Identitätsfragen als Romankonstruktion

Über Tana Frenchs dritten Kriminalroman „Sterbenskalt“

Von Charlotte LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frank Mackey wird aufgrund eines entdeckten Koffers an den Ort seiner Kindheit zurück gebracht. Von dem hat der sich 22 Jahre ferngehalten – und dies nicht ohne Grund. Er stammt aus einer schwierigen Familie und wuchs mit seinen vier Geschwistern auf, deren Aufgabe es war, sich gegenseitig vor den Wutausbrüchen des Vaters und der Destruktivität der Mutter zu beschützen. Doch gab es für Mackey einen Lichtblick: seine Jugendliebe Rosie. Mit ihr plante er einen Neuanfang in England. Als Rosie am Fluchtabend nicht am Treffpunkt erscheint, glaubt Frank, dass sie ihn verlassen habe. So geht er alleine weg und wird Undercover-Polizist. Als Mackey über den gefunden Koffer informiert wird, führt dies zu einem Zusammentreffen mit seiner Familie und zu einem Wiederaufleben seiner Vergangenheit. Denn der Koffer ist von Rosie. Mackeys unheilvolle Befürchtungen bewahrheiten sich bald: Rosie wird tot aufgefunden. An diesem Punkt kann sich Frank dem Mordfall und seiner Vergangenheit nicht mehr entziehen und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Der Fall konfrontiert ihn mit seinem bisherigen Leben und er beginnt es aufzuarbeiten: seine Liebe zu Rosie, die ihn also in Wahrheit gar nicht verlassen hatte, seine Familie und auch sein Verhältnis zu Ex-Frau und Kind.

„Sterbenskalt“ ist Tana Frenchs dritter Kriminalroman, obwohl die Autorin im vorliegenden Fall im Grunde gar keinen solchen geschrieben hat. Hauptfigur des Romans ist zwar der im zweiten Band eingeführte Undercover-Ermittler Frank Mackey. Und gewiss: Es wird gemordet und die Hauptfigur setzt alles daran, den Fall aufzuklären. Aber hinter diesen Bemühungen steckt vor allem ein psychologisch interessanter Roman – eben einer mit Krimi-Elementen. French geht mit diesem Buch bislang am weitesten. Sie entfernt sich am deutlichsten von der Gattung Kriminalliteratur und setzt wohlüberlegt die Kindheits- und Lebensgeschichte der Hauptfigur zur Handlungskonstruktion ein.

Frenchs Kriminalromane spielen alle in besonderer Weise mit Konstruktionen von Identitäten. Die Autorin arbeitet in allen drei Bänden mit der Geschichte der Protagonisten. Im ersten Krimi wird die Frage nach Identität aufgrund einer Amnesie gestellt, im zweiten schlüpft die Protagonistin in eine Figur, die sie selber erschaffen hat, und der dritte Teil hinterfragt die Identität von Frank, die er  aus seiner Liebebeziehung mit Rosie erhalten hat. So handelt der erste Krimi in dieser Reihe vom Verlust, der zweite von der Erzeugung von Identität und der letzte zeigt die Macht von Identität durch Liebesbeziehungen. Daher ist das Grundthema des Krimis – und das Mackeys – die Liebe: die Liebe zur Jugendfreundin, die Liebe zur Familie und die Liebe zur Tochter.

Dabei zeichnet die Autorin interessante und plausible Charaktere. Die Welt, aus der Mackey stammt, wird der vollkommen andersgearteten – bürgerlichen – Welt seiner Ex-Frau und des Kindes gegenübergestellt. Mackey pendelt mehr oder weniger gekonnt zwischen ihnen. Dabei gelingt es French, beide gleichberechtigt nebeneinander existieren zu lassen – ohne sie aber letztlich zusammenführen zu können. Der Realismus des Krimis und die daraus resultierende Drastik zeichnen ihre gesamten Geschichten aus. Es ist die Unlösbarkeit der menschlichen Konflikte, die weder abgemildert noch umgangen werden, die Tana Frenchs Kriminalliteratur psychologisch eindrücklich, spannend und beklemmend wirken lassen.

Dies ist aber nicht alles: French bringt dem Leser ein Bild der 1970- und 1980er-Jahre Dublins aus dem Arbeitermilieu nahe: „Mein Vater hat mir mal gesagt, jeder Mann sollte wissen, wofür er bereit wäre zu sterben, das wäre das Wichtigste. Wenn du das nicht weißt, sagte er, was bist du dann wert? Nichts. Dann bist du kein richtiger Mann. Ich war dreizehn, und er hatte schon ein Dreiviertelflasche Gordon-Whiskey intus, aber trotzdem, ein guter Spruch. Wenn ich mich recht entsinne, war er bereit für Folgendes zu sterben: a) Irland, b) seine Mutter, die da schon zehn Jahre tot war, und c) um das Miststück Maggie Thatcher zu erledigen“.

Der Autorin gelingt es, den Zeitgeist dieser Jahre glaubwürdig in jenem Milieu zu beschreiben. Eindrücklich ist dabei – wie in den Vorgänger-Romanen auch schon –, dass sich, trotz  oder wegen der Schonungslosigkeit der erzählten Geschichte, die Hauptfigur immer wieder neu behaupten muss. French bleibt konsequent und realistisch in ihrer Fortführung der Handlung und ihrem Erzählen. Das zeichnet sie aus.

Man darf noch gespannt sein, wer in Tana Frenchs viertem Krimi der Protagonist sein wird. Die Autorin blieb in ihrer Wahl bisher immer zielsicher: War es im ersten der Ermittler Rob mit Co-Partnerin Cassie, wurde diese zur Ermittlerin im zweiten Buch, und ihr Boss in dem Fall ist nun Protagonist dieses Krimis. Diese Kontinuität des Wechsels ist eines der spannendsten Elemente der Reihe.

Titelbild

Tana French: Sterbenskalt. Kriminalroman.
Scherz Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
600 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783502102168

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