Genieße froh, was du hast

Zum 70. Todestag Franz Hessels ist sein Buch „Spazieren in Berlin“ unter dem Titel „Ein Flaneur in Berlin“ wieder aufgelegt worden

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lernt man eigentlich (s)eine Stadt am Besten kennen? Vielleicht indem man eine Rundfahrt macht? Der Ich-Erzähler in Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ (1929) nimmt an einer solchen durch die damalige Reichshauptstadt teil. Begeistert ist er aber nicht gerade, wird ihm doch von der Route, die der Touristenbus nimmt und dem Fremdenführer, der das „Sightseeing“ kommentiert, genau vorgegeben, was und vor allem wie er die vielen Sehenswürdigkeiten Berlins zu sehen hat.

Auch in den Schlössern und Museen scheint es ihm nicht besser ergangen zu sein: „Meist wird man geführt, und was der Führer erzählt, steht besser, prägnanter und wissender im Baedeker. Und was das Schlimmste ist, das Tempo der Betrachtung hängt ganz von ihm und seiner Herde ab. Wenn man nicht Gelegenheit zu einer Sonderführung bekommt, bleibt einem also nichts anderes übrig, als auf gut Glück vor einem schönen Möbel oder Bilde zu verweilen, während der Fremdenwärter sein Sprüchlein über den ganzen Saal aufsagt.“

Der Ich-Erzähler bricht seine Unternehmung jedoch nicht ab. Es reizt ihn im Gegenteil zu erfahren, wie die auswärtigen Besucher die Stadt kennen lernen, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Darum bleibt er bei den anderen Teilnehmern der Busfahrt und spielt weiterhin die Rolle des angeblichen Fremden. Was er genau möchte, äußert er zu Beginn des Buches, das zum 70. Todestag des Autors unter dem Titel „Ein Flaneur in Berlin“ wieder aufgelegt worden ist: „Ich möchte beim Ersten Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden.“

Hessels Alter Ego durchstreift dafür die gesamte Stadt, ihre Innen- wie Außenbezirke. Das Flanieren passt auch sehr viel besser zu seiner Absicht, in Berlin auf Entdeckungsreise zu gehen. Er möchte nicht nur die zentralen Ecken der Hauptstadt mit ihren repräsentativen Straßen und Prachtbauten erkunden, sondern auch ihre abseits gelegenen, weniger schönen und ärmlichen Teile besuchen und beschreiben.

„Ein Flaneur in Berlin“ trägt auch in der Erstausgabe von 1929 den bezeichnenden Untertitel „Ein Lehrbuch der Kunst / in Berlin spazieren zu gehn / ganz nah dem Zauber der Stadt / von dem sie selbst kaum weiß“. Hessel macht vor, wie man dem Zauber nahekommt: Der Ich-Erzähler nutzt die Gelegenheit, beim Flanieren zugleich „sehen zu lernen“ und sich – quasi in Umkehr von Hessels Ausspruch „Genieße froh, was du nicht hast“ – an dem zu erfreuen, was er an der Stadt hat.

Dabei vergleicht er gelegentlich Berlin mit Paris, wo der 1880 geborene Autor vor dem Ersten Weltkrieg einige Jahre gelebt hat. Seinen Ich-Erzähler lässt Hessel aussprechen, was er bedauert: Dass die Berliner im Grunde zu wenig aus sich und ihrer Stadt machen würden, dass es ihnen an Leichtigkeit, Flair und Muße fehlte: „Sicherlich ist in andern Städten der Lebensgenuß, das Vergnügen, die Zerstreuung bemerkenswerter. Dort verstehn es vielleicht die Leute, sich sowohl ursprünglicher als auch gepflegter zu unterhalten. Ihre Freuden sind sichtbarer und schöner. Dafür hat aber Berlin seine besondere und sichtbare Schönheit, wenn und wo es arbeitet.“

Dennoch ist „Ein Flaneur in Berlin“ in erster Linie eine Liebeserklärung Hessels an seine Heimatstadt. Diese verlässt der deutsch-jüdische Autor erst spät in der NS-Zeit, im Herbst 1938, auf Drängen seiner Frau und seiner Freunde. Dominiert ein ironischer Tonfall einen Teil des Buches, herrscht in anderen Passagen eine Stimmung, die sentimental und traurig ist – so wenn der Ich-Erzähler von seinem Besuch im Alten Westen berichtet, wo er aufgewachsen ist. Dann erinnert er sich an die Orte, an denen er sich gern aufgehalten hat, und spricht auch von Moden und Trends jener Epoche.

„Ein Flaneur in Berlin“ verschränkt so mehrere Themen miteinander: Neben den Erinnerungen des Ich-Erzählers an seine Kindheit und Jugend machen die Beobachtungen im Berlin der Zwischenkriegszeit daraus auch eine Momentaufnahme der Stadt in den „Roaring Twenties“. So besucht er neben Schlössern und Museen auch Amüsierbetriebe und Wochenmärkte, Fabriken und Warenhäuser, Modeläden und Verlage. Dabei hebt er den Fleiß und die Hektik, die Feierlaune der „Girls“ und das Elend in den ärmeren Bezirken, aber auch den raschen Wandel, die Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem, hervor.

Das Buch ist allerdings noch mehr, nämlich ein literarischer Reiseführer durch die Geschichte der Stadt. Der Ich-Erzähler zitiert bei passender Gelegenheit einheimische Autoren wie Friedrich Nicolai, Felix Eberty und Gustav Langenscheidt oder „zugezogene“ Schriftsteller wie Theodor Fontane aus ihren Berlin-Büchern und macht durch Vergleiche auf die Konstanten und Veränderungen in der Metropole aufmerksam.

Illustriert wird dieses „Bilderbuch in Worten“ in der vorliegenden Ausgabe von Aufnahmen des Fotografen Friedrich Seidenstücker (1882-1966), die dieser in den 1920er-Jahren und kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Hauptstadt aufgenommen hat. Doch auch ohne sie gelingt es dem neugierigen und empathischen Ich-Erzähler, die verborgenen Schönheiten Berlins „aufzudecken“ und so der Stadt den Zauber zu verleihen, „von dem sie selbst kaum weiß“.

In seinem „Nachwort an die Berliner“ sagt der Ich-Erzähler noch einmal, wie dies genauer vonstatten gehen soll: „Wir wollen es uns zumuten, wir wollen ein wenig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.“

Kein Bild

Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin. Bilderbuch in Worten.
Mit Fotografien von Friedrich Seidenstücker; herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Moses-Krause.
Verlag Das Arsenal, Berlin 2011.
280 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783931109950

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