"Gesichter der Weimarer Republik" herausgegeben von Sander Gilman und Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oswald Spenglers Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes" (1918) wollte seiner Zeit "ins Gesicht sehen". Spenglers Methode und Systematik der Geschichtsphilosophie war einerseits "morphologisch", andererseits "physiognomisch". Die Physiognomik, von Lichtenberg einst gnadenlos verspottet, sollte, so Spengler programmatisch, im 20. Jahrhundert noch einmal eine "große Zeit" erleben. Heute läßt sich sagen: der "visuelle Fanatismus der Gegenwart" hat erneut die Physiognomik entdeckt, und auch in den Wissenschaften wird sie breit diskutiert.

"Die Physiognomik als Mittel der Psychoanalyse" etwa untersucht der Neurologe und Psychiater Uwe Henrik Peters. Kriminalistik, Fahndungsfoto und rassenkundliches Bestimmungsbuch geraten in den zwanziger Jahren in gefährliche Nähe. Die Weltkriege zeitigen Verwundungen und Deformationen des Kopfes und verändern die das menschliche Gesicht ins Monströse. Der Gesichtsverlust erfolgt in grausamer Form. In der Zeit der Naziherrschaft wird die Physiognomik Experimentierfeld auch der ästhetischen Chirurgie.

Im 20. Jahrhundert sind selbst die schönen Künste nicht mehr schön: Der Krieg hat seine Spuren in den Gesichtern hinterlassen, und George Grosz, Otto Dix oder Max Beckmann nehmen das Sujet des Schreckens in vielfältigster Form auf. Die Gegner dieser Moderne haben ihre Bilder in die Nähe des Schaffens Geisteskranker gestellt. Doch noch das öffentliche Bild dieser oft schockierenden, erschütternden und beschämenden Welt, im Film und auf Fotos festgehalten, zeigt, wie nahe die Kunst hier der Realität gekommen ist.

Der Physiognomik ist nur in interdisziplinärer Form beizukommen. Sander L. Gilman und Claudia Schmölders sind die Herausgeber einer "physiognomischen Kulturgeschichte der Weimarer Republik". Gilman selbst untersucht Aspekte der Schönheitschirurgie und Gesichtsplastik. Schmölders den "Weimarer Totenkult"; Bildnisfotografie und Film werden bei Wolfgang Brückle und Anton Kaes thematisch. Todd Herzog liefert einen Beitrag "Zur Geschichte der Kriminalistik". "Sexualisierte" und "voyeuristische" Formen der Physiognomik werden von Katharina von Ankum und Stephanie D´Alessandro thematisiert. Karen J. Kenkel untersucht das "Gesicht der Masse"., Martin Blankenburg die Physiognomik im "Streit der Fakultäten". Weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem "normalen Körper, seelisch erblickt" (Michael Hau und Mitchell G. Ash), dem "Heimatschutz" und der "Rassenhygine" (Willibald Sauerländer), den "Deformationen des Kopfes im Ersten Weltkrieg" (Michael Hagner) und dem "Gesicht des Krieges in der Malerei" (Maria Tatar).

Lutz Hagestedt

Titelbild

Claudia Schmölders / Sander L. Gilman: Gesichter der Weimarer Republik.
DuMont Buchverlag, Köln 2000.
300 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3770150910

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch