Unterstützung für den Übertreibungskünstler

Uwe Schütte kann in seiner Einführung dem Thomas-Bernhard-Konformismus nicht entkommen

Von Thorsten CarstensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Carstensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Texte Thomas Bernhards ihren besonderen Reiz nicht zuletzt daraus beziehen, dass sie sich verlässlich selbst in Frage stellen, darin sind sich lesende Allgemeinheit und Literaturwissenschaft einig. Für die Forschung bedeuten Bernhards komplexe Sprachspiele aus bewussten Übertreibungen, inneren Widersprüchen und ständiger Ironisierung eine ansehnliche Herausforderung. Uwe Schütte gelangt in der Einleitung seines Buches gar zu der Einschätzung, dass eine Literaturwissenschaft, die sich dem Werk Bernhards „mit den unterschiedlichsten Interpretationsmethoden“ in der Hoffnung auf Erkenntnis annähere, unweigerlich „in Sackgassen“ enden müsse: „In Bernhards poetischer Welt“, fasst Schütte seine Bedenken zusammen, „wo es keine diskursive Wahrheit geben kann, muss sich daher die Germanistik ihre geisteswissenschaftlichen Zähne ausbeißen, will sie bis zum vermeintlichen Kern vordringen“.

Da sich Bernhards Texte ohnehin „gegen ihre Lektüre sperren“, hat Schütte für sich offenbar die Entscheidung getroffen, zur Schonung des geisteswissenschaftlichen Beißwerkzeugs lieber gleich weitgehend auf das methodische Inventar der Literaturwissenschaft zu verzichten. Damit verfällt er dem in der Forschung verbreiteten „Bernhard-Konformismus“ – jener Tendenz also, das Werk des österreichischen Schriftstellers vorwiegend durch dessen Selbstaussagen zu erklären. Auch die kursorischen Verweise auf Theoriemodelle von Theodor W. Adorno, Jean Baudrillard und anderen können daran wenig ändern. Phasenweise liest sich dieses chronologisch gegliederte „Studienbuch“ wie eine Streitschrift, die alle Einwände, die Publikum, Kritik und Forschung je gegen Bernhards Werk vorgebracht haben, zu widerlegen versucht. Die kritische Distanz des Literaturwissenschaftlers bleibt dabei auf der Strecke.

Dass Schütte seiner Bernhard-Lektüre selbst nicht ganz über den Weg traut, merkt der Leser bereits in der Einleitung des Bandes. Seine Vermutung, Bernhard habe sich im Schreiben „aus dem Status des traumatisierten Opfers zu befreien“ versucht und durch seine öffentlichen Schimpftiraden gegen Vertreter der Macht „vorübergehend das befreiende Gefühl auskosten [können], ein aggressiver Täter zu sein“, relativiert er sofort mit dem Hinweis, sich unter Umständen im Bereich der „psychologischen Spekulationen“ zu bewegen. Leider hält die Wirkung dieses Aufrufs zur Sachlichkeit nicht lange vor. In den Folgekapiteln ist Schütte zu sehr darum bemüht, hinter der Figurenrede „camouflierte Botschaften Bernhards“ zu entdecken. Wer wie Schütte das Werk Bernhards konsequent als „eine zwischen Literatur und Leben oszillierende Unsicherheitszone“ deutet, versäumt die Chance, den Inhalt der Texte einmal unabhängig von der Frage nach der Intention ihres Autors zu untersuchen.

Fragwürdig wird Schüttes Vorgehen vor allem dann, wenn er sich dazu veranlasst sieht, Bernhards Kritik an der österreichischen Gesellschaft zu bekräftigen, indem er sich selbst auf die Seite des Kulturpessimismus schlägt. Seine Analyse von „Auslöschung“ endet mit der Feststellung, dass im 21. Jahrhundert die im Roman angeprangerten „neuen Barbaren“ allerorts „an den Schalthebeln der Macht“ säßen. Die beißende Kritik des Protagonisten von „Auslöschung“ sieht Schütte „leider“ bestätigt: „Welche Zerstörungen die Ökonomisierung der Gesellschaft seitdem angerichtet hat, bedarf keiner Erläuterung. Die Verheerungen, die der immer mehr entfesselte Kapitalismus insbesondere im Bereich von Geist, Kultur und Bildung anrichtet, dürften bald schon so irreversibel sein wie die Diskreditierung Wolfeggs.“

Schüttes Buch hat durchaus seine Stärken. Obgleich der Verlag etwas mehr Sorgfalt auf die Überprüfung der Zeichensetzung hätte verwenden können, ist der Band größtenteils flott geschrieben. Bernhards Werk „als einen verschlungenen, organischen Gesamttext aufzufassen, in dem Korrespondenzen, Überlappungen, Wiederholungen und Kontinuitäten die einzelnen Texte transzendieren“, erweist sich als überzeugender und für den Bernhard-Novizen hilfreicher Ausgangspunkt. Einleuchtend ist zum Beispiel Schüttes These, die späten Romane von „Beton“ (1982) bis „Auslöschung“ (1986) seien das Ergebnis einer „Tendenzwende“ in Bernhards Schreiben. Im Gegensatz zu den frühen Prosatexten der „prä-autobiografischen Phase“, die sich durch eine meist artifizielle Figurenanlage auszeichneten, entwerfe das Spätwerk Protagonisten, die psychologisch plausibel und in einer konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit verankert seien. Gekonnt skizziert Schütte auch die zentralen Themen, auf die Bernhards Werk immer wieder zuläuft. So zeigt er auf, wie eines der Hauptanliegen des selbsternannten „Landwirts“, der sich auf seinem Vierkanthof abseits der kulturellen Zentren eingerichtet hatte, darin bestand, durch geradezu karnevalistisches Erzählen und „rhetorische[n] Grobianismus“ nicht nur die herrschenden Systeme und Hierarchien zu durchbrechen und führende Politiker der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern auch die „alten Meister“ von ihren Sockeln zu holen: „Bei Bernhard wird das Hehre und Heilige profaniert, das Abgehobene auf seine allzu banale Grundlage heruntergezogen und das Mustergültige durch groteske Parodie entstellt“.

Trotz bewusster Anbindung an die österreichische Tradition – etwa das Wiener Volkstheater und die Schriften eines Karl Kraus – war Bernhard kaum etwas suspekter als die von den Feuilletons betriebene Verehrung sogenannter Geistesgrößen. Ironisch mutet es deshalb an, dass der Suhrkamp Verlag mit seiner auf 22 Bände angelegten Werkausgabe den Autor endgültig und unwiderrufbar in den Rang eines Klassikers gehoben hat. Auch hier kann sich Schütte der Bewertung allerdings nicht enthalten, wenn er davon spricht, dass der zu Lebzeiten als Nestbeschmutzer angefeindete Autor nach seinem Tod „in einer bezeichnend österreichischen Vereinnahmungsstrategie“ zum Nationaldichter ernannt worden sei. Dass in sämtlichen Bänden der Werkausgabe „die Signets von Bundeskanzleramt und Kultusministerium prangen“, wie Schütte formuliert, sei Bernhard dann aber „zumindest erspart“ geblieben.

Zu den wiederkehrenden Konstellationen, die Schütte dem „System von motivischen und thematischen Zusammenhängen“ zurechnet, gehört der Bruch mit dem Erbe der Vorfahren, welches in Texten wie „Ungenach“ (1968) und „Korrektur“ (1975) als Liquidierung des Familienbesitzes gestaltet ist. Schütte erläutert diese Thematik vor dem Hintergrund einer möglichen Kompensationsleistung des Autors. Dass die Charaktere in seinen Werken ihr materielles Erbe ablehnen, sei demnach als eine Art „Heimzahlung“ zu verstehen, mit der Bernhard das eigene frühkindliche Trauma des Ausgestoßenseins verarbeite. Auch die erzählerischen und stilistischen Eigenarten der Texte – der manische Wiederholungszwang, die ununterbrochene Rede, der permanente Hang zu Übertreibungen und boshafter Kritik – führt Schütte auf die Kindheitserfahrung von Krankheit und Verlust zurück: „Aus den Schimpfreden spricht eine infantile Angst vor einer als übermächtig und bedrohlich empfundenen Welt, eine Angst, die aus einer Kindheit stammt, deren seelische Beschädigungen noch durch die wortmächtigste Rede nicht ungeschehen gemacht werden können.“

Ebenso seien Bernhards Bühnenfiguren in einer übermächtigen traumatischen Vergangenheit gefangen, „die das Jetzt infolge der unverarbeiteten existentiellen Erschütterung bestimmt“. Der Kontrollwahn, mit dem diese Figuren ihre Umgebung häufig tyrannisieren, könne als „Kompensation frühkindlicher Störungen“ begriffen werden, „soll doch die Verfügungsgewalt über andere die fehlende Geborgenheit im Kontakt zur Mutter kompensieren“. Indem Schütte, wie nicht wenige andere Bernhard-Forscher, die traumatischen Erfahrungen des Autors zur zentralen Interpretationskategorie erhebt, paraphrasiert er letztlich nur Bernhard selbst. Dieser hatte schließlich schon in „Verstörung“ (1967) einen Hinweis für die Deutung seiner Werke gegeben, den die Forschung bis heute immer wieder dankbar aufnimmt: „Immer könne man von später in einem Menschen eingetretenen Katastrophen auf frühere, meistens sehr frühe Schädigungen seines Körpers und seiner Seele schließen.“

Titelbild

Uwe Schütte: Thomas Bernhard.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2010.
126 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783825233853

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch