’s slippery like the lizard’s tail / I try to grasp / but the lizard darts away. // (mari jeebh sarki jai chay) / I can’t speak. I speak nothing. / Nothing. // (kai nahi, hoo nathi boli shakti) / I search for my tongue. / (paranthu kya shodhu? Kya?) / (hoo dhoti dhoti jaoo choo) / But where should I start? Where? / I go running, running, / (nadi keenayray pohchee choo, nadi keenayray) / reach the river’s edge. / Silence.“

Dies sind nur Auszüge aus dem dreiteiligen, mehrstrophigen Langgedicht, das sowohl Passagen in Bhatts Muttersprache Gujarati als auch die Übersetzung dieser Passagen ins Englische, ihrer zweiten Sprache, enthält. Das Gespräch über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, das Übersetzen der Philosophie Weils in die eigene Poetik durch Sachs etwa, dieses Übersetzen ist hier Teil und Thema ein und desselben Gedichts. Das notwendige, unhintergehbare Übersetzen führt jedoch innerhalb des Sprechens einer Person immer wieder zum Schweigen: „I speak nothing. / Nothing.“

Das Nichts, das Schweigen, „Silence“ begegnet aber hier vor allem uns europäischen Lesern, die kein Gujarati sprechen und verstehen. Durch eine fremde Sprache tritt das Schweigen ins Gedicht. „Silence“ wird geradezu vom Gujarati verkörpert. War bei Sachs das engagierte Schweigen noch durch die Shoa grundiert, ist das Schweigen bei Bhatt im Hinblick auf die Globalisierung und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen engagiert.

In ihrem im Jahr 2002 veröffentlichten Band „A Colour for Solitude“ hat Bhatt noch einen anderen Umgang mit dem Schweigen aus Fremdheit heraus versucht. Als das absolut Fremde und doch Nahe und Alltägliche benennt Bhatt die deutsche Sprache und Kultur. Über die Gedichte Rilkes und schließlich dessen Beziehung zu Clara Westhoff und Paula Modersohn-Becker hat Bhatt sich der deutschen Sprache genähert. Der gesamte Band „A Colour for Solitude“ ist Rilke, Westhoff und Modersohn-Becker gewidmet. In ihrem Vorwort zu dem Band erklärt Bhatt: „Clara’s silence inspired me to break that silence and to imagine what she might have said. I wrote my first poem in Clara’s voice in 1979.“ Auch wenn Claras Schweigen gegenüber Rilke und im Vergleich zu ihm und seinen Werken nur ein relatives gewesen sei, habe doch ihr Ziel im vorliegenden Band darin bestanden, das Schweigen zu brechen: „As a poet, I have been more interested in exploring and imagining what has been left unsaid“.

Auch hier finden wir ein Schweigen vor, das nun aber fruchtbar gemacht und gebrochen werden soll, um auch das Schweigen der fremden und doch nahen Kultur zumindest zu verringern. Bei Bhatt ist nicht wie bei Aichinger das absolute Schweigen Ziel und Endpunkt ihrer dichterischen Bestrebungen. Bhatts zwar durchaus engagierter Umgang mit dem Schweigen zielt vielmehr auf die Verringerung und das Erträglichmachen eines interkulturell bedingten Schweigens.

Fünf Positionen engagierten Schweigens habe ich vorgestellt, die allesamt aus spezifischen historischen und / oder biografischen Situationen heraus gegen Bestehendes sprachen und sprechen. Dickinson, Sachs, Weil und Aichinger setzten dem Bestehenden ein Nichtbestehendes, ein Schweigen entgegen. Bhatt wählt einen anderen Weg. Sie versucht dem Bestehenden etwas bisher Nichtbestehendes hinzuzufügen, ohne jedoch das Schweigen auszuschließen. Sie bindet das Schweigen in Bestehendes ein und verstört so das Bestehende, macht es ein Stück weit inkommensurabel, hält es nicht erlernbar und widerständig.

Mit dem Ziehen und Nachvollziehen dieser Linie engagierten Schweigens habe ich versucht, den widerständigen Poetiken gerecht zu werden und sie nicht erlernbar zu belassen. Mir lag an einem anderen Zugang, die das Dunkle dunkel lässt und sich nicht in scheinbar aufhellende Spekulationen flüchtet. Ich wollte mit Sartorius die Bezüge, den Austausch, das Gespräch über Fremdheiten hinweg, das wunderbare, unfassbar große Gespinst von realen und imaginären Begegnungen der Dichter aufzeigen. Dass hier keine Vollständigkeit möglich ist, sollte nicht verwundern. Es ist immer nur ein Anfang gemacht. Oder um es ein letztes Mal mit Hyperion zu sagen: „So dacht’ ich. Nächstens mehr.“