Der Traum der Guerilleros

Hannelore Schlaffer folgt der intellektuellen Ehe durchs 20. Jahrhundert

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang der 1970er-Jahre publizierten US-amerikanische Zeitschriften einen Cartoon, der eine Szene in einem südamerikanischen Land zeigte: Hinter einer Straßenecke hocken zwei schnauzbärtige Männer mit Sombreros auf den Köpfen, Patronengürteln um die Schulter gehängt und Waffen in den Händen. Augenscheinlich also zwei Guerilleros im Widerstand gegen eine Militärdiktatur. Ich wünschte, wir wären in den USA, träumt einer der beiden, während ihnen die Kugeln um die Ohren pfeifen, dort haben sie jetzt eine sexuelle Revolution. Nun dürften es wohl keineswegs zufällig zwei Guerilleros – und nicht etwa zwei Guerilleras sein, die von der ‚sexuellen Revolution‘ träumen. Denn es waren vor allem die Studenten und Kommunarden und nicht die Studentinnen und Kommunardinnen, die sich von ihr die Erfüllung ihrer Fantasien versprachen. Und tatsächlich waren es auch vor allem Männer, die sie vorantrieben und von ihr profitierten.

‚Sexuelle Revolutionen‘, oder besser gesagt, das Verlangen nach einer freizügigeren Sexualität und die entsprechenden Experimente waren dabei keineswegs so neu, wie manche Blumenkinder und Acid Heads in den Straße von San Francisco oder dem Peoples Park der Universität von Kalifornien in Berkeley geglaubt haben mögen. Um und nach der Wende zum 20. Jahrhundert, waren die diesbezüglichen Bestrebungen nicht weniger virulent als in den Swinging Sixties in Haight-Ashbury. Und so manche vergilbte Aufnahme eines ebenso nackten wie langhaarigen und bärtigen Revoluzzers, der vor dem Ersten Weltkrieg einen Freilandgarten auf dem Monte Verità umgräbt, könnte genauso gut einen amerikanischen Hippie zeigen, der in seiner Landkommune lieber fleißig Gras anbaut, statt in Südostasien die Körper getöteter Vietcong zu zählen.

Die Entwicklungen, welche die Vorstellungen und Versuche eines emanzipierten Sexuallebens, freier Liebe und gleichberechtigter Paarbeziehungen auf dem Weg vollzogen, der sie vom Monte Verità bis vors Tor der kalifornischen Landkommune führte, zeichnet Hannelore Schlaffer in ihrem jüngsten Buch anhand dreier Beispiele nach. Es trägt den Titel „Die intellektuelle Ehe“. Ein von ihr neugeschaffener Begriff, dessen Prägung sie überzeugend zu begründen weiß. „Intellektuell“ nennt die Autorin diese Art der Ehe, „weil die Partnerwahl und die Form des Zusammenlebens einem eigenen rational begründbaren Entwurf folgen, weil sie also aus einer Idee entstehen und fortleben und aus dieser Idee heraus Stabilität zu gewinnen hofft“. Zudem handele es sich bei ihr um eine „versprachlichte Beziehung“ der Eheleute. Ansonsten räumt Schlaffer ohne weiteres ein, dass sich für den in Rede stehenden Sachverhalt längst „praktischere“ Begriffe etabliert haben: „Lebensgemeinschaft, Paarbeziehung, Lebenspartnerschaft“. Und seit einiger Zeit werde mit dem „Glück der Singleexistenz“ ein „neues Lebensmodell“ propagiert.

Ihre Rechtfertigung schöpfte die intellektuelle Ehe aus der Negation der traditionellen Ehe, die zugleich ihren Horizont bildet. Beide Formen der Ehe beziehen der Autorin zufolge ihre Hoffnung aus dem Versprechen, den Eheleuten „Vertrauen, Liebe, gegenseitiges Verständnis, gemeinsame Arbeit, persönliche Erfüllung und Selbstverwirklichung“ zu garantieren. Das allerdings ist ein allzu idealisierender Blick auf die traditionelle Ehe. Denn den (zu verheiratenden) Frauen (und mehr noch ihren Eltern) ging es meist um die materielle Versorgung, dem Bräutigam um die stete sexuelle Verfügbarkeit einer Frau, eine kostengünstige Dienstmagd und um das Versprechen auf einen ‚Stammhalter‘. Idealisiert Schlaffer einerseits die traditionelle Ehe, so zieht sie andererseits die Haufrau zur Negativfolie heran, vor der es ihr gelingt, sogar so unterschiedliche Frauen wie Mary Wollstonecraft, George Sand und Franziska zu Reventlow unter dem Label „Suffragetten und Schriftstellerinnen“ zusammenzuzwingen.

Klingt es auf den ersten Seiten des Buches noch ganz so, als sei die intellektuelle Ehe eine Errungenschaft, die Anlass zum Jubeln und Frohlocken bietet, da sich in ihr „beide Partner emanzipiert haben“, so ernüchtert die weitere Lektüre doch ganz beträchtlich. Und bereits der auf die eben zitierte Stelle folgende Halbsatz deutet im Grunde schon auf diese Ernüchterung voraus, hebt er doch nicht nur hervor, dass sich Ehemann und -frau gemeinsam vom „Druck der Gesellschaft“ befreien, sondern betont auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede dieser Emanzipation. Denn während sich die Frau von „Unterwürfigkeit“ und „Unwissenheit“ befreit, so der Mann „von der Beherrschung der Frau und ihrer Belehrung“. Doch selbst das malt die unter dem Neologismus gefasste Beziehung noch zu rosig, wie sich nicht nur an der einen traditionellen, sondern vor allem an den zahlreichen ‚intellektuellen Ehen‘ des von Schlaffer ausführlich behandelten Psychoanalytikers und Kokainisten Otto Gross zeigt.

Bevor die Autorin aber überhaupt auf den sich als Matriarchatsverfechter gerierenden Womanizer zu sprechen kommt, weist sie darauf hin, dass die „Befreiung“ durch die intellektuelle Ehe für Frauen ein ganz anderes Resultat als für Männer zeitigte. Während sich letztere „weitere Rechte und ein neues Stück Freiheit“ eroberten sowie ihren „Horizont“ erweiterten, mussten die Frauen „ihr ganzes Wesen ummodeln“ – und zwar nach dem Modell des Mannes. Denn „die Gleichheit der Partner verlangt von der Frau Fähigkeiten und Haltungen, die bis dahin als typisch männlich galten: Entscheidungen, die vom Kopf, nicht vom Herz getragen werden, Weltkenntnis, künstlerisches Vermögen oder wissenschaftliches Denken, öffentliches Auftreten, Egoismus und soziale Kälte.“ Kurz, „die intellektuelle Ehe wird zwischen zwei männlichen Geistern geschlossen, von denen der eine weiblichen Geschlechts ist“, wie die Autorin pointiert formuliert. Doch selbst das mag in manchen Ohren noch nicht so schlecht klingen. Auch nicht, dass die intellektuelle Ehe die traditionelle transzendiert, indem sie von der „Libertinage“ die „erotische Befriedigung geradezu als ihr erstes Gebot“ übernimmt. Verräterisch ist allerdings schon, dass ihr die „sexuelle Freiheit eines jeden Partners als höchste Leistung“ gilt. Welchem Geschlecht das eher zupass kam, ist nicht schwer zu erraten. Ebenso wenig, wer die „schwere Last einer Vereinbarung des Unvereinbaren“ zu tragen hatte, „die eine Verbindung zwei Menschen aufbürdet, in der die Dauer der Liebe sich mit der Freiheit zur Untreue paart“ und „in der die individuelle Zuneigung mit der Leidenschaft zu einem weiteren Partner übereinkommen soll“.

Sollten jedoch Zweifel bestehen, welchen Geschlechts die Lastträgerin ist, räumt sie der erste der drei Hauptabschnitte verlässlich aus. Er ist dem bereits erwähnten Otto Gross gewidmet, der gemeinsam mit Jean-Paul Sartre und Bertolt Brecht das Dreigestirn der männlichen Hauptgestalten des vorliegenden Buches bildet. Die „Abgebrühtheit“ des letzteren umreiße die „Geschichte der intellektuellen Ehe“ in der sich stets Frauen bereit fanden, „um auszuführen, was Männer erdacht hatten“. Brecht, der „im Auftrag der Geschichte“ zu handeln glaubte, verlangte von ihnen, dem historischen Auftrag und somit ihm zu dienen, „ganz gleich, ob das für sie ein Opfer oder ein Gewinn war.“

Der erste Hauptabschnitt steht unter der Überschrift „Versuch: Heidelberg“. Damit führt er den Namen der Stadt im Titel, in deren Salons Gross Gäste und GastgeberInnen mit dem aus der Schwabinger Boheme eingeschleppten „Virus“, der „Diskussion über die Sexualität“, infizierte. Einer dieser Salons – und nicht der unbedeutendste – wurde von dem Ehepaar Marianne und Max Weber geführt. Es war eben dieser, in dem auch Gross mit Vorliebe verkehrte. Dort und anderswo machte er „die Befreiung der Sexualität und die Auflösung der traditionellen Ehe zu seiner Lebensaufgabe, nicht etwa nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis“, wobei sein Konzept eine über die „Befreiung der Sexualität“ hinausgehende „moralische Verantwortung“ nicht vorsah, wie Schlaffer zurückhaltend formuliert.

Nicht nur zurückhaltend, sondern nachgerade irreführend ist ihre Rede vom „selbstzerstörerischen Liebesleben des Anarchisten Gross“. Denn sein Sexual-,  nicht Liebesleben (ein solches besaß er vielleicht gar nicht), war vor allem ‚frauenzerstörerisch‘ und ließ links und rechts seines Weges je eine weibliche Leiche zurück. Schlaffer aber scheint überhaupt nur von einer toten Frau im Leben von Gross zu wissen und formuliert wiederum sehr verharmlosend: „Auf dem Monte Verità verhalf er einer Patientin, die zugleich seine Freundin war, zum Selbstmord.“ Tatsächlich waren es zwei Frauen, Sofie Benz und Lotte Chattemer, die er zunächst schwängerte, um sie anschließend zu Tode zu bringen, indem er ihnen den Suizid anriet und dazu auch gleich das Gift in die Hand drückte. Eine dritte, Regina Ullmann, widerstand seinem Ansinnen.

Und bei den „glühenden Liebesschwüren“, die Schlaffer in den Briefen von Gross an Frieda von Richthofen glaubt entdecken zu können, handelt es sich vielmehr um gewissenlose Manipulationsversuche. Doch erkennt auch Schlaffer, dass „all die hohen Worte der Leidenschaft“, die Gross seinen Geliebten schrieb und wohl auch ins Ohr flüsterte, „eigentlich gar nicht die Geliebte meinen“. Denn er spricht letztlich weder von ihnen oder zu ihnen, sondern „feiert“ vielmehr „ihre vorhersehbare Wirkung auf sich, schwärmt von und für sich selbst“ und nutzt die „als Lebensspenderin beschworene“ Frau als schnöde „Naturressource“. So ist es. Dass er sie dabei allerdings als „Engel“ sah, wie Schlaffer annimmt, ist wenig wahrscheinlich. Engel verführt man weder noch treibt man sie in den Suizid.

Kaum weniger verharmlosend als die Darstellung der Rolle von Otto Gross beim Suizid von Chattemer und Benz ist es, wenn Schlaffer im Zuge ihrer Ausführungen über Eifersucht beiläufig erklärt, „nicht einmal Otto Gross ist frei davon“. Tatsächlich brannte er sogar derart vor Eifersucht, dass sein Genosse Mühsam um sein Leben fürchtete, nachdem er und Gross’ Ehefrau Frieda eine sexuelle Beziehung begonnen hatten.

Lange klingt Schlaffers Haltung gegenüber Gross allzu verständnisvoll. Erst langsam findet sie zu klareren Worten über diesen misogynen Casanova, der seine sexuelle Manie hinter Parolen von der sexuellen Befreiung der Frau und Matriarchatspropaganda zu verbergen suchte.

Vom sich nicht zuletzt um Otto Gross und sein promiskuitives Sexualleben drehenden „Weberschen Kreis“ in Heidelberg zieht Schlaffer eine Verbindung zu dem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl berühmtesten Pariser Paar: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. In der Zwischenzeit, so die Autorin, habe sich eine Entwickung vollzogen, „in der die Frauen neben und mit den Männern zu handeln gelernt hatten, und somit „gleichwertige, intellektuelle Partnerinnen“ geworden waren. Das „gleichberechtigte, unverheiratete und unzertrennliche“ Paar de Bauvoir/Sartre habe einen „gemeinsamen Entwurf“ gelebt, der nicht den „gesellschaftlichen Erwartungen“, sondern vielmehr dem „Charakter“ der beiden folgte und eine „verlässliche Liebe“ vorsah, „die mit freier Liebe gepaart sein sollte“. Eine „Treue“, die den „Seitensprung“ nicht nur „erlaubte“, sondern „auch die Liebe des Partners zu anderen liebte.“ In dieser „intellektuell-erotischen Monade, zu der sich das Paar vereinigt“, wurden Dritte zu „Spiegeln“ des „doppelgesichtigen“ Paares funktionalisiert, in deren Sexualität sich die eigene reflektierte. Denn auch wenn de Beauvoir und Sartre diesen oder diese Andere vielleicht nicht unbedingt immer selbst liebten, so pflegten sie doch häufig sexuelle Kontakte zu ihnen.

Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass sich Schlaffer mehr für de Beauvoir interessiert als für Sartre, wofür es durchaus gute Gründe geben mag. Dabei fällt ihr Blick auf sie auch kritischer aus. So habe de Beauvoir bei allem „Gefallen“, den sie an ihrem „Spiel mit Menschen“ gefunden habe, ihre „Sinnlichkeit“ ähnlich wie Gross instrumentalisiert und ihre „Erotomanie“ einer „gesellschaftlichen Mission“ unterworfen. Dabei verstanden beide, Beauvoir und Sartre, ebenso wie zuvor schon Gross ihr „erotisches Experiment als Erlösungstat“, jedoch sei die Frau bei ihnen anders als bei diesem nicht mehr die zu Befreiende, sondern als bereits Befreite selbst „an der Befreiung beteiligt“.

Für die Lesenden gewinnbringend sind Schlaffers Darlegungen zu de Beauvoirs Roman „Sie kam und blieb“, den sie einer ausführlichen und genauen Lektüre unterzieht, ohne den „philosophischen Bildungsroman“ allerdings kurzerhand autobiografisch zu lesen.

Etwas merkwürdig mutet hingegen ihre mehrfache Betonung von de Beauvoirs Distanz gegenüber „der feministischen Bewegung“ an, zumal diese Schlaffer zufolge darin begründet liegt, dass de Beauvoir die „Versöhnung der Geschlechter“ und die „Einrichtung eines herrschaftsfreien Zusammenlebens“ anstrebte. Gerade so, als sei dies mit den Anliegen der in sich ja alles andere als einheitlichen feministischen Bewegung schlechthin und grundsätzlich unvereinbar. Wenn Schlaffer weiter schreibt, de Beauvoir habe sich vom Feminismus „distanziert“, „um Partisanin einer Emanzipation zu werden, für die Männer nicht ganz so viel zahlten wie Frauen“, so glaubt man, eine leise Kritik herausklingen zu hören –, als sei die Autorin des „anderen Geschlechts“ hinter den Forderungen späterer Frauenrechtlerinnen zurückgeblieben.

Zwar gilt Schlaffers Hauptaugenmerk Gross, de Beauvoir und Sartre sowie Brecht, doch unternimmt sie auch einen Ausflug in die Welt der Ehe(bruchs)romane mit etwas größeren Abstechern zu George Eliot, Lew Tolstoi, Friedrich Schlegel und Nikolai Tschernyschewski. Dabei hat sie die zentralen ProtagonistInnen ihres Buches keineswegs zufällig gewählt. Zumindest vom polygamen Gross zu dem offenen Paar Beauvoir/Sartre zieht sie eine durchaus nachvollziehbare Entwicklungslinie. Während ersterem Sexualität ein „Mittel“ und die Frau das „Medium“ zur Weltveränderung war, schufen de Beauvoir und Sartre „ein ganzes System gesellschaftlicher Begriffe, um mehr zu verändern als nur die Konstellation eines Paares“, wie Schlaffer ein wenig doppeldeutig formuliert. Mit dem Pariser Paar lässt die Autorin die dreistufige „Emanzipationsgeschichte der intellektuellen Ehe“ enden, die zur Zeit der Französischen Revolution mit der romantischen Liebe als „erstem Widerstand gegen die traditionelle Ehe“ ihren Anfang genommen habe, gefolgt von der im 19. Jahrhundert erhobenen Forderung, die „Bindung aus gegenseitiger Neigung“ bei Bedarf wieder scheiden lassen zu können. Im 20. Jahrhundert fand sie mit der Utopie „völliger Freiheit“ auch verheirateter Paare ihren Abschluss.

Die intellektuelle Ehe, resümiert Schlaffer, habe sowohl die „Möglichkeiten des Glücks wie des Unglücks“ gemehrt. Doch vielleicht ist das heute gar nicht mehr so wichtig. Denn schon seit der von den südamerikanischen Cartoon-Guerilleros so beneideten ‚sexuellen Revolution‘ in den ‚westlichen‘ Metropolen ist sie „in die serielle Monogamie übergegangen“. Überhaupt ist die Ehe nur noch eine „Option“ unter vielen, da alle „Funktionen“, die vor Zeiten nur sie erfüllen konnte, nunmehr „ausgelagert“ sind.

Titelbild

Hannelore Schlaffer: Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236547

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