Die neue Übersichtlichkeit?

Zu Ulrich Becks „Nachrichten aus der Weltinnenpolitik“

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Soziologe Ulrich Beck ist einer der wenigen seiner Zunft, der es auch außerhalb akademischer Kreise zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hat. Mit seinem Namen verbindet man Schlagworte wie die „Risikogesellschaft“, den „Fahrstuhleffekt“ oder die „zweite Moderne“. Diese geschickten – weil einprägsamen – Begriffe sind Ausdruck von Becks Bemühungen der öffentlichen Nachfrage an sozial- und geisteswissenschaftlichen Welterklärungen gerecht zu werden. Mit seiner Tätigkeit als Deuter des Weltgeschehens hat sich Beck allerdings ein Problem geschaffen: Seine Diagnosen, Prognosen und sonstigen Erwartungen müssen sich bewahrheiten und damit das eintritt, publiziert er seit Jahren emsig und rastlos Schriften, die seine früheren Einschätzungen bestätigen. So gesehen kam das Angebot des Feuilletonchefs der „Frankfurter Rundschau“, Arno Widmann, eine monatliche Kolumne zu schreiben, sicherlich sehr gelegen, bot sie ihm doch die Möglichkeit, seine Sicht auf die Welt einer großen Öffentlichkeit nahe zu bringen. Widmann seinerseits umwarb Beck damit, der These einer „neuen Unübersichtlichkeit“ von Jürgen Habermas entgegenzutreten. Im Rahmen der Kolumne versuchte Beck daraufhin die wichtigsten globalen Ereignisse der vergangenen beiden Jahre aus einer Art Metaperspektive zu reflektieren und dadurch deutlich zu machen, in welche Richtung „das Weltgeschehen“ – seiner Ansicht nach – geht.

Eben diese Kolumne ist nun in der Aufsatzsammlung „Nachrichten aus der Weltinnenpolitik“ im Suhrkamp Verlag erschienen und umfasst 13 Texte, die zwischen dem August 2009 und dem August 2010 geschrieben wurden. Ergänzt werden diese Abhandlungen durch zwei Schlussbetrachtungen, in denen Beck seine wissenschaftlichen Annahmen skizziert und die zentralen Thesen zur aktuellen Lage kurz erläutert. Gerade diese Verschränkung von soziologischer Theorie, Gesellschaftsdiagnose und aktuellen Ereignissen lässt auf eine gewinnbringende Lektüre hoffen, wobei es besonders interessant ist, Becks Äußerungen zum internationalen Geschehen im Kontext seiner soziologischen Theorie zu lesen.

Der Ausgangspunkt der Beck’schen Zeitdiagnose ist die von ihm seit den 1980er-Jahren vertretene These, dass der klassische Nationalstaat und seine Institutionen nicht mehr in der Lage sind, den Herausforderungen einer globalisierten Welt gerecht zu werden. Neue Risiken bedrohen die Menschen und die alten politischen Ordnungen sind nicht länger fähig, ihre Bürger und Bürgerinnen vor diesen Bedrohungen der Weltgesellschaft zu schützen. Mehr noch, die Staaten verschärfen diese Schwäche durch versäumte Anpassungen. Staatliches Handeln hat nicht-intendierte Nebenfolgen und produziert durch unzeitgemäße Strukturen viele der neuen Risiken selbst. Damit ist die nationale Politik unfähig, „Modernisierungsrisiken“ wie Finanz- und Wirtschaftskrisen, der Klimaerwärmung, dem schrumpfen der Biodiversität und so weiter erfolgreich zu begegnen. Räumliche Grenzen verlieren ihre Bedeutung und damit funktioniert die alte Unterscheidung der nationalstaatlichen Politik zwischen ‚wir‘ und ‚die anderen‘ nicht mehr. Vor diesem Hintergrund äußert sich Beck offen politisch und plädiert vehement gegen alle Versuche, die Krise des Staates mit marktliberalen Therapien zu kurieren. So sympathisch diese Einwände gegen die Heilsversprechen vom Gleichgewicht freier Märkte und der angeblich ‚besten aller möglichen Welten‘ auch sind, Beck verleiten seine Versuche von Politikberatung teilweise auch dazu, gegen die parlamentarische Demokratie und demokratisch legitimierte Institutionen zu polemisieren.

Auf Basis der umrissenen Gesellschaftsdiagnose beschreibt die Beck’sche Theorie viele negative Folgen der aktuellen Entwicklungstendenzen, wie eine wachsende soziale Ungleichheit. Parallel prognostiziert er aber ebenso positive Effekte durch eine zunehmende Politisierung. Mit Hilfe einer supranationalen Politisierung ‚von unten‘ sollen selbstständige und selbstbestimmte Subjekte als zivilgesellschaftliche Akteure neue Identitäten und Loyalitäten jenseits der überkommenen Staatlichkeit gründen. Diese Utopie mündet dann in einen Transnationalstaat oder eine supranationale Ordnung, der es gelingen kann, die Menschen der „zweiten Moderne“ besser vor Risiken zu schützen und insbesondere der ökologischen Bedrohung entgegenzusteuern. Ob die damit verbundene Prognose einer zunehmenden internationalen Kooperation zur Lösung von globalen Problematiken auch empirisch zutrifft und nicht nur als ein Wertmaßstab zu verstehen ist, bleibt fraglich, zumal sich zahlreiche Beispiele finden lassen, die dem entgegenstehen.

Mit dieser Hypothek startet Becks Abhandlung über die Weltinnenpolitik. Dabei reiht sich der Begriff Weltinnenpolitik nahtlos in die bisherigen Überlegungen Becks ein und entsprechend wird Weltinnenpolitik nicht bloß als ein normatives Ideal definiert, sondern als ein sich faktisch vollziehender Prozess von Politisierung oberhalb und unterhalb nationaler Grenzen mit vielerlei positiven und negativen Folgen. Die Beck’sche Diagnose ist dabei ganz klar: Unsere Zeit ist hoch politisch auch und gerade, wenn immer so getan wird, als wäre das Gegenteil der Fall. Sicher ist dabei jedoch zunächst nur, dass Beck hoch politisch ist. Seine Ablehnung der Entpolitisierungsthese fasst er schlussendlich im letzten Kapitel unter den „Fünf Lebenslügen eines angeblich unpolitischen Zeitalters“: Falsch sei demnach die Einschätzung, die Politik stehe den Märkten machtlos gegenüber. Im Kern sei es ein Selbstverschulden der staatlichen Politik, denn sie habe mit ihrer neoliberalen Reformpolitik die eigene Selbstabschaffung aktiv vorangetrieben. Die zweite Lüge sieht Beck in der Behauptung, es gäbe ein Zurück ins nationale Idyll. Weiterhin seien alle neoliberalen und neomarxistischen Utopien irreführend und als kontrafaktische Ideologien zu verwerfen. Die letzte Problematik, die mit vielerlei Unwahrheit kaschiert werde, sei die Gefahr der Technokratie. Diese führe in eine Ökodiktatur, die mit der Berufung auf existentielle Bedrohungen der Menschheit einen Ausnahmezustand schaffe und das demokratische Primat ausschalte. Diesen sogenannten „Lügen“ tritt der Soziologe in seiner Kolumne entschlossen entgegen, wobei er sehr unterschiedliche Phänomene in den Blick nimmt: Outsourcing von Umweltrisiken, Migration, soziale Ungerechtigkeit, den menschengemachten Klimawandel, internationalen Terrorismus, die Auslandseinsätze der Bundeswehr, das US-Gesundheitssystem, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Reform beziehungsweise die Zerstörung der Universität durch den Bologna-Prozess, Vulkanausbrüche in Island, die Havarie der Deepwater Horizon und den Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche. Das Verbindende all dieser durchaus heterogenen Geschehnisse sieht Beck in der Aufhebung der Trennung zwischen geografischen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Differenzen. Darunter versteht er, analog zu seiner These vom Schwinden klassischer Staatlichkeit, die Auflösung von allen Formen abgeschlossener sozialer Einheiten. In der globalisierten Welt erscheint alles mit allem verbunden und die unterschiedlichsten Geschehnisse verweisen aufeinander.

Das heißt für Beck vor allem, dass moderne Risiken globale Risiken sind, die die Menschheit als Ganzes betreffen. Risiken, Probleme und andere Ereignisse werden international kommuniziert, wodurch die Welt im positiven wie negativen Sinn näher zusammenrückt. Neue Arten von Vergemeinschaftung entstehen ebenso wie neue Konflikte. Dieses Phänomen ist nach Becks Interpretation ein hoch politischer Prozess. Unabhängig davon, ob dies den einzelnen Akteuren bewusst ist oder nicht, vollzieht sich damit eine „Neubegründung des Politischen“. Die „real existierende Weltinnenpolitik“ ereignet sich häufig hinter der „Normalitätsfassade nationalstaatlicher Politik“ und genau dieser Selbsttäuschung tritt das Beck’sche Projekt entgegen, indem es über die Funktionsunfähigkeit der alten nationalen und internationalen Institutionen aufklärt. Risiken scheren sich nicht um nationale Grenzen und können in der globalisierten Welt nicht einfach ausgelagert oder abgeschoben werden.

Viele der skizzierten Annahmen und Überlegungen leuchten unmittelbar ein und decken sich bisweilen mit lebensweltlichen Beobachtungen und massenmedialen Darstellungen. Allerdings verfängt sich auch Beck – wie viele vor ihm – in der Ausschließlichkeit seiner Zeitdiagnose, die der Komplexität des Weltgeschehens teilweise entgegensteht. So zeigt sich gerade anhand des in „Nachrichten aus der Weltinnenpolitik“ aufgegriffenen Beispiels der Finanzkrise die Schwierigkeit, die mit Becks Diagnose einer transnationalen Politisierung einhergeht. Beck interpretiert in seiner Kolumne vom April 2010 den Kampf der Regierungen Europas gegen die Finanzkrise als Erfolg der Kooperation und Vernetzung sowie als Beleg dafür, dass es endgültig mit unilateralen Alleingängen vorüber sei. Diese Unausweichlichkeit fasst Beck mit dem sogenannten „kosmopolitischen Imperativ“ zusammen, der da lautet: „Kooperiere oder scheitere!“ Entsprechend plädiert er für eine weitere Stärkung der europäischen Union, das heißt eine Europäisierung der nationalen Politik, um globalen Risiken wirksam begegnen zu können und das Primat der Politik wieder zu erlangen.

Diese Einschätzungen sind sicherlich nicht grundsätzlich falsch, allerdings kann man den Erfolg der Politik im Kampf gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise genauso gut als die Stunde des Nationalstaates auffassen, der wieder zu alter Stärke zurückfindet und die an den Markt verlorene Macht zurückerobert. Folglich interpretierten einige Beobachter die Ereignisse im Zuge der Finanzkrise als die Rückkehr alter Staatlichkeit und beleben damit einen Dauerbrenner in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Internationalen Beziehungen: Moderne Staaten handeln zwar auch in Kooperation, aber eben jeder für sich und immer als Nationalstaat im eigenen Interesse, mit Hilfe der von Beck totgesagten Institutionen. Diese Option, die Ereignisse im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise zu deuten, scheint auch Beck zu sehen, muss vor dem Hintergrund seiner eigenen Prognosen diese Lesart aber ablehnen.

Deutlich wird dies, wenn er über nationale Alleingänge der deutschen Bundesregierung schreibt und diese als „reziproken Nationalismus“ kritisiert. Angela Merkel wird bei ihm – in Anlehnung an den früheren US-Präsidenten George Bush – gar zu „Angela Bush“, die versucht, „Resteuropa die deutsche Stabilitätspolitik aufzuzwingen“. Diese explizite Gleichsetzung mit den Verfehlungen der USA im Kampf gegen den Terrorismus erscheint zumindest überzogen. Das eigentliche Problem ist freilich ein anderes, denn offensichtlich widersprechen die Politiken der Regierungen Bush und Merkel sowie vieler anderer Staaten (bestes Beispiel China) der Deutung, der Nationalstaat wäre am Ende, unilaterale Strategien würden in der zweiten Moderne keine Rolle mehr spielen und es folge eine transnationale oder supernationale Zukunft des Politischen.

Diese Problematik löst Beck hier schlicht dadurch, dass er die deutsche Außenpolitik kritisiert. So kommt es bei diesem Band Becks zu einer eigenwilligen Verschränkung von wissenschaftlicher Analyse und politischer Intervention und damit zu einer seltsamen Gemengelage, in der letztlich empirische Abweichungen von der Theorie normativ bekämpft werden. Gleichwohl im Medium der Kolumne gewiss nur bedingt an die wissenschaftliche Haltbarkeit appelliert werden kann, irritiert in diesen „Nachrichten aus der Weltinnenpolitik“ die Verteidigungsstrategie des Autors: Mal ist es eine bloße politische Profilierung, dann ist er allein wertneutraler Sozialtheoretiker, mal argumentiert er erkenntnistheoretisch realistisch, mal offen normativ.

Diese Unstimmigkeiten sind sicherlich dem Format und der Intention einer Zeitungskolumne geschuldet, die bestimmte Zugeständnisse erfordert, was die Abstraktion und den Umfang der Argumentation sowie wissenschaftliche Standards anbelangt. Gleichwohl Beck somit wissenschaftlichen Ansprüchen in „Nachrichten aus der Weltinnenpolitik“ nicht gerecht werden kann, sind gerade seine mitunter wutgeladenen politischen Interventionen mit großem Gewinn zu lesen. So giftet er gegen vielerlei Ungerechtigkeiten, sensibilisiert für aktuelle und künftige Bedrohungen und attackiert die unfassbare Tatenlosigkeit, mit der die Welt den drängenden Problemen gegenübersteht. Er schreibt sich in Rage über die Verlogenheit, mit der die nationale Politik Gestaltungsmacht und -willen simuliert und dabei auf die nächste Wahl schielt. Es erscheint ihm unfassbar, dass die großen Fragen nicht an erster Stelle verhandelt werden, sondern hinter marginale Themen der Alltagspolitik zurücktreten. Er prangert die Staaten an, die ihre Gestaltungsfähigkeit und Verantwortung an den Markt verhökern, die Regierungen, die gegen die Interessen ihrer Bevölkerung handeln und Risiken wie die Klimakatastrophe und den Finanzcrash mitverschulden.

Beck schreibt in seinem Zorn vom westlichen Modell als einem „Weltuntergangsmodell“ und empört sich darüber, dass viele Phänomene, die die Welt aktuell bedrohen nicht nur durch staatliches Handeln selbstverschuldet sind, sondern darüber hinaus noch durch demokratische Verfahren legalisiert. Dies liest sich teilweise sehr radikal: „Denn das schmutzige kleine Geheimnis besteht darin, daß all die Dinge, die die Welt in den Abgrund stürzen, legal sind. Alles, was heute droht oder zerstört, wurde von nationalen Regierungen in Kooperation mit einschlägigen Expertengruppen und mit dem Segen der Demokratie in Gang gesetzt. Das gilt für die Klimakatastrophe ebenso wie für den Finanzcrash.“

In diesen Passagen schwankt Beck zwischen Desillusionierung und Hoffnung, aber trotz mancher kulturpessimistischer Zweifel hat er den Glauben an die Menschheit offenbar noch nicht verloren. Damit trifft die Kolumne denn auch sehr programmatisch die aktuell aufgeregte Stimmung, in der der deutsche „Wutbürger“ gleichermaßen die Legitimität von legalen Bahnhofsprojekten und atomarer Energiegewinnung anzweifelt und das dünne Büchlein „Empört Euch“ in jeder Bahnhofsbuchhandlung massenhaft über den Ladentisch geht.

Reizvoll und lohnenswert ist an dieser Publikation Becks überdies die Vehemenz, mit der er seine Rolle als Sozialwissenschaftler interpretiert. Diese Form des engagierten Intellektuellen ist leider in deutschen Wissenschaftskreisen wenig verbreitet, wohingegen sich in anderen europäischen Ländern Intellektuelle sozialwissenschaftlicher Provenienz weit häufiger und selbstbewusster in den öffentlichen Diskurs einschalten. In den letzten Jahrzehnten prägten natur- und wirtschaftswissenschaftliche Welterklärungen weite Teile der Öffentlichkeit und schreiben sich als unumstößliche Dogmen in die kollektive Wahrnehmung.

Zu großen Teilen blind für die eigenen Prämissen und unfähig, ihre Weltkonstruktion als solche zu reflektieren, werden solche Wahrheiten nicht selten zum Allgemeingut und führen zu seltsamen Vorstellungen: Das Wesen des Menschen erschließe sich durch das Messen von Gehirnströmen und ausgerechnet der freie Markt erfülle das alte Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Wohlstand für alle. Entsprechend kann man bei aller berechtigten Kritik froh sein für jeden Sozial- und Geisteswissenschaftler, der sich am öffentlichen Diskurs beteiligt und damit Perspektiven und Forschungsergebnisse aus dieser Welt einem breiten Publikum zugänglich macht und nicht zweifelhaften biologistischen oder auch marktradikalen Alleinerklärungsansprüchen das Feld überlässt.

Titelbild

Ulrich Beck: Nachrichten aus der Weltinnenpolitik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
150 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126196

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