Das Buch als Labyrinth

In Jonathan Lethems Roman „Chronic City“ wird Manhattan zum ultimativen Projektionsraum

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Stadt als Labyrinth“ heißt der Film, der den Helden von Jonathan Lethems Roman „Chronic City“ gleich zu Beginn der Geschichte veranlasst, seinen üblichen Müßiggang als Kinderstar im Ruhestand kurz zu unterbrechen. Chase Insteadman soll Audiotexte für eine DVD-Rekonstruktion des „verschollenen“ Film noir aufnehmen. Zustande gekommen ist das kurze Engagement – für ihn eine „exzentrische Gefälligkeit“ – auf einer Dinnerparty, wo er der Produzentin begegnete. Weder von dem Film noch von dessen Regisseur hat er je gehört (beide existieren auch nur in der Romanwelt), aber Arbeitswelten faszinieren ihn, als „Schnittstellen, an denen Manhattans Fassade der praktischen Realität wich“. Bei dieser Stippvisite lernt er den exzentrischen Ex-Rolling-Stone-Kritiker, Ex-Plakatkünstler und notorischen Kiffer Perkus Tooth kennen, eine Begegnung, die Chase in Labyrinthe ganz eigener Art führen wird, geistige Welten, in denen Realität und Fiktion, Paranoia und Erkenntnis aufs Engste miteinander verwoben sind.

Diese kurze Einführung offenbart auch schon die psychosoziale Verfassung des Helden, der in seinem ganzen Leben quasi nichts anderes getan hat, als sich „vor einem normalen Job zu drücken“, und mit seinem „gemäßigten Charisma“ als „gerngesehene Tischdekoration“ bei den Abendgesellschaften der Oberschicht fungiert – was er allerdings selbst mit milder Selbstironie zugibt. Was ihn, neben dem künstlerischen Touch als (Ex-)Schauspieler, für die High Society der Upper East Side so interessant macht, ist die tragische Liebesgeschichte, die die Klatschpresse füllt und deren passiver Protagonist Chase ist: Seine Verlobte, die Astronautin Janice Trumbull, treibt in einem manövrierunfähigen Raumschiff im Weltall, von einem chinesischen Minengürtel an der Rückkehr gehindert, und schickt ihm – über die Boulevardpresse – herzzerreißende Liebesbriefe. Ein Umstand, der Chase insgeheim seltsam unwirklich erscheint.

In dieser gepflegten Routine sorgt Perkus Tooth für mehr als nur eine willkommene Abwechslung, mit seiner intellektuellen Manie, seiner Paranoia und den täglichen Kiffexzessen ist er der Gegenpol zur gepflegten Langeweile der Reichen und Mächtigen – und gehört doch auch zum Kosmos Upper East Side in einem imaginären Manhattan, das wie die sagenhafte Insel Avalon allmählich im Nebel beziehungsweise einer grauen Wolke versinkt (zumindest die Südspitze mit ihren Banken und Bankern). Chase lernt die Ghostwriterin Oona Laszlo kennen (in die er sich trotz seiner kosmischen Verlobten verliebt) und den ehemaligen radikalen Anarchisten Richard Abneg, der heute politisch auf der anderen Seite steht und Medienkampagnen für den Bürgermeister führt – beide auf ihre Weise Produzenten simulierter Welten und perfekte Gegenüber für Chase, den laut Perkus „perfekten Avatar für die Virtualität der Stadt“.

In Chronic City wimmelt es vor Verschwörungstheorien, die dann von der „Realität“ noch übertroffen werden, gezielt gestreuten Gerüchten und gesteuerten Mythen. In Lethems Manhattan, einer Art gemäßigtem Gotham City, treibt ein riesiger Tiger sein Unwesen und hält die Bewohner dank immer neuer unerhörten Schlagzeilen auf Trapp – oder handelt es sich doch um eine Tunnelvortriebsmaschine, im Einsatz für den lange geplanten Bau einer neuen U-Bahnlinie? Hier fressen sich postmoderne Krater als Kunstaktionen in die Erde – oder sind doch Mittel einer rabiaten Stadtplanung? Und zwischen Dekadenz und Weltuntergangsszenarien schickt Lethem seine Protagonisten auf die Suche nach einer virtuellen Version des heiligen Gral.

So wie sich der Held in den wilden Theorien von Perkus Tooth verliert, der es unter anderem liebt, über Filme zu reden, die es nicht gibt (und in denen bevorzugt Marlon Brando mitspielt, auch wenn dieser Gerüchten zufolge längst tot ist), führt der Autor seine Leser in ein Romanlabyrinth aus Popliteratur, Science-Fiction, Großstadtkrimi und Computerspiel, mit Manhattan als ultimativem Projektionsraum. Ein Manhattan, das zwar in der (nahen) Zukunft liegt, in dem aber die Twin Towers noch zu stehen scheinen, auch wenn sie schon viele Monate ungesehen im grauen Nebel liegen.

„Chronic City“ ist ein verrücktes, geistreiches, witziges, unterhaltsames Buch, mit einer solchen Menge an kulturellen Bezügen, dass ein einzelner Leser sie auf keinen Fall alle entschlüsseln kann. Auf jeden Fall steigert es das Vergnügen, den ein oder anderen Namen (zum Beispiel „Janice Trumbull“), Film oder Buchtitel zu recherchieren. Wobei man nicht immer fündig wird, einiges ist schlicht „erfunden“.

Titelbild

Jonathan Lethem: Chronic City. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011.
301 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783608501070

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