Die Übersetzbarkeit des „Besonderen“

Gibt es so etwas wie eine „poetische Weltsprache“?

Von Wendy Anne KopischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wendy Anne Kopisch

Hans Magnus Enzensberger und das Konzept einer „Weltsprache der Poesie“

In seinem „Museum der modernen Poesie“ (1960) sucht Hans Magnus Enzensberger die universelle Sprache der Poesie – spezifisch der modernen Poesie – exemplarisch zu veranschaulichen: „Die lingua franca, die durch dieses Buch belegt werden soll, hat ihre Größe gerade darin, daß sie sich dem Ausdruck des Besonderen nicht verschließt; daß sie vielmehr das Besondere aus der Bindung an die nationalen Literaturen befreit“.

Dabei fungieren die verschiedenen Originalsprachen der Gedichte als „Dialekte“ einer poetischen „Weltsprache“, die sich – wie die Musik oder die Kunst – jenseits der physischen Sprachformen bewegt. In Enzensbergers „Museum“werden Gedichte aus sechzehn verschiedenen Sprachen neben ihren deutschen Übersetzungen abgedruckt. In diesem Sinne wird die Lyriklektüre durch die Möglichkeit, Quell- und Zieltext zu vergleichen, zu einer besonders treffenden Form der „Poesie als Prozeß“: Sie wird zu einer produktiven Unternehmung, deren Hauptinteresse nicht nur dem Endprodukt, sondern auch dem Verfahren und der Methode gilt. Sein „didaktisches“ Ziel, so Enzensberger weiter, sei ein „Gespräch“: die Erfahrung des kulturellen und linguistischen Über-Setzens durch Vergleich und Analyse des dialogischen Prozesses an sich. Als „Weltsprache“ sei das Potential der Lyrik, „gesellschaftlich zu wirken“, verstärkt: Die sozio-seismologische Funktion, die sie ohnehin seit jeher innehat, reicht jetzt über sprachlich-kulturelle Grenzen hinaus.

Die Protagonisten dieser Grenzübergänge, so Enzensberger, die Übersetzer, Literaturkritiker und Essayisten, begaben sich in ihrem „Einverständnis“ über die Fähigkeit der modernen Poesie, nationalsprachliche Grenzen zu überschreiten, auf eine literarische Entdeckungsreise mit der poetischen „Weltsprache“ als Beförderungsmittel. Insofern bezieht sich Enzensberger mit dem Begriff der poetischen „Weltsprache“ gewissermaßen auf Goethes Konzept der „Weltliteratur“ (siehe Lamping 2010).

Weltsprache, Übersetzung und literarischer Kanon

Dabei stellt sich die Frage nach der kanonisierenden Suggestion einer poetischen Weltsprache. Sinn und Zweck von Enzensbergers ‚Museumseinrichtung‘ sei es, das „Phantom der modernen Poesie“ durch die exemplarische Vorlage konkreter Gedichtbeispiele „zu bannen“. Ein solches Vorhaben strebt eine gewissermaßen kanonisierende Wirkung an. Doch wenn Enzensberger schreibt, unser poetisches Erbe sei – in Form von „Destruktion und Rückgriff“ – der literarischen Rezeption der alten Meister wie etwa Sappho, Lukrez, Horaz und Catull, der alten spanischen Romanzen, der klassischen chinesischen Lyrik und des japanischen Haikus zu verdanken, bezieht er sich sicher auf die Übersetzungen dieser Werke, die ihre Überlieferung in unseren Kultur- und Sprachkreis gewährleistet haben.

Wie Enzensberger auch einräumt, steht das Projekt, eine „Weltsprache der Poesie“ durch Gedichtbeispiele zu veranschaulichen, zwangsläufig vor der Schwierigkeit, so viele Gedichte aus so vielen Ländern abzudrucken, dass die Aussicht auf eine Leserschaft, die alle oder sogar mehrere der Gedichte in der Originalsprache zu lesen vermag, schlecht ist. Ein solches kanonisches Vorhaben ist deshalb stark von Übersetzungen abhängig. Inwieweit steht der notwendige Übersetzungsprozess Enzensbergers Ziel, Wissen über eine mögliche poetische Weltsprache anhand mutmaßlich passender Gedichte zu sammeln, im Wege?

Bei Enzensberger lädt das Layout zum „Gespräch“ zwischen Gedicht und Übersetzung ein, indem beide nebeneinander abgedruckt werden, eine Strategie, die in Harald Hartungs „Luftfracht“ (1991) nicht weitergeführt wird. Ein solches „Gespräch“ kann jedoch freilich nur stattfinden, wenn der Leser auch der Ausgangssprache mächtig ist. Ansonsten bleiben unsere Auffassung und Rezeption des ‚Kanons‘ der modernen Poesie schließlich von Übersetzungen bestimmt. Obwohl dies schon in mehreren Aufsätzen zur literarischen Übersetzung angemerkt wurde, wird in der allgemeinen Wahrnehmung die Rolle des Übersetzers bei der Überlieferung klassischer Texte erstaunlicherweise wenig anerkannt.

In seiner überarbeiteten Auflage des „Museums“ aus dem Jahr 1979 distanziert sich Enzensberger von einigen seiner Aussagen aus den 1960er-Jahren. In der Zwischenzeit sei die poetische Produktion zunehmend heterogen und regional ausdifferenzierter geworden. Sie sei deutlich vielfältiger geworden und somit auch schwerer zu übersetzen. Jetzt steht die Dialekt-Metapher nicht mehr nur für die verschiedenen Sprachen, sondern zudem für die kulturell-regionale Heterogenität, die in einer globalisierten Welt besonders sichtbar wird: „Wenn es je so etwas wie eine Weltsprache der modernen Poesie gegeben hat, so ist sie unterdessen in zahllose Dialekte zerfallen.“

Auf den hier hörbaren Zweifel Enzensbergers antwortet Hartung in „Luftfracht“: „Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Weltsprache der Poesie: artifiziell, aber nicht künstlich; international, aber erwachsen aus dem Besondern des Ortes und der Region“. Und Enzensberger stimmt zu, trotz seines Zweifels, dass es diese „Besonderheiten“ sind, die die „Weltsprache der Poesie“ weiterhin zentral prägen, und zwar „[g]egen die Abstraktionen des Weltmarkts, der Globalisierung und der Technik“.

Mit der poetischen „Weltsprache“ meinen Enzensberger und Hartung also eine lingua franca, die die Grenzen der physischen Sprache transzendiert, wie etwa Musik oder Kunst. Wie verhält sie sich gegenüber den fassbaren, materiellen Sprachkonstruktionen, die das Werkzeug von Lyrikern sowie Übersetzern darstellen? Und inwiefern lässt sich diese „besondere“ poetische Essenz über sprachliche und kulturelle Grenzen transportieren? Dabei ist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Lyrikübersetzung von zentraler Bedeutung, und sie ist bereits Gegenstand einer Fülle an literaturwissenschaftlichen Schriften.

Um nicht die schon ausführlich besprochene Frage nach der Nähe beziehungsweise Distanz zwischen Ausgangs- und Zieltext, zwischen Autor- und Leserorientierung oder zwischen Inhalt und Form zu reproduzieren, fragt dieser Beitrag spezifisch nach dem Konzept und der Übersetzbarkeit des „Besonderen“ in dem Sinne, wie es für Enzensberger und Hartung bei der Auswahl der Gedichte in „Museum“ und „Luftfracht“ eine Rolle spielte. Anschließend erörtert er die Relevanz und Anwendbarkeit des Begriffes des Besonderen in Bezug auf eine Übersetzung aus dem letzten Jahrzehnt: die Übersetzung eines Gedichts aus Derek Walcotts Gedichtband „Midsummer“ (1984) von Raoul Schrott (2001). Dieses Beispiel einer Lyrikübersetzung erscheint besonders interessant, da es sich bei Schrott um einen Übersetzer handelt, der sich explizit mit Fragen der Lyrikübersetzung beschäftigt hat (man denke zum Beispiel an die Tiraden, in denen sich die Kritik nach seiner Veröffentlichung der „Erfindung der Poesie“ (1999) erging). Ferner gilt Schrott literarisch sowie biografisch als ‚Globetrotter‘, dessen internationale sowie weltgeografische Erfahrung sich durchaus im Sinne eines „Besondern des Ortes und der Region“ in seinen eigenen Gedichten niederschlägt. Dabei ist es die poetische Darstellung dieser mannigfaltigen Orte in Schrotts Gedichten, die sie vereint. Seine Poesie fungiert als gemeinsamer Nenner für die Evozierung einer Fülle von sehr unterschiedlichen und geografisch weit verteilten Landschaften, Situationen und Erfahrungen. Das Regionale wird bewahrt, aber auf überregionaler Ebene zugänglich und direkt erfahrbar gemacht. Insofern trägt Schrott das von Enzensberger so bezeichnete „Einverständnis“ der damaligen „Kundschafter und Übersetzer, Kritiker und Essayisten“ weiter. Natürlich konstituiert auch dieser Prozess ein Übersetzen im weitesten Sinne. Es gibt also zwei Grundelemente einer poetischen Weltsprache: Zum einen den Ort zwischen den Zeilen, wo regionale Besonderheiten für den Leser bildlich erlebbar werden. Doch ohne das zweite Element, die Übersetzung, wird diese poetische Sprache den Anspruch der sprachlich-kulturellen Grenzüberschreitung kaum erfüllen können.

Wie könnte eine poetische Weltsprache in praktischer Form aussehen?

Nun ist „Übersetzung“ ein weiter Begriff und gerade im Kontext der Lyrikübersetzung gibt es mehrere Formen. Ein systematischer Ansatz zur Frage nach der intersprachlichen und interkulturellen Verständigung durch Poesie birgt vier Möglichkeiten: Erstens die der homophonen Übersetzung. Hier besteht die poetische „Weltsprache“ ausschließlich aus der Musikalität der Verse, die in einer anderen Sprache wiedergegeben wird. Ein Beispiel findet sich in einem gegenwärtigen Projekt mit dem Titel „Metropoetica“ des Förderprogramms „Literature across Frontiers“, in dem sieben Lyrikerinnen aus Island, Lettland, Polen, Slowenien, Wales und Finnland mehrsprachige lyrische Versuche zum Thema „weibliche Erfahrung der Großstadt“ unternehmen. In einem interessanten lyrischen Experiment wurde ein Gedicht von jeweils einer der Lyrikerinnen homophon ‚nachgedichtet‘; das multilinguale Endprodukt war ein längeres, siebensprachiges Gedicht, das klanglich dem originalen Wortlaut entsprach. In den meisten Fällen haben die Lyrikerinnen den Sinn der Originalverse nicht oder nur wenig verstanden. Hier haben Rhythmus, Geschwindigkeit, Alliteration, Assonanzen und Reime die grammatischen Strukturen bereitgestellt für die Verständigung; dabei spielte der Sinn keine oder eine unwesentliche Rolle (siehe www.metropoetica.org).

Die zweite vorstellbare Situation, in der auf theoretisch-abstrakter Ebene eine internationale poetische Verständigung erfolgen könnte, ist der ersten strukturell ähnlich, legt den Zugang jedoch auf einen ‚rein inhaltlichen‘ Text, der den Sinn der Worte wiedergibt, ohne aber auf Klang, Rhythmus et cetera zu achten. Das Ergebnis solcher Übersetzungen sind Prosatexte wie diejenigen, die zum Beispiel in komparatistischen Lehrwerken verwendet werden. Während der Leser durch die in Prosa vorhandene Übersetzung eine Darstellung des Gedichtthemas erhält, hat er gleichzeitig die Möglichkeit, die originale Gedichtform und vielleicht – je nach Sprachkenntnissen – klangliche sowie reimtechnische Aspekte wahrzunehmen. Allerdings setzt diese Möglichkeit – für ein zufriedenstellendes Erlebnis der poetischen Verständigung zumindest – mehr als ein Mindestmaß an Kenntnissen der Originalsprache voraus.

Die dritte Möglichkeit besteht in der Lektüre eines Gedichts durch mehrere Personen aus verschiedenen sprachlichen und kulturellen Hintergründen in einer Sprache, die von allen beherrscht wird. Gegen diese Möglichkeit spricht allerdings vehement die so genannte und auf dem Gebiet der Übersetzungstheorie oft kritisierte Sapir-Whorf-Hypothese, die das Verhältnis von Sprache, Denken und Kognition thematisiert. Die Struktur der Sprache, die wir gewöhnlich verwenden, so Benjamin Whorf (1956) in „Language, Thought and Reality“, beeinflusse unser Verständnis unserer Umgebung. Laut Whorf könne die Erforschung der „Logiken“ verschiedener Sprachen wesentlich zu unserem Verständnis von Denkgewohnheiten und von der Art und Weise, wie unsere Wahrnehmung der Welt um uns herum mittels der Sprache zu Wissen verarbeitet wird, beitragen. So wird die Frage nach der Übersetzung – allen Übersetzungsarten – zu einem epistemologischen Problem.

„We dissect nature along lines laid down by our native languages […] the world is presented in a kaleidoscopic flux of impressions which has to be organized by our minds – and this means largely by the linguistic systems in our minds. We cut nature up, organize it into concepts, and ascribe significances as we do, largely because we are parties to an agreement to organize it in this way – an agreement that holds throughout our speech community and is codified in the patterns of our language. The agreement is, of course, an implicit and unstated one, but its terms are absolutely obligatory; we cannot talk at all except by subscribing to the organization and classification of data which the agreement decrees.“(Whorf 1956)

Obwohl sich Whorf in seiner Forschung hauptsächlich mit den Sprachen der amerikanischen Ureinwohner beschäftigt, die unter anderem der dualistischen Logik der indoeuropäischen Sprachen nicht folgen, unterstützt seine Theorie zweifellos die Vermutung, dass das Poetische, das sich ‚zwischen den Zeilen‘ befindet, maßgeblich vom kulturell-sprachlichen Hintergrund der Leserschaft abhängt. Lyrische Bildlichkeit, Wortspiele, Zweideutigkeiten und spezifisch nationale Bezüge können oft sehr sprach- oder kulturspezifisch sein.

Die vierte systematische Möglichkeit der poetischen Weltsprache ist die Form, die uns am häufigsten begegnet: die Übersetzung eines Gedichts in eine andere Sprache. Hier liegt die Hauptverantwortung für die intersprachliche und interkulturelle Verständigung beim Übersetzer, der die „unendliche Aufgabe“ hat (um mit Klaus Reichert zu sprechen), sich zwischen Ästhetik und Genauigkeit zu entscheiden. Auch wenn aus der Sicht vieler gegenwärtiger Diskursanalytiker kein Text als reine Übermittlung eines Inhalts anzusehen ist, gilt die Übersetzung von Lyrik gewöhnlich als besonders schwierig, weil es dabei in größerem Maße auf die jeweilige Interpretation ankommt. Außerdem besitzt sie eine äußerst kompakte Struktur mit einer hohen semantischen Dichte und einer einmaligen Synergie von Inhalt und Form. Um mit Raoul Schrott zu sprechen: „Keine andere Gattung kann ein Maximum von Ideen mit einem derartigen Minimum an Mitteln ausdrücken – darin liegt ihre Schwierigkeit und ihre Schönheit. Ästhetik ist nichts anderes als diese Art von Ökonomie, in der die Sprache zum kleinsten gemeinsamen Nenner des Denkens verdichtet wird; die Poesie bündelt das größte gemeinsame Vielfache der Gedanken und ihre Zweideutigkeiten und bezieht die Sprache zurück auf primäre Wahrnehmung“ (Schrott, 1999). Je mehr eine Lyrikübersetzung sowohl den ‚Inhalt‘ (‚Inhalt‘ hier im Sinne von Jiri Levýs Begriff der „Mitteilung“, vgl. Levý 1969) als auch die poetische Form wiederzugeben vermag, desto mehr kann diese Übersetzung als ‚erfolgreich‘ betrachtet werden.Die Übersetzung hat also nicht nur die rein praktische Funktion, den rein materiellen Text (sollte es so etwas geben) in eine andere Sprache zu übertragen, sondern auch die poetische Aufgabe, die regionalen Besonderheiten in dieser anderen Sprache durch sprachlich-kulturelle Äquivalenz ebenso lyrisch erfahrbar zu machen wie im Original.

Die Doppelfunktion der Übersetzung: ein praktisches Beispiel

Walter Benjamins Diktum, das Wesentliche der Lyrik sei „nicht Mitteilung, nicht Aussage“, ist auch für Schrott ein wichtiger Grundsatz. Interessant erscheint hier ebenfalls Schrotts Betonung der primären Wahrnehmung, die durch die Lyrik evoziert werden kann. In seinem 1998 erschienenen Band „Tropen. Über das Erhabene“ konstituiert die von Schrott so genannte „Ästhetik des ersten Mals“ einen Aspekt des Erhabenen: „Die Gewohnheit nützt die Dinge ab, weshalb die Sujets immer noch großartiger und beeindruckender werden müssen, bevor auch sie wieder ihre Kante verlieren. […] die Höhe eines Mont Blanc ruft heute kaum mehr diese Ehrfurcht hervor, und auch auf den Parnaß führt eine Seilbahn.“ (Schrott 2002)

Wenn uns die Natur aufgrund des technologischen Fortschritts weniger imponiert, als es früher der Fall war, kann die Poesie durch die Evozierung von neuen, befremdenden Perspektiven einen neuen Blick auf die Welt bieten. Dieses Konzept der primären Wahrnehmung erscheint besonders interessant für die Übersetzung des „Besonderen“ im Sinne einer poetischen Weltsprache. Denn zentral für die Entstehung des Besonderen erscheint die sinnliche Verknüpfung des ortsspezifisch Regionalen mit dem Überregionalen, Globalen oder, wenn man so will, der Mikro- mit der Makroebene. Dies wiederzugeben muss eine Übersetzung vermögen, um den Anspruch einer „Weltsprache der Poesie“ zu erfüllen.

Im bereits angekündigten Beispiel, dem 37. Gedicht aus Derek Walcotts Gedichtband „Midsummer“, mit Schrotts Übersetzungen neben den Originaltexten 2001 vom Hanser-Verlag nachgedruckt, ist dieser Aspekt besonders anschaulich:

XXXVII

A trembling thought, no bigger than a hurt
wren, swells to the pulsebeat of my rounded palm,
pecks at its scratch marks like a mound of dirt,
oval wings thrumming like an panelled heart.
Mercy on thee, wren; more than you give to the worm.
I’ve seen that pitiless beak dabbing the worm
like a knitting needle into wool, the shudder you give
gulping that limp noodle, its wriggle of completion
like a seed swallowed by the slit of a grave,
then your wink of rightness at a wren’s religion;
but if you died in my hand, that beak would be the needle
on which the black world kept spinning on in silence,
your music as measured in grooves as was my pen’s.
Keep pecking on in this vein and see what happens:
the red skeins will come apart as knitting does.
It flutters in my palm like the heartbeat thudding to be gone,
as if it shared the knowledge of a wren’s elsewhere,
beyond the world ringed in its eye, season and zone,
in the radial iris, the targeted, targeting stare.

(Walcott 2001)

In Walcotts Gedicht sind die Momente des „Besonderen“ mehrfach auf verschiedenen Ebenen vorhanden. Es entsteht eine Spannung zwischen dem Zerbrechlich-Ephemeren des verletzten Zaunkönigs, der einen flüchtigen Gedanken symbolisiert, und der Beständigkeit der sich unaufhaltsam drehenden Erde; zwischen der Makroebene des Universums und des Jenseits (17) und der Mikroebene des pulsierenden Herzschlags des verletzten Vogels sowie in den Adern des lyrischen Ich; und in der Juxtaposition von Macht und Verletzbarkeit. Der ruhige, indifferente Blick des satten Vogels im Gegensatz zum panischen Zappeln des soeben verschlungenen Wurms, kommt besonders in den letzten, entgegengesetzten Adjektiven „targeted, targeting“ zum Ausdruck. Diese Spannung durchzieht das Gedicht: Die Form des Erdballs erscheint im runden Auge des Zaunkönigs (Verse 10, 18 und 19), im Bild des sich drehenden Kreisels (11-12) und in der heraufbeschwörten Schallplatte (12-13). Deren Farbe gibt die „schwarze Welt“ wieder, die auch einer postkolonialen Deutung unterzogen werden kann. Sie kann aber ebenfalls als Metapher für die Schwärze des Weltraums interpretiert werden, der sich – gleich der Schallplatte – um die Nadel dreht. Die Nadel findet sich in der Achse des Kreisels wieder, in der Stricknadel, deren Bewegung beim Stricken das Picken des fressenden Vogels sehr treffend evoziert (7), im Füller des lyrischen Ich und im Schnabel des Zaunkönigs selbst, der im Sterben auf die Rillen der hohlen Hand niedersinkt, wie die Nadel auf eine Schallplatte. Der angepickte Wurm wird mit den Kratzwunden und später mit den durchpulsten Blutgefäßen in der Hand des lyrischen Ich (2-3, 14) und mit den Wollsträngen (7, 15) bildlich gleichgesetzt.

Nun zu Schrotts Übersetzung:

XXXVII

Ein zitternder gedanke, nicht größer als ein verletzter zaunkönig
plustert sich auf zum pulsschlag meiner hohlen hand und peckt
auf ihre schwielen wie auf einen hügel staub, argwöhnisch;
die flügel, oval wie ein auf holz gemaltes herz, trommeln eintönig.
Gnade dir, zaunkönig, mehr als du sie dem wurm gewährst.
Ich sah wie dein unbarmherziger schnabel auf den wurm einfährt
wie eine nähnadel in wolle, den schauder der dich überkommt
wenn du diesen schlaffen faden verschlingst, sein sich winden
zum schluß, wie samen den der schlitz eines grabes verschluckt
dann das selbstgerechte blinzeln, eines zaunkönigs religionsempfinden;
stürbest du in meiner hand wäre dieser schnabel die nadel
auf der die schwarze welt sich wie eine schallplatte still weiterdreht
die musik in den rillen so gemessen wie die meines eigenen alphabets.
Peck weiter auf diese poetische ader, wer weiß was daraus entsteht:
der rote strang wird auseinanderfallen wie alles einfach gestrickte.
Der flattert in der hand wie der herzschlag schlägt, als wolle er betonen
daß er entkommen müsse, als würde auch er auf sein jenseits harren
seine ins auge gefassten anderweitigen welten, jahreszeiten und zonen
in der sternförmigen iris, ihrem anvisierten, visierendem starren.

Rein optisch fällt vielleicht als Erstes auf, dass Schrott (wie meistens in seinen eigenen deutschsprachigen Gedichten so wie im Englischen üblich) nur den Anfangsbuchstaben eines Satzes großschreibt. Da jedoch eine äquivalente orthografische Befremdung im englischen Text nicht vorhanden ist, baut Schrott hiermit ein neues Element in seine Übersetzung. Das etwas variierte Enjambement dient dem Reimschema, auch die Ergänzung „argwöhnisch“, das sich mit „zaunkönig“ (unrein) reimt, und die Übersetzung von „my pen“ als „meines eigenen alphabets“, wegen der umgebenden Endreime „-dreht“ und „entsteht“. Wirkungsvoll sind ebenfalls Schrotts Äquivalente für die Alliterationen im Vers 9.

Schrotts Entscheidung, den farblichen sowie formalen Vergleich der Flügelfedern mit der Maserung einer mit Holz vertäfelten Wand nur teilweise in seiner Übersetzung wiederzugeben („ein auf holz gemaltes herz“ vernachlässigt den Effekt der Vertäfelung, mit dem Walcott die Federreihung in den Zaunkönigsflügeln vergleicht) tut dem Phänomen des Enzensberger’schen „Besonderen“ keinen Abbruch. Allerdings ist der Effekt des „dabbing“ (tupfen) unmittelbar mit der Woll-Strick-Metapher verknüpft und dieser geht in der Übersetzung „einfährt“ (6) unter. Ähnlich ist aus der charakteristischen Bewegung einer Stricknadel diejenige einer Nähnadel geworden. Auch Schrotts expliziter Vergleich mit der „schallplatte“ (12) spricht das aus, was von Walcott nur bildlich angedeutet wird.

Oft kommt „das Besondere“ in sehr konzisen Darstellungen vor. Ein Beispiel finden sich bei Walcott in den Bildern des „heartbeat thudding to be gone“, wo sich die englische „-ing“-Form, gefolgt von einer Infinitivkonstruktion, hervorragend dazu eignet, in nur wenigen Worten das Ephemer-Gefährdete und gleichzeitig das Energetisch-Kraftvolle des flatternden Herzschlags zu evozieren. Darüber hinaus suggeriert Walcotts Original durch die Infinitivkonstruktion eine gewisse Schicksalsschwere – dass das Flattern des Herzens unmittelbar und gleichermaßen sowohl mit dem Leben als auch mit dem Sterben verbunden ist. Diese Verse übersetzt Schrott etwas freier, um dem Effekt in der deutschen Sprache möglichst nahe zu kommen.

Übersetzer oder Dichter? Eine Grauzone

Einige Abweichungen Schrotts evozieren besonders treffend die bildliche Verknüpfung von Mikro- und Makroebene und so Enzensbergers „Besonderes“, ohne Äquivalente im Originaltext zu haben. Die Übersetzung des „limp noodle“ als „schlaffen faden“ etwa erweist sich als klug, da der Faden mit der Strick- und Wollmetaphorik kohärent ist. In seiner Übersetzung der Verse 14-15 präsentiert Schrott eine explizite Deutung von Walcotts Text: Die Zweideutigkeit von „in this vein“ wird beibehalten in Schrotts Variante: „Peck weiter auf diese poetische ader“, auch wenn das Poetische in Walcotts Text durch den flüchtigen Bezug auf den Füller nur suggeriert wird. In Schrotts Variante sind die roten Wollstränge (15) nur noch im Singular vorhanden. Damit knüpft dieses Bild an die „poetische Ader“ direkt an und verbindet nicht nur das Auseinanderfallen (Walcotts Original entsprechend), sondern auch das Einfach-gestrickt-Sein – das bei Schrott neu dazugekommen ist – mit der Dichtkunst. Und mit der Wendung „einfach gestrickt“ führt Schrott in das Gedicht ein auf einer Doppeldeutung basierendes Wortspiel ein, die im englischen „knitting“ nicht vorhanden ist.

„Was nicht selber Poesie ist, kann nicht Übersetzung von Poesie sein“, konstatiert Enzensberger im „Museum“. Die weit verbreitete Annahme, man müsse Dichter sein, um Lyrik zu übersetzen, hat zum Beispiel James S. Holmes bestritten (Holmes 1988). Im Falle Raoul Schrott handelt es sich um den im Kontext der Lyrikübersetzung oft anzutreffenden Sonderfall des Übersetzers, der selbst auch Lyriker ist. In solchen Fällen verwischen die Grenzen zwischen dem Dichten und dem Übersetzen, oft bis an die Grenze der „Nachdichtung“, wo das Übersetzen von Gedichten anderer als Übung zur Erweiterung der eigenen sprachlichen Begabung dient (siehe hierzu ausführlich Greiner 2004 und Albrecht 2008). Schrotts Abweichungen vom Original dienen in den meisten Fällen dem „Besonderen“ im Sinne der poetischen Weltsprache: das Beschwören der globalen und lokalen Ebene, des Mikro- und Makrokosmos zugleich, der unmittelbaren Verbindung von Geist (hier: Zaunkönig) und Universum. So kann das „Besondere“ übersetzbar gemacht werden: in der Evozierung der primären Wahrnehmung, die, einmal sprachlich wachgerufen, an das appelliert, was sprachliche Grenzen überschreiten kann.

Bibliographie:

Albrecht, Jörn: Schriftsteller als Übersetzer. In: Ästhetik und Kulturwandel in der Übersetzung. Frankfurt a. M. 2008, 39-60.

Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Schriften, Bd. I, Frankfurt a. M., 1955, 40-54.

Enzensberger, Hans Magnus (Hrsg.): Museum der modernen Poesie. Mehrsprachige Ausgabe. Frankfurt a. M. 2002 [1960].

Greiner, Norbert: Übersetzung und Literaturwissenschaft. Tübingen 2004.

Hartung, Harald: Luftfracht. Internationale Poesie 1940-1990. Frankfurt a. M. 1990

Holmes, James S.: Translated! Papers on Literary Translation and Translation Studies. Amsterdam 1998.

Lamping, Dieter: Die Idee der Weltliteratur. Stuttgart 2010.

Levý, Jiri: Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung. Frankfurt a. M. 1969.

Reichert, Klaus: Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen. München 2003.

Schrott, Raoul: Die Erfindung der Poesie. Gedichte 1999

Schrott, Raoul: Tropen. Über das Erhabene. Frankfurt a. M. 2002 [München 1998].

Walcott, Derek: Mittsommer/Midsummer, üb. v. Raoul Schrott, München 2001.

Whorf, Benjamin Lee: Language, Thought, and Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. hrsg. v. John B. Carroll. Massachusetts 1956.