Bleibt Suhrkamp gleich Suhrkamp?

Raimund Fellinger hat einen Jubiläumsband zum 60-jährigen Bestehen des Verlags herausgegeben

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie könnte ein Verlag seine sechzigjährige Erfolgsgeschichte besser feiern als durch 60 wechselseitige Porträts seiner Autorinnen und Autoren? Gleich gar wenn dieser Verlag den Namen Peter Suhrkamps trägt und geprägt wurde durch einen langjährigen Leiter Siegfried Unseld, der nicht lediglich Bücher, sondern eben: Autoren verlegen wollte. Das von Unseld verfolgte verlegerische Prinzip bestand bekanntlich darin, Schriftsteller nicht allein an seinen Verlag zu binden, sondern so aufeinander zu beziehen, dass im Ergebnis jene „Suhrkamp-Kultur“ (George Steiner) entstand, die das literarisch-intellektuelle Erscheinungsbild der (alten) Bundesrepublik maßgeblich mit geprägt hat.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben sich allerdings etliche Koordinaten verschoben, die dem Suhrkamp Verlag jahrzehntelang sein unverwechselbares Profil verliehen hatten; personell, lokal und auch programmatisch. Die Frage, die der vorliegende Band (unter anderem) zu beantworten hat, lautet deshalb: Was ist nach Unselds Tod und der Übernahme der Verlagsleitung durch dessen Witwe Ulla Unseld-Berkéwicz, nach dem Ausscheiden des noch von Unseld eingesetzten Verlagsleiters, nach dem Verkauf der Archive nach Marbach und nach dem Umzug vom Main an die Spree vom ‚alten‘ Suhrkamp Verlag noch übrig geblieben? Die Antwort – das sei vorweggenommen – dürfte den Lesern dieser klug disponierten Anthologie nicht schwer fallen: erstaunlich viel.

Das Spiegelbildverfahren des Buches macht es möglich, dass einzelne Autoren mehrmals auftreten, als Laudator und als Porträtierter. Zwanzig Verfasser und zwei Verfasserinnen sind in den Genuss dieser Doppelpräsenz gekommen. Sie dürfen sich zum kleinen Kreis zählen, dem der Suhrkamp Verlag einen wichtigen Teil seiner Identität verdankt. Der Vollständigkeit halber seien sie hier genannt. Sowohl porträtiert als auch selbst zu Wort gekommen sind: Theodor W. Adorno, Ingeborg Bachmann, Roland Barthes, Walter Benjamin, Thomas Bernhard, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Jacques Derrida, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Rainald Goetz, Jürgen Habermas, Peter Handke, Hermann Hesse, Uwe Johnson, Mario Vargas Llosa, Friedericke Mairöcker, Ralf Rothmann, Arno Schmidt, Gershom Scholem und Peter Weiss. Gleichfalls doppelt vertreten ist der Verlagsgründer Peter Suhrkamp; einmal als Laudator für Samuel Becketts „Molloy“ und im Bericht von Max Frischs letztem Besuch im Suhrkamp’schen Sterbezimmer.

So vertraut der Reigen der großen Suhrkamp-Namen insgesamt wirkt, einige Auftritte und Nicht-Auftritte verdienen besondere Beachtung. Es fehlt beispielsweise Martin Walser, der noch zu Zeiten Unselds unbedingt zur Suhrkamp-Kerntruppe gehört hätte, wegen eines Zerwürfnisses mit der neuen Verlagsleitung aber zu Rowohlt wechselte. Wenn man bedenkt, dass Walser 2004 mit allen seinen Buch-Rechten nach Reinbek zog, scheint seine ‚einfache‘ Anwesenheit als Laudator für den Namensvetter Robert Walser im vorliegenden Jubiläumsband ein immerhin versöhnliches Zeichen. Im Unterschied zu Walser doppelt präsent ist hingegen der jüngstgekührte Suhrkamp-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, obwohl auch sein für den kommenden Herbst angekündigtes nächstes Buch nicht mehr bei Suhrkamp, sondern gleichfalls bei Rowohlt erscheint. Diese Entscheidung, die nicht zuletzt den heute von Literaturagenten erzeugten kommerziellen Druck auf dem belletristischen Buchmarkt widerspiegelt, zeigt auch, dass das fast familiär anmutende Verhältnis, das Unseld zu ‚seinen‘ Autoren pflegte, sich in Zukunft schwerer verlegerisch umsetzen lassen wird.

Dass Suhrkamp nicht Suhrkamp geblieben ist – wie der nur auf den ersten Blick tautologische Titel des Buchs nahelegt – kann man auch an den prominenten Neuzugängen der letzten Jahre ablesen, die gleichfalls zu Wort kommen und mit ihren Beiträgen die neue Berliner Ära des Verlags einläuten. Christoph Hein erinnert sich an Thomas Brasch, der mit ihm einige Jahre „das graue Leben in Halb-Berlin“ geteilt hatte und Christa Wolf preist die „menschenfreundliche Erzählerin“ Grace Paley.

Ansonsten präsentiert der Band jene unverwechselbare Mischung von Poesie und Wissenschaft, die seit den Anfängen zum Markenzeichen des Suhrkamp Verlages geworden ist. Der mit 48 Seiten umfangreichste Text stammt von Peter Sloterdijk und würdigt den sytemtheoretischen Meisterdenker Niklas Luhmann als „Anwalt des Teufels“. Die streitbaren Thesen Sloterdijks, der es sich nicht nehmen lässt, Luhmann gegen die „Habermasschen Spielregeln“ kommunikativen Handelns in Stellung zu bringen, geben auch ein Beispiel für die im Suhrkamp Verlag gepflegte Meinungskoexistenz. Denn Habermas wird keineswegs die Bürde zugemutet, diese Kritik zu parieren. Sein Beitrag würdigt vielmehr den Wiederentdecker der jüdischen Mystik Gershom Scholem – und damit einen jener deutsch-jüdischen Intellektuellen, deren Werk sich der Suhrkamp Verlag besonders verschrieben hat.

Das Spektrum der Beiträge umfasst so ziemlich alle denkbaren lyrischen, prosaischen oder auch dramatischen Annäherungsversuche an das Werk eines Kollegen oder einer Kollegin. Es reicht von Theodor W. Adornos exegetischer „Einleitung in Benjamins Schriften“ bis zu Jürgen Beckers mit Werkzitaten gespicktem Gedicht „Sheerness on Sea 1984“ über Uwe Johnson. Auch der Tonfall der jeweiligen Würdigung ist denkbar modulationsreich. Während Durs Grünbein seinen Beitrag über Inger Christensen als „Gelegenheit über das vollkommene Kunstwerk nachzudenken“ versteht, zeichnet Thomas Meinekes Auszug aus dem Roman „Tomboy“ die Vordenkerin der Gender-Studies Judith Butler in einem eher ironischen Licht.

Eine weitere – gleichwohl kalkulierte – Lücke lässt die vorliegende Anthologie an der Stelle, die von Autorinnen und Autoren eingenommen werden müsste, die wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg des Suhrkamp Verlages beigetragen haben. Nach Isabel Allende („Das Geisterhaus“) sucht man aber genauso vergeblich wie nach Marguerite Duras („Der Liebhaber“) oder Carlos Ruiz Zafón („Der Schatten des Windes“). Dem von Peter Suhrkamp formulierten und (mit kleinen Zugeständnissen) auch von Siegfried Unseld vertretenen Selbstverständnis des Suhrkamp Verlages als einem Hort der ‚ernsten‘ gegenüber der Unterhaltungsliteratur versucht offenbar auch die Berliner Mannschaft treu zu bleiben. Und das in einer Zeit, in der Suhrkamp nach Informationen der Marktforschungsfirma Media Control zuletzt nur noch Platz 24 der erlösstärksten Verlage in Deutschland belegte.

Dass der Jubiläumssammelband keineswegs nur Altbekanntes zu bieten hat, bezeugt die Erstveröffentlichung von Alain Robbe-Grillets Bekenntnistext „Warum ich Roland Barthes liebe“, der erst im kommenden Herbst in Buchform erscheinen soll. Und auch Andreas Maiers Lektüreerfahrung mit Hermann Hesses Schulroman-Klassiker „Unterm Rad“ hat man bislang noch in keinem Suhrkamp-Buch nachlesen können.

Über die Auswahl und Präsentation der Texte ließe sich – wie nicht anders zu erwarten – trefflich streiten. So könnte man sich beispielsweise fragen, ob ein eher esoterisch anmutender Beitrag von Roland Barthes über den „Augenblick der Wahrheit“ in Marcel Prousts Roman „À la recherche du temps perdue“, der auch durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat nicht unbedingt an Zugänglichkeit gewinnt, die einzig denkbare Würdigung des großen französischen Romanciers hätte sein müssen. Im anderen Fall hätte man sich vielleicht gewünscht, dass der Appell Bertolt Brechts, dem 1955 in die Akademie der Wissenschaften zu Berlin (später der DDR) berufenen Ernst Bloch auch eine Mitgliedschaft in der (Ost)-Berliner Akademie der Künste anzutragen, durch einen Kommentar erschlossen worden wäre, der die strategische Bedeutung dieser Aufforderung im Streit um die Abspaltung der Akademie der Künste in West-Berlin (1954) erläutert hätte.

Doch dieser Streit soll hier nicht im Ernst ausgefochten werden, denn dem Berliner Suhrkamp Verlag ist mit der vorliegenden Anthologie, die 94 Schriftsteller und Wissenschaftler aus den verschiedensten Ecken des Suhrkamp-Universums zu Wort kommen lässt, eine insgesamt glückliche Auswahl gelungen, die sich von den eher historisierenden Nabelschau-Bänden der vergangenen Verlags-Jubiläen positiv abhebt und das Beste für die Berliner Zukunft erhoffen lässt. Das vom Herausgeber Raimund Fellinger beanspruchte „Alleinstellungsmerkmal“ des Suhrkamp Verlages als „literarisches Universum eigener Art“ kann dieses Buch jedenfalls in hohem Maße einlösen.

Titelbild

Raimund Fellinger (Hg.): Suhrkamp, Suhrkamp. Autoren über Autoren. 60 Jahre Suhrkamp Verlag.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
507 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518421642

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